Inhaltsverzeichnis

© 2017, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

 

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Lektorat: Elvira Gross

Umschlag und Satz: Jürgen Schütz

Umschlagbild: © Karin Koschell

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-41-5

 

Printausgabe: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-57-1

 

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Paul Auer

(geb. 1980 in Kärnten) studierte Kultur- und Sozialanthropologie, ist Mitglied des Kärntner Schriftstellerverbands und der Literaturgruppe »Textmotor«. Neben zahlreichen Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften war Paul Auer auch in der Anthologie übergrenzen(Septime, 2015) mit einer Erzählung vertreten. Er lebt in Wien. Kärntner Ecke Ring ist sein Romandebüt. 

 

Klappentext

Der aufwieglerische Leserbriefschreiber Ludwig Bilinski hat einen penibel ausgeklügelten Plan: Er will Wien wieder zur »Perle Europas« machen, die Stadt von baulicher Hässlichkeit befreien, sich gleichzeitig für Enttäuschungen in seinem Leben Genugtuung verschaffen.

Jeden Samstag trifft er unabhängig voneinander Tamara Bauer, eine Zeitschriftverkäuferin, und ihren Sohn Norbert, um seine emotionalen und sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Die beiden spielen die Hauptrollen in seinem machiavellistischen Stück – allerdings legt er höchsten Wert darauf, dass ihre Wege sich nicht kreuzen, um sein Vorhaben nicht zu gefährden. Doch Bilinskis Egozentrismus kollidiert zusehends mit den Sehnsüchten, die er in Norbert und Tamara weckt. Während er als Regisseur voller Vorfreude seinem apokalyptischen Coup entgegensieht, gerät das auf ihn zugeschnittene Beziehungsdreieck mit einem Schlag außer Kontrolle.

 

 

 

Paul Auer

Kärntner Ecke Ring

Roman | Septime Verlag

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

Abermals eine Stunde geschwiegen. Die Aufdringlichkeit, mit der Doktor Auer Ihnen Details entlocken wollte, Kränkungen und Katastrophen, Ihre Biografie problematisierte. Um ganz offensichtlich eigene Unzulänglichkeiten zu kaschieren, widerwärtig. Erst recht sein Drei-Tage-Bart; der penetrante Geruch seines Parfums. Aber was erwarten von jemandem mit einem solch plebejischen Namen?

Sie hatten mit Ihrem Namen nie gehadert. Ludwig Bilinski. Es hätte Sie schlimmer treffen können. Horst, Heinrich, Gunther, Gerwald; gar Adolf? Nein. 1955 wäre sogar Ihr SS-Vater einsichtig genug gewesen. Überließ die Wahl ohnedies Ihrer Großmama. Die ebenso einem verschwundenen Reich nachtrauerte, dem der Habsburger. Einen Erzherzog als Namenspatron zu wählen, wäre ihr aber zu snobistisch gewesen. Sie wurden nach einem Wittelsbacher benannt. Ludwig von Bayern. Erbauer von Neuschwanstein, Förderer Wagners, Opfer seiner romantischen Sentimentalität. Auch keine leichte Bürde. Aber eine wohlklingende.

Doktor Auers ratloser Blick, als Sie das Therapiezimmer verließen. Er würde sich an Ihr Schweigen gewöhnen, so wie Sie sich an Ihr Zimmer gewöhnt hatten. Es war bescheiden, Ihrer Situation angemessen. Sie wussten doch, was Sie getan hatten. Bloß Doktor Auer schien der festen Überzeugung, er müsste etwas freilegen; dass Sie etwas verdrängten. Dieser Stümper. Gar nichts verdrängten Sie. Vermochten sich der ganzen Malaise zu stellen. Jeglicher Erinnerung, sämtlichen Fakten.

Sie legten sich auf das Bett. Ihre ersten Lebenswochen waren wohl die glücklichsten. Bei vorhandenem Vokabular hätten Sie so geurteilt. Sie selbst, ein gesunder Säugling, lebten mit Eltern und Großmama in einer herrschaftlichen Wohnung. Am Tag Ihrer Geburt war das Ende der alliierten Besatzung besiegelt worden. Aufbruchsstimmung. Dass Ihre Mutter das Bett nicht mehr verließ; Ihre Großmama nie außer Haus ging; Ihr Vater umso abwesender war – entweder er hielt sich in seiner Praxis auf oder war tagelang auf der Jagd, um sich für den verlorenen Krieg zu rächen – all das fügte sich später zu einem Präludium voller Dissonanzen. Es endete mit dem Sturz Ihrer Mutter auf die Währinger Straße – dreiundzwanzig Jahre alt.

Sie öffneten die Nachtkästchenlade, entnahmen ein Foto. Eine Schönheit war sie, wie vom Film, wie Hedy Lamarr, kühl strahlend. Ehe sie Ihrem Vater ins Netz ging, er um dreißig Jahre älter, ein Kind zur Welt brachte, es aussetzte, verschwand. Wieder hätte es schlimmer kommen können. Allein beim Vater aufzuwachsen, doch da war noch Ihre Großmama, seit 1918 nur mehr in Schwarz gekleidet. Abend für Abend saß sie an Ihrem Bett, wiegte Sie mit Versen in den Schlaf, eine Wiedergängerin Maria Theresias. Deren teigige Hand Sie festhalten durften, deren melodischer Stimme Sie lauschten, untermalt vom Rumpeln und Bimmeln der Straßenbahnen auf der Währinger Straße: Wien, du alte, kalte Hure / Ich kauerte an deines Grabes Mauer / Da du noch locktest, ein mürbes Goderl dieser Welt. / Du hurtest hurtig mit Hurradämonen / Kriegsüber siegerischen Drohnen / Nun hungernd unkst du unter deiner Laster Last / Du hast dein Reich verprasst …

Das Foto der Mutter lag auf Ihrer pochenden Brust. Die Wände drohten Sie zu zerquetschten. Die Augen schließen, einschlafen. Wo war die Hand der Großmama? Norbert Bauer, Frau Tamara? Es war unerträglich. Wie hatte es so weit kommen können? … Sie rissen die Augen auf. Das Foto Ihrer Mutter, Sie hatten es zerknüllt.

