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Christian Schünemann

Der Frisör

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 2004

im Diogenes Verlag

Umschlagfoto von

Jens Schünemann

 

 

Nur mit Christa. Und Gisbert.

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23509 8 (4. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60405 4

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Ich sah es Beas Gesicht an. Der Anruf war so dringend, als ginge es um Leben und Tod. Ich hörte die Stimme aus dem Telefon, hoch und schrill. Bea hatte den Hörer am Ohr und den Finger im Kalender.

»Das sieht ganz schlecht aus. Das ist unmöglich.« Bea bedauerte. »Färben ginge, aber der Chef ist zu. Vielleicht könnte jemand anderes als Tomas schneiden?«

Bea warf mir einen kurzen Blick zu. Ich kenne das. Solche Telefonate gibt es im Salon täglich. Wer morgens in den Spiegel schaut und seine Haare nicht mehr sehen kann, will sofort, am besten eine Stunde später, einen Termin beim Frisör.

Bea wechselte den Hörer vom rechten zum linken Ohr, blätterte im Kalender eine Seite um und machte ein letztes Angebot: »Nächste Woche Mittwoch.« Sie atmete tief durch.

Ich massierte dem alten Hoffmann die Kopfhaut, während wir beide Bea zuhörten. Wir beobachteten sie im Spiegel. Hoffmanns Augen sind helle Pfützen hinter dicken Brillengläsern, blaß und ausdruckslos, wie in diesem Juli der milchigblaue Himmel über München. Seit Wochen machte die Hitze die Leute nervös und gereizt oder lethargisch und faul. Auch ich mußte mich zusammenreißen. Das Surren der Föne, der Geruch nach schwerem Parfüm, das ständige [6] Klingeln der Telefone ging mir an die Nerven. Heute weiß ich: Das Unheil lag in der Luft.

Bea hing noch immer am Telefon. Wenn sich jemand nicht abweisen läßt, bleiben wir höflich und zuvorkommend. Kunden werden nicht vergrault, auch wenn sie noch so penetrant sind. Ich konzentrierte mich auf Hoffmanns Schädel, eine bucklige Landschaft, auf der nur noch wenige Haare wurzeln. Sie zu schneiden ist eine Sache von Minuten. Hoffmann tat mir leid, er hatte vieles verloren in der letzten Zeit, nicht nur die Haare. Ich bearbeitete die Kopfhaut, als ließe sich der Haarwuchs wieder beleben. Hoffmann wußte es besser. Er ist Realist. Ehemaliger Konservenfabrikant mit einem Faible für Hausmannskost. Im Alter kamen ihm die Geschmacksnerven und die Frau abhanden. Er kocht jetzt selbst, salzt so kräftig, daß die Schilddrüse Probleme macht.

»Ich verstehe«, sagte Bea. Und: »Bitte warten Sie einen Moment.« Sie hielt mir den Hörer hin.

Die Stimme am Telefon war nun ganz nah und schmeichelnd. Es war die Stimme von Alexandra Kaspari, einer Frau, für die ich immer eine Ausnahme mache. Bei mir wird jeder bedient, aber nur ausgewählte Kunden von mir persönlich und die wenigsten nach Feierabend.

»Tommy, du mußt mich drannehmen, bitte!«

»Was, heute noch?«

»Ja, unbedingt. Ich sehe fürchterlich aus. Es ist ein Notfall.«

Ich nahm den Füller. Es sind immer Notfälle. »Achtzehn Uhr«, sagte ich und trug den Termin ein.

Zwei Stunden später kam sie. Zu früh. Die brünetten [7] Haare, sonst kräftig, waren Strippen ohne Spannung und Leben, wie tot. Alexandra und ich küßten uns, in die Luft, rechts und links. Ich roch ihren Duft nach Holz und Karamel. Ermattet sank sie auf das Sofa, stellte die Handtasche aus geprägtem Leder neben sich und strich über den Rock mit dem karierten Muster, den in diesem Sommer alle trugen. Der Rock war eng und endete über dem Knie. Alexandra kickte ihre Pumps weg und betrachtete irritiert ihre nackten Fersen und die zwei Blasen, groß und entzündet, wie nasse Augen.

»Wenn du mich fragst«, sagte Bea halblaut zu mir, »kommt auf die etwas zu. Sie versucht sich zu schützen, sie fürchtet sich vor etwas. Eine tiefe Verletzung wahrscheinlich.«

»Bea, nicht schon wieder!« Praktisch von allen Stammkunden speichert sie die Sternzeichen und Geburtsdaten im Kopf, jederzeit abrufbar für ihre gewagten Analysen. Sie ist meine Farbstylistin, trägt selbst in jeder Saison eine andere Haarfarbe, oft leuchtend roten Lippenstift und immer schwarze Klamotten.

»Als Zwillingsfrau wird Alexandra getrieben«, sagte Bea, »da kann sie machen, was sie will. So, wie der Mond jetzt steht, die Ärmste.«

Alexandra war weiß im Gesicht. Ich musterte sie. Weißblonde Haare zum weißen Gesicht mit dunklem Lippenstift. Das würde aus Alexandra einen Typ machen. Die Idee gefiel mir.