 

 

1

 

 

Er ballte die Fäuste. Die Ansichtskarte war ihm aus der Hand gefallen. Sie lag auf dem dreckigen Boden, knapp vorm Sitzplatz gegenüber. Eine Schwarz-Weiß-Aufnahme des Riesenrads zwischen den orangen Flip-Flops einer jungen Frau. Diese rümpfte die Nase, rückte ihre Sonnenbrille zurecht, tippte zwei Mal auf das Display ihres Smartphones. Schürzte die Lippen, sah zum Fenster raus. Er lockerte seine Fäuste, beugte sich nach vorne. Einer der Flip-Flops rückte seitwärts, verdeckte die Ansichtskarte, die Frau überschlug die Beine. Norbert lehnte sich zurück. Stellte sich vor, das Bein der Frau grob wegzuschieben, sich nach der Karte zu bücken. Das Smartphone würde zu Boden fallen, er würde es zerstampfen.

Noch vor ein paar Jahren hätte sie sich mit ihm abgegeben. Obwohl er schon als Teenager nicht nach künftigem Spießerleben aussah. Doch für ein Abenteuer wäre er interessant genug gewesen, solche Mädchen aus besserem Haus hatten sich von ihm abschleppen lassen. In einem bestimmten Alter war selbst das Hochzeitsfoto am Nachtkastl der ärgsten Schickse egal, solange sie anständig kam. Und trotzdem: Wie sie ihn danach angesehen hatten, immer dieselben öden Fragen: ›Was willst du eigentlich mal machen? Wie stellst du dir deine Zukunft vor?‹ Er hatte sie nie überrascht, mit einem Masterplan, einem Erbe, einem verlockenden Weg abseits von Konventionen. Hatte sich schweigend angezogen, nicht mehr angerufen, die Mädchen den Karrieretypen überlassen. Und das hatte er jetzt davon. Die Ansichtskarte würde er nicht wiederbekommen. Er stieg beim Stadtpark aus, sah noch einmal durchs Fenster in die U-Bahn. Die junge Frau ignorierte ihn. Als das Abfahrtssignal ertönte, kickte sie die Karte weg.

Es lag ihm nichts an dieser lächerlichen Karte. Er rannte die Stufen hinauf, ging in den Park hinein. Am Steg über dem ausgetrockneten Wienfluss blieb er stehen, lehnte sich an die Brüstung. Sowieso hätte er sie weggeworfen, von hier hätte er sie runtergeschmissen. Eine Weile lauschte er der schmalzigen Melodie, die ein verlotterter Typ am anderen Ende des Stegs aus einem Akkordeon quetschte. Und am besten gleich sich selber nachgeschmissen, aber das wäre peinlich gewesen, den Sturz hätte er locker überlebt. Er hörte einen vorbeigehenden Mann von fallenden Aktienkursen sprechen, eine Frau sagen, dass sie nicht gerne in den Stadtpark komme wegen dem Gesindel. Dazu das Rollen eines Kinderwagens, Babygebrabbel. Ein Tippen an seine Schulter, er wandte sich um, eine hübsche Japanerin lächelte ihn an, neben ihr war eine zweite, weniger hübsch. Sie fragte nach dem goldenen Johann Strauß, die zweite glotzte auf ihr Tablet. Er drehte sich wieder weg, schaute zum Hilton. Vor ein paar Wochen war er an einem der Fenster im zwölften Stock gestanden. Der Blick über die Stadt war so schön gewesen, doch die Fenster hatten sich nicht öffnen lassen, sowieso wäre er nicht gesprungen, auch damals nicht.

Ihm wurde schwindlig, er machte sich vom Geländer los, für ein paar Sekunden taumelte er blind hinein in das lauter werdende Akkordeonspiel. Er hörte es auch noch beim Skulpturenbrunnen, zwei nackte Männer im Versuch, Felsen wegzurücken, ziemlich schwul, aber er beachtete sie längst nicht mehr. Über Stufen ging es zur Promenade runter, zum Einbeinigen und ein paar anderen, die sich hier versammelten, täglich damit rechneten, verscheucht zu werden. Verwelkte Stadtparkmenschen statt blühender Stadtparkbäume. Direkt gegenüber, auf der anderen Seite vom Wienfluss, ein paar Sonnenhungrige im Schanigarten, die ihren Macchiato schlürften. Eine Frau saß breitbeinig in der Böschung, strich sich mit schwülstigen Händen über die Waden. Norbert sah ihr zwischen die Beine. Er wusste von den wenigsten hier den richtigen Namen und außer mit dem Einbeinigen mit keinem viel anzufangen. Auch nicht mit Random, seinem Dealer, wegen dem er gekommen war.

Er steckte sein Zeug ein und wollte abhauen, da tauchte ein Typ auf, ziemlich jung. Umständlich fragte der, ob jemand Gras verkaufe, niemand reagierte. Der Bursch wurde knallrot im Gesicht.

»Bitte, ich brauch nur ganz wenig!«

»Bei uns dealt keiner.«

»Aber ich weiß sonst nicht, wohin … Die Araber verkaufen nur gestreckten Scheiß und …«

»Hast was bei den Ohren?«

»Jetzt seid doch nicht so gemein!«

Manche äfften ihn nach, verspotteten ihn. Norbert betrachtete die Marken-Sneakers, die saubere Cargo-Hose, das gebügelte T-Shirt, das kindliche Gesicht. Festivalbänder und eine Uhr am Handgelenk. Hatte er selber nicht auch mal so ausgesehen? … Jetzt den Burschen bei der Hand nehmen, ihn wegbringen, zum Donaukanal, mit ein paar Dosen Bier. In der Sonne sitzen, ihn erzählen lassen, vom Frühsommer in der Stadt, von seiner Freundin. Marie. Sie hatte damals ein Foto von ihm gemacht. Norberts Augen wurden feucht. Das war ja klar. Er wischte sich mit dem T-Shirt übers Gesicht.

»Scheiße! Was hat der denn am Bauch!«, hörte er den Burschen aufjaulen, der sich anscheinend wieder gefangen hatte.

»Sind das zwei Achter?«

»Bist du ein Nazi?«

Sämtliche Augen waren auf ihn gerichtet, sogar die Frau in der Böschung glotzte ihn an. Er zog das T-Shirt runter, Random stampfte auf ihn zu, schüttelte den Kopf, schmierte ihm eine. Einfach so. Doch er blieb ruhig. Stand betroppezt da, hielt sich die Hand an die Wange, hörte den Einbeinigen sich aufregen, Random anschnauzen, Norberts halbe Lebensgeschichte aufrollen. Aber das ging ihn nichts an. Der Bursch sah ein, dass er zu keinem Gras kommen würde, und haute ab. Norbert spürte es in sich brodeln, was machte ihn so wütend, woher kam dieser kindische Zorn? Er würde sich einen neuen Dealer suchen, mehr war nicht.

Norbert verabschiedete sich vom Einbeinigen, ging Richtung Ring. Diese blöde Schickse in der U-Bahn. Jetzt Bilinskis Ansichtskarte zerreißen, in immer kleinere Stücke, bis nichts mehr von ihr übrig wäre. Das würde den Alten treffen, richtig traurig machen, aber was brachte das schon? Er selber war doch der Einzige, den er damit verletzte.

 

 

2

 

 

Es war fünf nach zwölf. Also blieben ihr noch zehn Minuten, zwei Zigaretten, vielleicht sogar ein zweiter Kaffee. Dann müsste sie wieder raus ins Geschäft, um kein Risiko einzugehen, die Visite des Chefs. Mitunter kam er sogar am Wochenende.

Tamara hörte ihren Magen knurren. Außer einem Stück Nussstrudel um vier Uhr morgens hatte sie nichts gegessen. Sie aß nicht viel. Weshalb sie so dick war, verstand sie nicht. Und sie war dick, richtig fett, das machten ihr die Blicke der anderen klar, in der U-Bahn, beim Einkaufen, hier in der Arbeit. Was für schwabbelnde Hüften! Diese Schenkel! Sollten die Leute ruhig gaffen, ihr war es egal, einzig der Blick des Chefs zählte. Weshalb sie auch im Geschäft stehen müsste, wenn er kam. Zu ihm eilen, ihn begrüßen, seine Hand schütteln, lächeln, ein Seufzen. Dann sofort wieder Zeitschriften schlichten, einen Kunden fragen, ob er Hilfe benötige. Um dem Chef zu beweisen, sie war seine wichtigste Mitarbeiterin, auf sie konnte er sich verlassen. Sie war immer zur Stelle, wenn andere versagten, krank wurden, frei brauchten, kündigten. Noch nie war Tamara im Krankenstand gewesen, daran sollte der Chef denken, wenn er sie sah. Um ihr dann diesen Blick zuzuwerfen, dankbar, anerkennend, respektvoll. Nicht herablassend, wie einmal eine Kollegin gehöhnt hatte, die bald darauf entlassen worden war.

Wieder ein Magenknurren. Sie schenkte sich Kaffee ein, gab viel Milch und Zucker dazu, schwarz hätte sie ihn nicht runtergebracht. Er war von der billigen Sorte. Die Kolleginnen hatten damit begonnen, dieses Zeug mitzubringen. Sie selber hatte bis vor kurzem ausschließlich Julius-Meinl-Kaffee gekauft, nicht für zuhause, nur für die Arbeit, immerhin kam der Chef manchmal zum Kaffeetrinken in den Pausenraum. Ihm hätte Tamara erklären wollen, dass es nicht aus Nachlässigkeit war, warum sie nun ebenfalls billigen Kaffee mitbrachte. Es ging ihr um Gerechtigkeit. Aber natürlich hatte der Chef für solche Nebensächlichkeiten keine Zeit. Stets war er in Eile – und trotzdem vergaß er nie, ihr diesen Blick zuzuwerfen.

Endlich war es viertel eins. Ein letzter Schluck Kaffee, ein tiefer Zug von der Zigarette, später dürfte sie nicht vergessen, Katzenfutter zu besorgen. Wie schön es wäre, jetzt bei ihm zu sein!

Mit einem Seufzen stand sie auf, mühte sich zur Tür. Ihr Herz pochte wild, pumpte Blut in ihren Schädel. Ihr wurde schwarz vor Augen, sie tastete nach der Klinke, stieß die Tür auf. Kalte, trockene Luft wehte ihr entgegen, Zeitschriftenstaub, Stimmengewirr, grelles Licht, ihr Kreislauf beruhigte sich. Sie atmete durch. Ihr Blick war wieder ungetrübt, die Müdigkeit abgeschüttelt. Tamara Bauer zurück im Dienst, in Windeseile würde Ordnung herrschen.