Zerstreut hörte Alexandra mir zu, nickte und blätterte in Michelle, einem Frauenmagazin. »Denen fällt auch nichts mehr ein«, murmelte sie zufrieden. Alexandra hat eine [8] beachtliche Karriere gemacht. Nach einem abgebrochenen Studium, dem Start als Praktikantin bei Vamp, leitete sie seit sechs Jahren dort das Ressort für Kosmetik und Schönheit, eine der wichtigsten Positionen in diesem Hochglanzmagazin. Monat für Monat sagte sie ihren Leserinnen, was dem Teint nützt und der Haut schadet, welche Mittel gegen Orangenhaut und Falten helfen, welche Tricks das Beste aus welchem Typ machen, und sei er noch so fade. Alexandra wußte immer genau, was sie wollte. Heute wollte sie aufgerichtet werden. Mir war nicht klar, warum. Ich fragte auch nicht. Ich wollte ihr nur den Gefallen tun.

»Möchtest du einen Kräutertee, Alexandra? Wir haben indischen.«

»Gern.«

Sie saß jetzt gewaschen und verstrubbelt vor dem Spiegel. Ich legte ihr das weiche Handtuch in den Nacken. Langsam kämmte ich durch das glatte, nasse Haar. In diesem Zustand ist die Kundin ein schutzloses Wesen, beinahe nackt. Es spielt keine Rolle, ob sie Schauspielerin ist oder Hausfrau, Firmenboss oder Angestellte. Ich gebe mit der Schere dem Kopf eine neue Form, dem Menschen ein neues Aussehen. Ich habe die Macht, ihn mehr zu verändern als irgend jemand sonst. Mein Handwerk, das weiß jeder, ist längst Kunst geworden. Alexandra schloß die Augen. Ihre Brüste unter dem Umhang hoben sich.

»Alles in Ordnung?« fragte ich und zog mit dem Kamm eine Linie in der Scheitelgegend, kämmte glatt herunter und prüfte im Spiegel. Mit einem leichten Druck der Finger auf die Schläfe bedeutete ich Alexandra, den Kopf etwas nach links zu drehen. Alles in Ordnung? Um die Quelle zum [9] Sprudeln zu bringen, reichen in der Regel drei Worte, und ich höre viele Geschichten, wie die von der Ehefrau, die seit fünf Jahren den Chef ihres Mannes mit der Peitsche verwöhnt und regelmäßig Gehaltserhöhungen herausschlägt, die sich ihr Mann nicht erklären kann. Ich sehe die Narben vom letzten Lifting meiner Lieblingskundin. Ich erfahre, bei wem der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht. Der Frisörsalon ist der Ort, an dem Menschen ihre Geheimnisse ausplaudern. Ob ich will oder nicht.

»Alles in Ordnung?« fragte ich noch einmal. Für eine Sekunde trafen sich unsere Augen im Spiegel. Alexandra lächelte.

Ich könnte ihr ovales Gesicht stärker betonen. Die dunklen Augen wirken dann größer und verleihen Alexandra vielleicht etwas Tiefgründigeres, Geheimnisvolleres.

»Ich habe einen neuen Typen«, sagte sie.

Ich kämmte.

»Der ist eigentlich gar nicht mein Fall. Zuviel Testosteron, viel zu egozentrischer Charme. Du kennst das ja.«

Mit dem Aufbau der Stützhaare gebe ich der Frisur mehr Stand, mit der Stufung baut sich das Gewicht der Haare nach unten hin ab.

»Der hat schon ewig gebaggert, ich kann dir sagen. Und vor ein paar Wochen« – Alexandra zuckte die Achseln – »habe ich einfach nachgegeben. Vielleicht war’s ein Fehler. Aber im Moment ist es ganz okay.«

Ich kämmte vom Scheitel, faßte eine Strähne zwischen Zeige- und Mittelfinger, klemmte den Kamm mit dem Daumen fest und begann zu schneiden, erst mal locker durchstufen.

[10] »Weißt du«, fuhr Alexandra fort, »wir laufen uns eher selten über den Weg. Aber wenn, macht es irrsinnig Spaß, vor den anderen so zu tun, als sei er nur ein Kollege, dadurch herrscht eine ungeheure Spannung, weißt du, ich bin dann erotisch wie aufgeladen.«

Ich ging jetzt direkt in die Haare hinein, wobei ich immer auf der hinteren Partie aufbaute.

»Er ist zum Glück verheiratet, dadurch entsteht keine Verpflichtung. Der hat, glaube ich, zwei Kinder. Da darf kein Mensch etwas merken, auch in der Redaktion nicht.«

»Um Gottes willen, bloß nicht«, sagte ich.

»Nein, um Gottes willen«, wiederholte sie. »Dann wäre der Teufel los. Aber das wäre ja nicht das erste Mal. Erinnerst du dich?«

Alexandra schwieg, als erinnere sie sich an die vielen zerbrochenen Beziehungen, bei denen der Teufel los gewesen war. Ich achtete darauf, die Spitzen auf verschiedene Längen zu zerschneiden, der Fall ist dann schöner.

»Allerdings habe ich das Gefühl, Eva belauert mich.«

Eva Schwarz ist die Chefredakteurin, zwei Jahre jünger als Alexandra und sehr ehrgeizig. Natürlich lauerte sie. Sie lauern alle. Und sie sind alle meine Kundinnen. Alexandra wußte das.