Die Angriffsziele waren schnell ausgemacht. Die nuttig gekleidete Frau bei den Kunstzeitschriften, die in der Parnass blätterte, Seiten abfotografierte. Bei den Erotikmagazinen die Burschen, Glucksen, Kreischen und Quietschen, wie im Schlachthof. Und bei den Tageszeitungen der Mann in beigen Hosen, kariertem Hemd, der in der Süddeutschen las. Mit ihm wollte sie beginnen, als plötzlich, sie traute ihren Augen kaum …

»Wünsche einen schönen Sonntag, Frau Tamara!«

Die Leute würden sich gedulden müssen. Herr Ludwig stand vor ihr, völlig unerwartet. Tamara zog ihren Bauch ein und hatte nur noch Augen für ihn.

 

Typische Visage eines Kunden, der glaubte, etwas Besseres zu sein – so urteilte sie vor ein paar Monaten, als der Mann sie zum ersten Mal angesprochen hatte. Schon damals bei ihrem Vornamen. Ob sich im Lager noch eine Vortagesausgabe der Frankfurter Allgemeinen befinde?

»Woher kennen Sie meinen Namen?«

Er war gut gekleidet, schlank, nicht viel größer als sie und ganz bestimmt kein Arbeiter. In seinen feingliedrigen Händen hielt er ein paar Magazine.

»Der Name steht auf Ihrem Namensschild.«

Sie starrte ihn an. »Ich bin schon ganz deppert!« Ihr wurde heiß. Das war alles, was sie hervorbrachte? Mehr hatte sie nicht zu bieten? Sie hätte erwidern müssen, dass er gefälligst … oder dass sie sicher nicht … Aber ihr fiel nichts ein, ihre Schlagfertigkeit war dahin. Der Mann hatte außergewöhnlich gepflegte Hände, das musste sie zugeben. Was starrte sie da überhaupt die ganze Zeit hin? Dass es ihm leid tue, hörte sie ihn sagen, er hätte sie nicht so überfallsartig belästigen dürfen, sie habe ganz recht mit ihrem Ärger.

»Menschen mit Stolz sind heutzutage selten geworden, jeder lässt sich alles gefallen, das ist mir unbegreiflich.«

Hatte sie richtig verstanden? Bat dieser Mann sie um Entschuldigung? Dieser bestimmt gebildete, wohlhabende Mann?

»Die Frankfurter Allgemeine haben Sie gesagt? Ich schau gleich nach!«

Sie schob sich quer durch das Geschäft, auflachend, sie konnte nicht anders. Dieser Mann mit den gepflegten Händen hatte sie angelächelt! So hatte der Chef sie noch nie angesehen.

Im Lager durchsuchte sie die Regale mit den alten Zeitungen, bis sie fündig wurde, griff nach dem riesigen Blatt, warf einen Blick auf die Titelseite. In ihrer Anfangszeit im Zeitschriftenverkauf war es für sie noch etwas Besonderes gewesen, einem Kunden einen Wunsch zu erfüllen, zum Beispiel eine Zeitung vom Vortag zu bringen, zu sehen, wie er sich freute. Sie würde ihm die Frankfurter Allgemeine reichen und dabei ganz sicher nicht auf seine Hände starren.

»Steht wohl etwas Interessantes drin?«

»Ja, ein Artikel im Feui… im Kulturteil meine ich, über ein Museum, das hier in Wien hätte gebaut werden sollen. Am Karlsplatz, aber … es ist leider nicht gebaut worden, die Leute waren dagegen, weil ihnen der Stil nicht gefallen hat.«

»Zuerst sind die Leute immer gegen alles. Dann gefällt es ihnen eh meistens. Zwingen muss man sie manchmal, sonst würden wir ja immer noch wie die Neandertaler hausen.«

Ob das dumm war? Der Mann lächelte schon wieder. Wie hatte sie ihn für arrogant halten können?

»Sie ahnen nicht, wie recht Sie haben. Nochmals vielen Dank, Frau Tamara! Übrigens, Ludwig Bilinski mein Name! Ich freue mich schon auf das nächste Mal.«

Er drehte sich um, ging zur Kassa, zahlte. Wie kalt und trocken die Luft war, der Zeitschriftenstaub. Ihre Hand hingegen fühlte sich warm an, er hatte sie geschüttelt. Sie ging in den Pausenraum, bedachte nicht einmal das Risiko, die Visite des Chefs zu versäumen.

 

Seitdem kam der Mann jeden Samstag, Punkt zehn. Kaufte seine Zeitungen, sie plauderten ein paar Minuten, das war’s. Aber heute war Sonntag. Und sein Gesicht ernster als sonst. Tiefe Falten, die ihr vorher nie aufgefallen waren, von der Nasenwurzel zur Stirn, von den Mundwinkeln abwärts.

»Herr Ludwig, so eine Überraschung! Gestern was vergessen?«

»Nein, gar nichts, zumindest keine Zeitung …«

Der Lärm im Geschäft schien nachzulassen, als hielten alle inne, um Tamaras rotes, schwitzendes Gesicht zu studieren. Könnte sie bloß einen Grund finden, um zu toben und schimpfen, das beherrschte sie, darin war sie geübt. Nur, womit sollte sie Herrn Ludwig beeindrucken?

»Aber eigentlich habe ich doch etwas vergessen …«

Vielleicht würde der Chef auftauchen und diesen Horror beenden? Oder Herr Ludwig sie … Ausgerechnet sie! Bloß, weil er freundlich zu ihr war? Viele Menschen waren freundlich zueinander, ohne dass sie … um ein Treffen baten, um ein … »Rendezvous«. Hatte er das wirklich gesagt?

»Wie meinen Sie das?«

»So, wie ich es sage: Ich würde Sie gern auf ein Eis einladen. Wir kennen uns jetzt seit fast einem Jahr, da könnten wir uns ohneweiters mal ein bisschen länger unterhalten. Aber wenn Sie natürlich …«

»Nein, nein, ich würde gerne mit Ihnen … Also, ich meine, warum nicht? Am Donnerstag habe ich frei.«

Endlich lächelte er, räusperte sich. Schlug einen Treffpunkt vor, bat Tamara um ihre Telefonnummer, »für alle Fälle«. Mit ruhiger Hand, als notierte sie die Tagesbilanz nach Dienstschluss, schrieb sie die Nummer auf eine Visitenkarte des Geschäfts. »Also dann, Frau Tamara, wir sehen uns am Donnerstag. Ich freue mich. Und verzeihen Sie meinen außertourlichen Besuch. Ich bin selbst kein Freund von Überraschungen …«

»Das ist schon in Ordnung. Alles ist in Ordnung! Ich freu mich auch.«

Er nickte wortlos, ging, während Tamara einsah, dass sie alle, die sich nicht an Regeln hielten, heute in Ruhe lassen würde. Wenig später kam der Chef. Sie schämte sich für den Gedanken, dass er eigentlich ein hässlicher Mann war.

 

 

 

3

 

 

Aus dem Radio kam Freedom von Pharell Williams, kaum hörbar, wie Musik, die durch die dicken Mauern eines Clubs dröhnte. Der Einbeinige legte den Bleistift in den Falz, schaute vom Moleskin auf, zur ratternden Kaffeemaschine, dann zum geschlossenen Küchenfenster. Er hatte freie Sicht auf den Balkon des gegenüberliegenden Gemeindebaus. Dort rekelte sich eine nackte Frau in einem Liegestuhl in der Mittagssonne. Er selbst saß in seinem abgewetzten Fauteuil, seine Prothese hatte er auf einer Teekiste gelagert. Drehte sie abwechselnd nach links und rechts, sodass sein Schuh die Frau verdeckte oder freigab. Sie rauchte, doch was machte ihre zweite Hand? Seine war schon zur Hälfte unterm Hosenbund verschwunden, das Notizbuch fiel zu Boden, ächzend und stöhnend tröpfelte das letzte Wasser in die Kaffeemaschine ein, Dampf stieg auf, die Kanne war voll. Noch ein Seufzen kam von der Couch, ein zweites, dann ein Gähnen. Der Einbeinige richtete seinen Blick dorthin, verärgert, weil er wohl oder übel die Hand aus der Hose ziehen musste. Gleich würde Norbert aufgewacht sein.

In der vergangenen Nacht war er wahrscheinlich wieder mal im Wald gewesen. Thoreau spielte dabei keine Rolle, Verzweiflung schon eher. Frühmorgens kam er dann in erdverschmutzter Kleidung heim, mit blutigen Fingerkuppen und Schrammen im Gesicht. Legte sich auf die Couch, wimmerte und verzog seinen Mund, als tobten in seinem Hirn die ärgsten Horrortrips. Bis er einschlief und sich nicht mehr rührte, ja nicht mal mehr zu atmen schien. Früher hatte der Einbeinige hin und wieder sein Ohr an Norberts Brust gelegt, bloß um sicherzugehen.

Seit dem vergangenen Herbst wohnte Norbert hier, umsonst, obwohl er bereits mehrmals angeboten hatte, Miete zu zahlen. Doch der Einbeinige wollte sein Geld partout nicht nehmen. Kein Arrangement unterstützen, das ›auf ungleichen Machtverhältnissen basierte und Leid verursachte‹, wie er es in einem Augustin-Artikel formulieren würde. Aber auch ohne linke Floskeln war eines klar: Er trank Fair-Trade-Kaffee, aß Fair-Trade-Essen, trug Fair-Trade-Klamotten – Norberts Geld anzunehmen wäre inkonsequent und verlogen.

 

Der Deal mit jenem Mann hatte im vergangenen Winter begonnen, in einer eisig kalten Nacht am Schwedenplatz. Sie saßen auf einer Bank, Taxis und Nachtbusse donnerten über den Franz-Josefs-Kai, Norberts blaufleckige Hände zitterten so stark, dass ihm der Joint immer wieder zu Boden fiel. Er erzählte dem Einbeinigen von jenem Tag, als er, elf oder zwölf Jahre alt, zuhause in der Besenkammer eine Gitarre entdeckte, eingekerkert zwischen Putzzeug und Schachteln. Ihr Klang habe ihn nicht mehr losgelassen.

»Vorher ist sie mir nie aufgefallen, vielleicht war sie mir auch egal, keine Ahnung. Aber an dem Tag … Ich hab sie genommen, bin damit in mein Zimmer, hab drauf rumgeklimpert. Total happy. Dann ist meine Mutter heimgekommen. Sie reißt die Tür auf, schmiert mir eine und zertrümmert die Gitarre am Türstock. Komplett irre.«

Norbert zog an seinem Joint. So gierig, als wollte er ihn als Ganzes einsaugen.