»Hat sie dir gegenüber mal irgendeine Andeutung gemacht?« Alexandra beugte sich vor und griff nach dem Glas Tee. Beim Trinken forderten ihre Augen eine Antwort.

»Alexandra…«, sagte ich.

»Schon gut, schon gut. War nur so ein Gedanke, ist mir auch scheißegal, Tommy.«

Sie sagte, wie die meisten Medienleute, ›Tommy‹ zu mir. [11] Auf dem silbernen Schild neben dem Eingang steht ›Tomas Prinz‹, Freunde nennen mich ›Tom‹. Alexandra stellte laut das Glas zurück.

»Und Kai?« fragte ich, um das Thema zu wechseln. Kai ist Alexandras Sohn und sechzehn. Alexandra hatte Soziologie studiert, als sie mit Kai schwanger wurde, und davon geträumt, Gutes zu tun, einen Menschen zu lieben, ein Kind großzuziehen. Der Traum erwies sich als Alptraum. Alexandra sprach schon lange davon, sich endlich scheiden zu lassen. Ich kannte verschiedene Episoden aus ihrem Leben.

»Kai? Der weiß nix davon.«

»Ich meinte – wie geht’s Kai?« fragte ich.

»Ach so. Dem geht’s gut.«

Über der Theke ging das Licht aus. Die Angestellten waren jetzt alle fort, saßen wahrscheinlich im Biergarten oder badeten im Starnberger See. Nur das Klappern meiner Schere war zu hören. Ich spürte, wie Alexandra mich im Spiegel musterte. »Ich glaube, Kai kokst.«

Ich kämmte jetzt weit über den Scheitel rüber, um die Länge im Deckhaar zu behalten. Kai kokst. Ich dachte an das Gedicht von Ottos Mops.

»Gut, wir haben alle mal gekokst. Trotzdem macht der Junge mir Sorgen. Schleppt komische Freunde an, die dann bei uns abhängen. Braucht ständig Geld, als hätte ich einen Dukatenscheißer. Ich denke manchmal, ihm fehlt der Vater, ich meine, ein Vater, der Vorbild ist, dem er vertrauen kann. Nicht so einer wie Holger. Bei Holger, da würde er sich umgucken, bei dem hätte er nicht all die Freiheiten, die er bei mir hat.«

[12] Holger, Kais Vater, lebte seit neuestem in Berlin. Ich kannte ihn nur aus Alexandras Erzählungen und hatte ein eher unvorteilhaftes Bild von ihm. Nach der Beschaffenheit von Kais Haaren zu urteilen, mußten die seines Vaters viel dünner, feiner sein als Alexandras brünette, kräftige Haare. Kais Vater hatte es immer abgelehnt, zu mir zum Haareschneiden zu kommen. Wahrscheinlich war ich ihm zu vertraut mit Alexandra. Oder die Dienstleistung zu teuer. Es braucht auch nicht jeder zu mir zu kommen.

»Übernächste Woche muß ich mit Kai in die Schweiz. Der Junge schießt jetzt in die Höhe, das geht ganz schön ins Geld.«

Kai kam mit einem halben Bein auf die Welt und lebt mit einer Prothese. Die Prothese wird in der Schweiz hergestellt, mit Gelenken und Scharnieren ausgestattet, dem gesunden Bein nachempfunden. Kai spielt Fußball und joggt, wie ein gesunder Junge. Nur wenn er müde ist und nicht darauf achtet, zieht er das künstliche Bein etwas nach. Alexandra läßt die Prothese regelmäßig an Kais Körper anpassen, eine ziemlich kostspielige Sache. Sie wollte die perfekte Mutter sein.

»Und vorher, nächstes Wochenende, muß ich noch mit einer Handvoll Leserinnen an den Starnberger See.«

Ich schaute in den Spiegel. »Warum dahin?«

»Die haben das Wohlfühl-Wochenende gewonnen, das wir mit Clairmont verlost haben. Ich sag dir, grauenhaft, wer uns liest, all die Krankenschwestern, Friseusen«, Alexandra stutzte. »Entschuldige, Tommy.«

Ich grinste. »Von meinen Leuten hat niemand gewonnen.«

[13] »Ja, schade.« Sie machte eine kleine Pause. »Dann mit Kai nach Zürich, dann die Präsentation in Atlanta, ich brauche dafür unbedingt noch ein paar neue Klamotten.«

»Bea hat mir erzählt, auf der Maximilianstraße sei schon heruntergesetzt.«

»Ach ja?«

Alexandra interessierte dieser Tip nicht. Sie gibt das Geld mit vollen Händen aus, kauft viel von allem, ohne jemals nach dem Preis zu fragen. Als Ressortleiterin muß sie wohl einen Haufen verdienen. Auf der anderen Seite beschert der Job ihr nicht nur Geld und Reisen, sondern auch viele Verpflichtungen und damit hohe Ausgaben.

»Danach mache ich Urlaub, Kuba, soviel steht fest. Mit ihm.« Alexandra wartete einen Moment, ob ich etwas sagen wollte. Ich prüfte im Spiegel die Symmetrie der Längen und bedeutete Alexandra, den Kopf nach vorne zu senken.