»Und diese Gitarre war von deinem Vater?«, fragte der Einbeinige.

»Anzunehmen.«

»Daher also der Hass auf deine Mutter, von solchen Aktionen?«

»Wer sagt, dass ich sie hasse?«

Da stand wie aus dem Nichts ein Mann vor ihnen, nicht allzu groß, eine hagere Gestalt. Sein Gesicht war halb verdeckt von Schal und Hut, sein Parfum passte nicht zu Uhrzeit und Gegend. Norbert ließ den Joint fallen, der Fremde beschwichtigte, er sei kein Polizist, er benötige bloß Feuer. Er hatte eine sonore Stimme und sprach nach der Schrift. Norbert klaubte den Joint auf, reichte dem Mann ein Feuerzeug. Der nahm ein Etui aus seiner Manteltasche. Ob sie es gestatten würden, dass er hier stehen bleibe, sein Taxi müsse jeden Moment kommen … Alleine sei ihm der Schwedenplatz um diese Zeit nicht ganz geheuer. Seine Verschrobenheit kam dem Einbeinigen einstudiert vor, routiniert wie das Anzünden des Zigarillos.

»Soviel ich weiß, kann jeder rumstehen, wo er will«, erwiderte Norbert. »Wobei, das kann auch ins Auge gehen. Sicher, dass wir nicht die Typen sind, vor denen Sie sich anscheißen?«

Er lehnte sich zurück, sah zum Himmel, blies Rauch aus. Protestierte nicht, als der Mann das Feuerzeug kommentarlos in die Manteltasche steckte.

»In welche Richtung fahren Sie eigentlich?« Norbert schnippte seinen Jointstummel weg, rieb sich die Hände. »Kommen Sie am Westbahnhof vorbei? Mir ist kalt, und ich bin ziemlich paniert. Würden Sie mich mitnehmen?«

Der Mann erwiderte, kein Problem, seine Fahrt führe ihn über den Westbahnhof. »Hier kommt auch schon mein Taxi.« Ein dicker Schwarzer stieg aus, winkte dem Mann zu. »Wollen Sie …?«

Der Einbeinige lehnte ab. »Komm gut nach Hause, Norbert.«

Der Mann ließ den Zigarillo fallen, zertrat ihn, steckte die Hände in die Manteltaschen: »Sie müssen sich keine Sorgen machen.«

Norbert war bereits ins Taxi eingestiegen …

 

… und seither nicht mehr ausgestiegen. Der Einbeinige warf einen Blick zur Couch. Bis zum heutigen Tag nicht. Dafür gab es natürlich gute Gründe. Der Deal garantierte ein müheloses Einkommen, Norbert konnte seine Tage zwanglos in der Stadt verbringen, ohne Job, ohne staatliche Unterstützung. Konnte in Kaffeehäusern sitzen und Comics lesen oder am Donaukanal chillen und Pärchen beobachten. Er konnte seine Zeit im Wald totschlagen, oder in den Armen einer Frau.

Trotzdem kam ihm Norbert in letzter Zeit immer getriebener vor, ein Zündholz, das an beiden Enden abbrannte. Es ging ihm schlicht scheiße. Der Einbeinige war davon überzeugt, er wäre sonst nie so weit gegangen, die Adresse von Norberts Mutter ausfindig zu machen, ihr einen Brief zu schreiben. Er hasste es, sich in das Leben von anderen einzumischen.

Es war wohl der Kaffeegeruch, der ihn endlich aufwachen ließ. Norbert öffnete seine Augen, sah den Einbeinigen an, dann zum Fenster. »Warum machst du es nicht auf? Die Luft ist ja zum Schneiden.«

Der Einbeinige verdeckte die Frau am Balkon mit seinem Schuh, bückte sich nach dem Moleskin, griff zur Fernbedienung und schaltete das Radio aus.

»Wolltest du dir gerade einen runterholen?«

Er stand auf, ging zum Fenster, ließ die Jalousien herunter.

»Oder hast du wieder geschrieben? Einen Artikel über mich? Willst du deshalb wissen, was ich im Wald getrieben habe?«

»Was sollst du getrieben haben? So interessant bist du nicht.«

Das war natürlich gelogen. Interessant fand er Norbert allemal. Zudem rätselhaft. Vielleicht, weil es auf der Hand lag: prügelnder Stiefvater, depressive Mutter, indifferente Großeltern, intrigante Freunde, schlechte Lehrer, Nächte im Keller, Schwänze im Arsch. Nicht jedem war so viel Klarheit über die Gründe seines Schicksals gegönnt. Nicht jeder wollte es so genau wissen. Norbert behauptete, die Vergangenheit interessiere ihn nicht. Abgesehen von der zertrümmerten Gitarre sei alles in bester Ordnung gewesen: Zoobesuche in Schönbrunn, Kekse backen im Rathaus, die Stadt und seine Mutter hätten gut für ihn gesorgt. Und dass alles weit schlimmer hätte ausgehen können.

›Schlimmer?‹

›Naja, jetzt bleiben wir mal am Teppich. Ich bin kein Räuber, kein Terrorist und kein Mörder.‹

›Aber auch kein Koch, kein Tischler, kein Ingenieur. Warum tust du dir diese grindige Sache an? Das kann dich doch nicht befriedigen.‹

›Pffffff … wie mich das befriedigt! Und ich find es auch geil, durch den ersten Bezirk zu latschen und für einen Sandler gehalten zu werden, und in meiner Tasche schlummern ein paar Hunderter.‹

So oder ähnlich hatten bislang alle Gesprächsversuche über die Angelegenheit geendet.