»Und Kai fliegt zu seinem Vater nach Berlin«, sagte sie aus der Tiefe und schielte auf den Fußboden, wo ihre Strähnen lagen, wie abgeerntetes Heu. Ich bat sie, wieder hoch zu kommen, prüfte noch einmal den Sitz des Schnittes und fönte ihr das Kitzeln aus dem Gesicht. Perfekt. Alexandra musterte zufrieden ihr Spiegelbild.

»Und jetzt noch die Farbe«, sagte sie.

»Und jetzt noch die Farbe«, wiederholte ich, wie ein Onkel, der die Einlösung der Überraschung verspricht.

Zwei Stunden später verließ sie den Laden. Ihr weißblonder Kopf leuchtete auf der Hans-Sachs-Straße. Hoffmann, der schräg gegenüber beim Kino, vor der offenen Tür zum Vorführraum, saß, starrte Alexandra angestrengt hinterher, wandte sich dann kurzsichtig zu mir über die [14] Straße, wo er mich hinter der Schaufensterscheibe vermutete, und machte den Daumen hoch. Super! Danke, nett gemeint. Es war spät, ich schloß die Tür ab, löschte das Licht und ging durch den Seitenausgang ins Treppenhaus, hinauf in die Wohnung. Alexandras dunkle Vergangenheit blieb auf dem Boden zurück. Die abgeschnittenen Reste würde die Putzfrau morgen früh zusammenfegen. Es sollte der letzte Termin von Alexandra Kaspari bei mir gewesen sein.

[15] 2

»Wer ist tot?«

Mein Hemd auf dem Telefon hatte die Melodie gedämpft. Ich wühlte mich aus dem Laken und tappte mit dem Hörer an die offene Balkontür. Die Uhr am Kirchturm glänzte in der Morgensonne. Sie zeigte kurz nach sieben. Mein Rücken war naß. Die Nacht hatte keine Erfrischung gebracht.

»Hör doch mal zu.« Claus-Peter am anderen Ende der Leitung war ungeduldig. »Sie soll ermordet worden sein. Eine Redakteurin, von Michelle.«

Claus-Peter ist Journalist beim Münchner Morgen, ein Mord gehört für ihn zu den guten Geschichten. Jetzt sagte er: »Und halt dich fest: Die Kaspari soll in die Sache verwickelt sein.«

Der Zeiger an der Kirchturmuhr rückte um eine Minute vor. Wovon redete Claus-Peter?

»Die Tote soll angeblich blond sein. Du kennst doch die Frauen bei Michelle. Wer von denen ist blond?« Aus dem Hörer klang eine Popmelodie, ich hielt ihn etwas von meinem Ohr weg.

»Ich kenne die nicht alle bei Michelle.« Ich gähnte. »Zoe haben wir letztens mit Strähnchen ein bißchen aufgehellt.«

»Was ist mit dieser aufgetürmten Blonden?«

[16] »Eva Schwarz? Die ist bei Vamp. Außerdem war die mal blond. Bea hat sie rot gemacht.«

»Schon lange?«

»Mindestens seit einem halben Jahr. Nein, eher länger.«

»Mist.«

Auf dem Balkon war es auch nicht kühler als in der Wohnung. Etwas schien die heißen Sommertage am laufenden Band zu produzieren, wie eine Maschine heißes Popcorn. Ich mußte die Sonne tagsüber aussperren.

»Fällt dir sonst jemand ein?« Claus-Peter war hartnäkkig.

Ich überlegte. »Gunnar ist eine Blondine, der aus der Grafik. Der ist richtig blond.«

»Sehr witzig.«

Die Levkojen brauchten Wasser. Ihr Duft hatte in der Nacht das Zimmer erfüllt. Ich hatte von blühenden Wiesen geträumt, von alten Bäumen. Aljoscha hatte ich im Traum gesehen. Während Claus-Peter redete, dachte ich an das Maiwochenende mit ihm auf der russischen Datscha. Keine aufgeregten Journalisten, keine komplizierten Kunden, kein Fön, keine Hitze.

»Okay, ich sehe, du weißt gar nichts«, sagte Claus-Peter.

»Tut mir leid. Stimmt denn die Geschichte überhaupt?«

Claus-Peter legte auf.

Ich duschte lange. Das Wasser glättete die krausen Haare auf der Brust und an den Beinen. Ich dachte über diesen merkwürdigen Anruf nach. Woher hatte Claus-Peter die Information über die tote, blonde Redakteurin? Vor dem Spiegel seifte ich Hals und Wangen ein. Der Schaum macht die Stoppeln weich. Rasieren hat etwas Meditatives. Ich [17] rasiere mich gern und täglich, auch wenn mein Bartwuchs nicht sehr üppig ist. Nur das Grübchen im Kinn ist problematisch. Mein Mund ist etwas zu groß. Aljoscha mag meine blauen Augen. Ich habe bisher noch kein graues Haar in meinem dunklen Schopf gefunden, trotz meiner zweiundvierzig Jahre. Wahrscheinlich war etwas dran an der Geschichte, Claus-Peter ist ein guter Reporter, aber manchmal geht er den Leuten zu schnell auf den Leim, hört auf dubiose Quellen, wie bei der Geschichte mit dem brünetten Fotomodell, von dem Claus-Peter schrieb, es hätte sich mit den eigenen Haaren stranguliert. Dann stellte sich heraus, daß es eine ganz gewöhnliche Wäscheleine gewesen war.

Ich lief unruhig durch die Räume, verteilte beim Zähneputzen schaumige Zahnpastakleckse auf dem Parkett, schob mit der freien Hand die Zeitschriften zusammen, fegte die Krümel von der gestrigen Mahlzeit vom Tisch. Meine Schwester Regula findet die Wohnung ungemütlich. Keine Palme, keine Kerze, zu viele Stühle. Ich öffnete die Fensterflügel zur Hans-Sachs-Straße. Vom Erker aus sah ich meine Putzfrau Agnes, die ihr Fahrrad an den Laternenpfahl schloß. Sie verschwand im Salon, für den sie einen Schlüssel hat. Nachher würde sie in der Wohnung die Spur der Zahnpastakleckse suchen und wegwischen. Ich zog die Baumwollhose an, die ich gestern schon mal getragen hatte, knöpfte im Gehen das Hemd zu, das vor ein paar Tagen in der Post war, von meinem Schneider in London, streifte meine Sandalen über, die jetzt ihren dritten Sommer erlebten. Auf dem Balkon hatten sich einige der Levkojen wieder aufgerichtet. Ich zog die Wohnungstür hinter mir ins Schloß.

[18] Draußen wandte ich mich nach rechts, Richtung Westermühlstraße. Morgens ist es hier ruhig, und ich muß nicht ständig jemanden grüßen, wie den Frisör von der anderen Straßenseite oder die Buchladenbesitzerin. Auch Hoffmann schläft meistens noch um diese Zeit. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Keuchen. Ich drehte mich um. Es war Stephan.

»Wo willst du hin?« rief er. Sein Gesicht war gerötet, die Haare klebten am Kopf wie gegelt. Ich hatte vergessen, daß wir zum Joggen verabredet waren.

»Willst du dich umbringen?« fragte ich. »Heute ist hitzefrei.«

Stephan trat auf der Stelle, atmete schwer. Wir sind Freunde seit unserer Schulzeit auf dem Schweizer Internat.

»Ich bin auf dem Weg zu Kim ins ›Arosa‹«, sagte ich. »Frühstücken. Kommst du mit? Doch, komm einfach mit.«

Stephan schüttelte den Kopf, ich spürte, wie ein paar seiner Schweißtropfen auf meiner Wange landeten. Ich bewunderte ihn mal wieder für seine Beständigkeit, er hält an seinem Pensum fest, nimmt das Laufen ernst, wie die meisten Dinge in seinem Leben. Stephan ist Anwalt. Als Fünfzehnjährige verbanden uns zwei Dinge: keine Erfahrungen mit Mädchen und schlechte Noten im Sport. Jetzt sind wir beide über vierzig, leben in mehr oder weniger festen Beziehungen und haben eine Lebensversicherung. Irgendwann, als sich der Speck auf die Hüften zu setzen begann, die Kalorien von Schweinshaxe, Mohnkuchen und Weißbier die Figur langsam aufpolsterten, hatte ich Stephan den Vorschlag mit dem Laufen gemacht. Unsere Strecke geht entlang des Isarufers auf dem Stück zwischen Reichenbachbrücke und Wittelsbacher Brücke. Aber man muß aus [19] einer Gewohnheit doch keinen Zwang machen. Stephan tat mir in der Hitze leid.

»Sollen wir uns um eins im ›Dukatz‹ treffen, zum Mittagessen?« fragte ich und wischte mir übers Gesicht.

»Einverstanden.« Er winkte und lief los.

»Ich muß dir nämlich etwas erzählen«, rief ich ihm hinterher.

»Acht Uhr, die Nachrichten.« Der Radiosprecher redete von der Sommerreise des Kanzlers durch die östlichen Bundesländer, die Espressomaschine fauchte. Ich blätterte in der Abendzeitung und der Süddeutschen, die auf der Theke von Kims Bar auslagen. Nichts von einer Toten.

»Sommerloch!« Kim goß sich ihren Espresso auf, drehte das Radio leiser und setzte sich auf den Barhocker. Sie beugte sich über ein Papier, einen quergestreiften Lieferschein. Vor dem Hintergrund ihres dunkelhäutigen Dekolletés sah die Espressotasse noch winziger aus. Außer mir war kein Gast im ›Arosa‹, auch draußen saß niemand auf den Stühlen, die ordentlich in Reihe standen. Die Tür zum Trottoir war über die ganze Breite aufgeschoben, aber die Markise noch nicht ausgefahren. Das Radio dudelte. Ich frühstückte Butterbrezeln und schwarzen Kaffee. Es war friedlich.

»Vorhin hat mich Claus-Peter mit einer seltsamen Geschichte aus dem Bett geholt«, sagte ich.

Kim fuhr mit dem Finger über eine Zeile auf dem Lieferschein, als wäre es Blindenschrift.

»Er hat von einem Mord erzählt, angeblich in der Redaktion von Michelle.«

[20] »Mord?« Jetzt hatte ich ihre Aufmerksamkeit. »Mord hatten wir noch nie.«

»Aber in der Zeitung steht nichts darüber.«

»Wenn Claus-Peter es sagt, wird es stimmen«, sagte sie. »Wer ist denn die Tote?« Ich zuckte die Achseln.