Der Einbeinige schenkte zwei Tassen Kaffee ein, setzte sich wieder in seinen Fauteuil, zündete sich eine Zigarette an. Es war das einzige Laster, von dem er noch nicht losgekommen war, reine Nostalgie wie seine Abstecher in den Stadtpark. Beides würde sich irgendwann erübrigen. Wozu mit einem Haufen Junkies und Alkoholiker die Zeit verschwenden? Er hatte es längst aufgegeben, sie von der Selbstzerstörung abbringen zu wollen. Sollte doch jeder machen, wonach ihm der Sinn stand, solange er dann nicht jammerte, wenn ihm etwa ein Bein amputiert wurde. Das war sein Standpunkt. Bloß bei Norbert rückte er davon ab. Zum ersten Mal seit langem plagten ihn echte Sorgen um einen Menschen.

»Die letzte Nacht steckt dir noch in den Knochen, was? Wieder einmal.«

»Klar ist es mir mies gegangen. Ich hätte Random die Nase brechen sollen.«

»Vielleicht. Aber vielleicht solltest du das Tattoo einfach wegmachen lassen.«

»Du gibst mir die Schuld, dass der sich nicht unter Kontrolle hat?«

 

 

 

4

 

 

Norbert nahm sein Handy. Es war kurz nach eins. Wie durch einen Schalldämpfer hörte er den Einbeinigen labern. Er kannte diese Sprüche. Er musste raus aus der Wohnung.

Auf der Straße erinnerten ihn gellende Kinderstimmen an die Leichtigkeit des Sommers, weiche Haut, Grashalme. Er bekam Lust auf Bier. Besorgte sich zwei Dosen, hastig machte er die erste auf, ging stadteinwärts in Richtung Westbahnhof. Am schmalen Gehsteig herrschte aggressives Gedränge, er kam kaum voran. Jetzt mit irgendeinem Menschen nach Hause gehen. Sich ausziehen, vögeln, kalt duschen, was essen. Ein gebügeltes T-Shirt anziehen, es würde gut riechen – wonach? Früher, als er noch häufiger in fremden Wohnungen gewesen war, hatte er manchmal nach dem Duft gesucht. Hatte sich vom schlafenden Körper neben sich losgemacht, war zum Kleiderkasten geschlichen, hatte an der Wäsche gerochen. Er war jedes Mal enttäuscht worden. Keines der Mädchen hatte das Waschmittel seiner Mutter in Verwendung.

Er setzte sich auf eine Stiege, die zwischen einer Apotheke und einem Instrumentengeschäft in eine ruhige Gasse führte. Auf den Stufen unter ihm ein junges, ineinander verkeiltes Pärchen. Er musterte die Gitarren in der Auslage. Wenn er jetzt einen Pflasterstein hätte, er würde ihn gegen das Glas schleudern, ein lautes Krachen, Bruchlinien, abertausende Splitter. Das Mädchen bemerkte ihn, sprang auf, rannte davon. Der Bursch, zunächst verwirrt, warf ihm einen bedrohlichen Blick zu. Dann rannte er seiner Freundin nach. Norbert trank sein Bier aus, drückte die Dose zusammen, warf sie weg, öffnete die zweite, ging weiter. Am liebsten hätte er jeden angerempelt, der ihm im Weg stand. Bartlose Knirpse spuckten vor seinen Füßen aus, ein Köter hockte unter einem Obststand und schiss, ein SUV mähte fast eine Türkenmami nieder.

Er landete in einem Sportwetten-Café. Betrachtete die misslungenen Menschen um sich, aus dem Orient oder Favoriten mit einem One-Way-Ticket angeschwemmt. Wie erbärmlich es wäre, hier zu enden. Dann schon lieber Kärntner, Ecke Ring … Nach dem ersten Mal war er angewidert weggerannt, durch die Opernpassage in Richtung Karlsplatz. Der Geruch von Sperma, Putzmittel und Zigaretten hatte ihm die Nase verätzt, die Lunge, den ganzen mageren Körper. Während er sich durch einen schummrigen Tunnel voller zerstörter, stumpfsinnig dahinschlurfender Arschlöcher gekämpft hatte, in deren vertrottelte Visagen er schlagen, deren kaputte Gehirne er zertrümmern hätte wollen. War weitergelaufen, in einem Stück bis zur Karlskirche, erst dort stehen geblieben, außer Atem, voller Ekel, bei Temperaturen weit unter null. Hätte sich am liebsten die Kleider vom Leib gerissen, nackt im Schnee gewälzt, vor einem Gott, den er nicht kannte, der ihn nicht kannte, er war ja nicht einmal getauft. Hatte dann die Hand in die Jackentasche gesteckt, das Geld betastet, zudem etwas anderes, er hatte es herausgezogen, eine alte Ansichtskarte mit einer Schwarz-Weiß-Aufnahme des Stephansdoms. Hatte sie nach kurzem Zögern zerknüllt, wieder eingesteckt, war noch stundenlang durch die Gegend geirrt, in der schwachsinnigen Hoffnung, Marie würde um die nächste Ecke biegen und ihn in den Arm nehmen. Später zuhause, der Einbeinige war zum Glück nicht da, hatte er geduscht, bis das eiskalte Wasser auf seiner Haut gebrannt hatte, bis er überzeugt gewesen war, wieder sauber zu sein, den alten Mann nicht mehr zu riechen, seinen Speichel losgeworden. In der Nacht hatte er dennoch nicht schlafen können, Kiffen und Trinken hatten nichts genutzt, sobald er die Augen geschlossen hatte, war er wieder dort gewesen, Opera Toilet Vienna, was für ein alberner Name. Und sein Schwanz war wieder von dünnen Lippen in einem faltigen Gesicht aufgesaugt worden, knochige Finger hatten sich wieder in seinen Hintern gegraben, er hatte sich wieder nicht beherrschen können. Er war dem Alten mit den Händen durchs Haar gefahren, zärtlich, diese Erinnerung hatte ihn die ganze Nacht gequält, beschämt, wieso hatte er überhaupt eine Erektion gehabt? Noch mehr kiffen und trinken, vergebens. Irgendwann, fast schon im Morgengrauen, hatte er die zerknüllte Ansichtskarte hervorgeholt, sie geglättet, das Foto vom Stephansdom mit einem Kribbeln im Bauch betrachtet. Am nächsten Samstag würde er wieder dort sein. Kärntner, Ecke Ring, seinen Job erledigen, vielleicht dem Alten wieder durchs Haar fahren. Wenn er ein Würgen spürte, würde er es wieder unterdrücken.