»Ach so, du warst noch nicht im Salon, in deiner Gerüchteküche.«

»Das hat mir gerade noch gefehlt. Aber du hast recht.«

»Halt mich auf dem laufenden, ich will nicht erst aus der Zeitung erfahren, wer der Mörder ist.«

»Ich bin doch kein Detektiv.«

Meine Hose klebte unangenehm auf dem Kunststoffbezug des Barhockers, ich rutschte hin und her. Draußen auf der Hans-Sachs-Straße lärmte ein Müllauto. Ich hatte noch Zeit.

»Ist bei dir auch Flaute?« fragte Kim.

»Es paßt gut, daß ein paar meiner Leute im Urlaub sind.«

Zwei Kerle im Unterhemd zogen eine Mülltonne und wuchteten gleichzeitig einen Plastiksack mit sperrigem Inhalt auf die Plattform. Die Kippvorrichtung des Lasters dröhnte, in den Dieselgeruch mischte sich etwas Süßliches. Kim drehte den Ventilator in ihre Richtung und sagte laut: »Ich würde es mir auch zweimal überlegen, ob ich mich bei der Hitze unter die Trockenhaube setze.«

»Wir haben keine Trockenhauben, Kim. Und machen auch keine Dauerwellen.«

Ein Mann mit Einkaufskorb marschierte vorbei, Richtung Müllerstraße. Ich glaube, er ist Kolumnist bei einer Tageszeitung, der Süddeutschen oder so, gehört aber nicht zu meinen Kunden, daher vergesse ich immer wieder [21] seinen Namen. Der Müllwagen zog weiter und nahm Gestank und Lärm mit.

»Mach doch den Laden zu, und fahr weg«, sagte ich zu Kim und drehte den Fuß des Ventilators wieder in meine Richtung. »Hier verpaßt du nichts, das halbe Glockenbachviertel ist verreist.«

»Das geht nicht.« Kim schüttelte den Kopf. Ihr Haar liegt bewegungslos in immer gleichen, blondierten Wellen und bildet einen merkwürdigen Kontrast zu dem dunklen Teint und den samtbraunen Augen. »Ich mag der Neuen noch nicht das Geschäft anvertrauen. Das Mädel ist so ungeschickt! Sie ist nett und zuverlässig, aber du glaubst gar nicht, wie oft sie gegen meinen Hocker rempelt, der doch immer hier an derselben Stelle steht.«

Ich fand, ein Barhocker gehörte nicht in den Durchgang, sagte aber nichts. Während Kim sich über die Mißgeschicke ihrer Aushilfe ausließ, fiel mein Blick auf das ›Vermischte‹: Der älteste Frisiersalon der Welt entdeckt, im Irak, zweites Jahrtausend vor Christus, schau an. Manches erhält sich Tausende von Jahren, trotz Kriegen und Verwüstungen. Ich tunkte die salzige Brezel in die schwarze Brühe. Der helle Teig sog sich voll, an der Kruste perlte der Kaffee ab. Vielleicht wäre das alte Persien ein schönes Thema für meine Londoner Frisurenschau im Herbst. Oder konnte man das jetzt nicht bringen? Ich nahm mir vor, Julia, meiner Choreographin, davon zu erzählen.

Kim betrachtete das letzte Stück meiner Brezel, als wäre es eine ernste Angelegenheit. »An deiner Stelle«, sagte sie, »würde ich mal eine Woche rausfahren, nach Italien, zum Beispiel.«

[22] Kim war aus Kamerun, träumte wie die Münchner von Italien. Früher hatte sie die Bar zusammen mit ihrem Mann geführt, einem drahtigen Kerl aus dem italienischsprachigen Teil der Schweiz. Kim hatte ihn vor die Tür gesetzt, angeblich wegen Mundgeruch. Aber der war mir nie an ihm aufgefallen. Jetzt führt sie das ›Arosa‹ allein. Viele Schweizer, die in München leben, kommen hierher.

»Ich für meinen Teil würde nach Kuba fliegen, das steht fest«, sagte sie.

»Kuba? Wie kommst du denn darauf?«

Kim schnippte ein Salzkorn vom Tresen. »Weißt du«, sagte sie, und der Blick ihrer braunen Augen schweifte in die Ferne, »die Männer sind dort so ganz anders.« Sie langte plötzlich zum Radio und drehte auf volle Lautstärke. Es war derselbe Latino-Pop-Ohrwurm, den ich vor eineinhalb Stunden bei Claus-Peter durchs Telefon gehört hatte.

[23] 3

Im Salon hatten sich Agnes, Dennis und Kerstin um Bea versammelt. »Alexandra Kaspari ist tot, ermordet!« sagte Bea, als ich hereinkam. Anscheinend war meine Farbstylistin besser informiert als Claus-Peter, der Journalist.

»Wer sagt das?« fragte ich. Die anderen verkrümelten sich.

»Die PR-Frau von Pure Cosmetics. Hat vor zehn Minuten angerufen und wollte dich sprechen. Tom, ich bin völlig fertig.«

Erst eine Tote in der Michelle-Redaktion, jetzt Alexandra? »Vielleicht ist es eine Verwechslung?« wehrte ich ab. »Alexandra war doch gestern abend noch hier.«

»Hast du sie gefärbt?« fragte Bea.

»Weißblond«, sagte ich, »hat zwar ewig gedauert, sah aber klasse aus.«

»Du hast sie weißblond gefärbt? Dann stimmt es doch. Das Pure-Girl sagte…«

»Wer?«

»Die PR-Frau sagte, man erzählt sich, Alexandra sei angeblich weißblond gewesen.«

Wieso sollte jemand Alexandra umbringen? Eine alleinerziehende Mutter und erfolgreiche Journalistin – die Vorstellung war lächerlich.

[24] »Ich rufe die Chefredakteurin an«, sagte ich. »Eva Schwarz weiß sicher, was an der Sache dran ist.«

Beas roter Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln. Es war ihr Kundenlächeln. Der 9-Uhr-Termin stand hinter mir, Vera Zernack. Sie mußte, wie immer, zuerst aufs Klo.

Im Büro schlug ich die Nummer von Vamp nach.

»Vamp-Chefredaktion, Barbara Kramer-Pech, guten Morgen.«

»Guten Morgen.«

»Ach, Herr Prinz!« Die Stimme der Assistentin bekam sofort einen leidenden Ton. »Haben Sie schon gehört, was passiert ist?«

Scheiße, dachte ich, Bea hat recht. »Dann stimmt es also.«

»Es ist furchtbar, ganz furchtbar, was glauben Sie, was hier los ist. Die Ärmste, das arme Mädchen, unsere Volontärin hat sie heute am Morgen gefunden, die hat sie erst gar nicht erkannt, du lieber Himmel, wie schnell sich das herumspricht.«

»Nicht erkannt?« Hieß das, daß sie übel zugerichtet, etwa verstümmelt war? »Ist sie…« Meine Stimme zitterte.

»Was?«

»Ist Alexandra, hat man sie…?«

Barbara hielt anscheinend die Muschel von sich weg und sagte etwas zu jemandem im Raum.

»Hallo?« rief ich. »Hallo?«

»Die Polizei ist hier, die haben den Terminkalender von Frau Schwarz… beschlagnahmt nennt man das wohl, es ist grauenhaft, was glauben Sie, wie soll ich denn ohne den Kalender arbeiten. Und das Blut auf dem Teppich, ich frag [25] Sie, wer soll denn das Zimmer je wieder betreten? Ich trau mich gar nicht vom Fleck, ich möchte auf keinen Fall sehen, wie sie sie abtransportieren. Das ist mir in all den Jahren noch nicht passiert, daß hier bei uns…«

»Und der Mörder?«

»Gute Frage!«

»Können Sie mich zu Eva durchstellen?«

»Frau Schwarz wird verhört!« Barbara Kramer-Pech machte eine Pause. »Erst haben sie mir den Kalender weggenommen, jetzt verhören sie die Chefredakteurin. Soll sie Sie zurückrufen?«

»Wenn sie Zeit hat, ja.«

»Ich werd’s ausrichten, einen schönen Tag noch, Herr Prinz.«

»Ihnen auch, soweit möglich.«

Aber Barbara Kramer-Pech hatte schon aufgelegt.

Ich ging zurück in den Salon. Plötzlich roch ich es: Holz mit Vanille, ein Hauch von Patschuli, eine Winzigkeit Schokolade, Alexandras Duft, die schwere Mischung bunter Drops, süß und klebrig. Er hing in dem Umhang, den sie getragen hatte. Das war vor etwas mehr als zwölf Stunden gewesen. Ich war vom Treppenhaus durch den Seiteneingang in den Salon gegangen. Der Innenarchitekt hatte die Kleiderstange für die Frisörumhänge in der Tür anbringen lassen, aus Platzgründen und um die Seitentür zu verbergen. Alexandra war tot, ermordet, aber hier hing ihr Geruch, als wäre sie lebendig.

Die Nachricht von ihrem gewaltsamen Tod war in der Branche eine Sensation. In den nächsten eineinhalb Stunden nahmen wir telefonisch vier Anmeldungen zum [26] Färben und Schneiden noch für denselben Tag an. Die Leute waren wie aufgestachelt. Eine Schmuckdesignerin wußte von Verwüstung und Vandalismus in der Vamp-Redaktion, ein Sportreporter wollte gehört haben, Alexandra sei vergewaltigt worden, er sagte »sexuell mißbraucht«. Immer neue Informationen kursierten, schossen aus zweifelhaften Quellen empor und brachten vermeintliche Tatsachen über die Ermordete an den Tag, die zu widerlegen nur den Spielverderber interessiert hätte. Alexandra habe geplant, ihren Job an den Nagel zu hängen. Alexandra habe die Kündigung ins Haus gestanden. Alexandra habe wegen hoher Schulden eine Gehaltspfändung zu erwarten gehabt. Mir waren diese Gerüchte völlig neu. Aber ich fing an, mich zu fragen, wie Alexandra mit ihrem Gehalt als Ressortleiterin eigentlich ihren kostspieligen Lebenswandel finanziert hatte.

Bea redete mit der Kundin, Vera Zernack. »Sagen Sie mal, riecht denn das nicht unangenehm? Wir hatten letztens eine Kundin, die hatte solche Blasen an den Füßen, ich dachte nur, lieber Himmel, wie werden diese Wunden jemals zuheilen! Und ich selbst? Mit meinen Landshuter Füßen in den Pariser Schuhen! Sie, das mit dem Urin muß ich mir merken.«

»Wichtig ist, daß er frisch aus dem Organismus kommt, dann auf die Wunde auftragen, auf das Hühnerauge, das Ekzem, was auch immer, da wirkt Urin Wunder.«

Vera Zernack saß frisierbereit auf dem Stuhl. Bea legte ihr das Handtuch in den Nacken.

»Tom, wer tut so etwas?« fragte sie halblaut. Ihre Augen waren traurig. Was sollte ich sagen. Ich ahnte, daß uns Alexandras Tod nicht loslassen würde.

[27] »Frau Zernack«, sagte ich, »alles wieder auf eine Länge und den Pony zur Abwechslung gerade?«

Frau Zernack war unschlüssig. Ich dachte daran, wie oft ich Alexandra radikal verändert hatte, wieviel Spaß ihr die Verwandlung gemacht hatte. Die meisten Menschen glauben, daß schon zwei Zentimeter ihr Leben verändern.

Nachdem ich mit Schneiden fertig war, übernahm Bea. Sie verpackte die Haare von Vera Zernack in Alufolie und verwandelte sie in ein Wesen, von dem ich als Kind gedacht hätte, es käme vom Mars. Das Marsmännchen las Zeitschrift, der Enlightener drang in die Haare ein, und Bea nutzte die Zeit für eine Pause, verschwand in der Küche. Ich ging ihr nach, schloß die Tür zum Flur. Bea war aus ihren Pumps geschlüpft und rieb sich die Füße.

»Was denkst du?« fragte ich. Aber wir dachten beide an das gleiche.

»Alexandra wollte unbedingt den Termin für eben den Abend«, sagte Bea langsam. »Sie war fast hysterisch, erinnerst du dich? Das kam mir komisch vor. Ich hatte ein blödes Gefühl.«

»Du übertreibst«, antwortete ich. »Es war ein ganz normales Telefongespräch, wie ich es schon hunderttausendmal geführt habe.«

»Du übertreibst, ein ganz normales Telefongespräch«, äffte sie mich nach. »Und ein ganz normaler Mord?«

Was sollte das? Mit Mord kannte ich mich nicht aus. Ich sagte: »Alexandra hat in den Spiegel geguckt, die Krise bekommen und angerufen. Mit Recht, ihre Haare sahen schlimm aus.«

»Nicht nur die Haare! Alexandra war weiß wie eine [28] Wand, die Füße waren total zerschunden, hast du die Blasen nicht gesehen? Die waren ja so!« Bea formte mit den Fingern den Umfang einer Untertasse. »Als ob sie um ihr Leben gerannt ist!«

»Sie war etwas fahrig.«

Bea fixierte mich. »Warum war sie fahrig? Warum war sie so extrem durch den Wind?«

»Nachdem Kerstin ihr einen Tee gebracht hatte, wirkte sie schon entspannter. Das war jedenfalls mein Eindruck.«

Bea nickte. »So sind Zwillinge. Schnell zu beruhigen und schnell aufzuregen. Und weiter?«

»Wir haben diese unausgesprochene Vereinbarung, ich mache mit ihren Haaren, was ich will, sie vertraut mir. So war es auch dieses Mal. Sie hat es genossen.«

»Ich meine, worüber hat sie gesprochen? Was hat sie erzählt?«

Dennis steckte seinen Kopf zur Tür herein. »Bea, kannst du bitte kommen?«

»Hätte ich ihr die Farbe gemacht« – Bea schlug mit der flachen Hand auf den Tisch –, »dann wüßte ich jetzt, was Sache ist!«

Im Taxi zum Treffen mit Stephan gingen mir Beas Worte nicht aus dem Kopf: Hätte sie mit Alexandra gesprochen, dann wüßte sie jetzt, was los war. Hatte ich etwas überhört? Aber wenn Alexandra auch nur mit einem Nebensatz angedeutet hätte, jemand trachte ihr möglicherweise nach dem Leben, das wäre mir doch aufgefallen. Überhaupt, wer könnte einen Grund haben, Alexandra Kaspari umzubringen? Ich gab dem Fahrer ein gutes Trinkgeld, wie immer.

[29] »Wie geht’s?« Stephan beugte sich zu mir herunter, sein Nacken war feucht. Er stellte seinen Aktenkoffer auf den Boden und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Während er verschnaufte, blickte er sich neugierig im Café um, musterte die Menschen, die sich in der Mittagspause auf die schattigen Inseln unter den Sonnenschirmen geflüchtet hatten. Alle Tische waren besetzt. Ich freute mich, Stephan zu sehen. Er trug, wie konnte er bloß, ein kurzärmeliges Hemd mit Krawatte.

»Was trinkst du?« fragte Stephan.

»Weißweinschorle.«

»Möchtest du etwas essen?«

»Ich hatte eben eine tarte. Die kann ich dir empfehlen.«

Stephan griff nach der Karte. Er hätte mit dem Bestellen auf mich gewartet.