Sein Handy vibrierte. Einen richtigen Job suchen, wie es ihm der Einbeinige ständig riet, warum nicht? Aber vielleicht müsste er das gar nicht. Vielleicht ließe sich das Ganze wieder eindämmen. Bilinski allein wäre doch okay. Er könnte mehr verlangen. Damit sich das Restliche erübrigen würde: ›16 Uhr. 2 Stunden. Parkgasse. Er hatte die Ansichtskarte in der U-Bahn liegen gelassen und dachte daran, Forderungen zu stellen? Er war so ein widerliches Arschloch. Rannte aufs Klo und steckte sich den Finger in den Mund.

 

 

 

 

5

 

 

Und was machten Sie, verehrter Bilinski, zu Beginn jener letzten Woche Ihres alten Lebens? Waren Sie in Gedanken bei Frau Tamara und dem bevorstehenden Rendezvous; oder beschäftigte Sie Norbert Bauer und dessen unversehrter Körper? Fragten Sie sich, ob und wie diese beiden Fronten miteinander in Einklang zu bringen wären? Oder überlegten Sie, von welcher der beiden sie sich zurückziehen müssten, um in der anderen den Durchbruch zu erzielen? Natürlich nicht. Sie waren weiß Gott mit Größerem beschäftigt als mit banalen Romanzen und kindischen Trieben, den Niederungen menschlicher Emotionen.

Zum Beispiel stand der letzte Besuch bei Meister Walter an. Nach einem Bad und einer gründlichen Rasur kleideten Sie sich am Dienstagmorgen in Hose, Hemd und Gilet. Sie setzten sich eine Baskenmütze auf, schlüpften in Mokassins, nahmen Ihren im Le Bon Marché in Paris erworbenen Gehstock aus Makassar-Ebenholz. So begaben Sie sich mit der Straßenbahn zum Schottentor, spazierten zur Bellaria, tauchten in die Hofburg ein. Standen eine Weile vor dem Denkmal für Kaiser Franz I., verewigt als antiker Caesar. Lasen im Antlitz des Antagonisten Napoleons Zustimmung und Ermutigung, ein Hochgefühl empfindend, das auch am Michaelerplatz nicht abebbte. Die Ausgrabungen aus der Römerzeit verdeutlichten das biblische Alter Wiens, das Café Griensteidl erinnerte an das glorreiche Fin de Siécle, das Loos-Haus mahnte, Ziele auch dann nicht aufzugeben, wenn Sie auf den Widerstand ignoranter Zeitgenossen stießen.

Durch eine Pforte gelangten Sie in einen kleinen Innenhof. Blumentröge an den Fenstern. Die lärmenden Menschenmassen wirkten in weiter Ferne. Das Gurren einer einsamen Taube. Ein an die Wand gelehntes Waffenrad. Nahe den teuersten Straßen der Stadt, in den Fängen anonymer Investoren oder Parvenüs aus der Provinz, gab es hier noch kleine, unverwechselbare Geschäfte, die bereits in dritter oder vierter Generation existierten, für Knöpfe aller Art etwa, einen Schuhmacher oder ein auf Lexika spezialisiertes Antiquariat. Manche wurden in Stadtführern als Beispiele für die ›schwindende Unverwechselbarkeit des Handels in Wien‹ gepriesen, eine zweifelhafte Ehre, die Meister Walters Modelleisenbahngeschäft nicht zuteilwurde. Kein Wunder, es schien seit Jahren leer zu stehen. Wenngleich kein Schild mit Hinweis auf ›Ruhestand‹ oder ›Insolvenz‹ diesen Eindruck bestätigte, im Gegenteil: Eine Messingtafel schilderte Öffnungszeiten aus. Im Schaufenster jedoch war vor dunkelgrünem Vorhang lediglich ein Siebdruck mit einer Darstellung des alten Wiener Nordbahnhofs zu sehen.

Dabei befand sich Meister Walter am Höhepunkt seines Schaffens. Aber das konnte niemand außer Ihnen wissen. Seit zehn Jahren waren Sie sein einziger Kunde – eine Ihrer zu Beginn gestellten Bedingungen. Und gewiss würden Sie sein letzter sein. Ihr Auftrag habe ihn ausgezehrt, wie er unlängst bemerkte, er sehne sich nach Ruhe. Seine Hände verdienten nach jahrzehntelanger Arbeit noch ein paar Jahre der Rast.

Zum letzten Mal saßen Sie in seiner ›Kapelle‹, einem von Dutzenden Kerzen beleuchteten Kellergewölbe unterhalb des alten Geschäftslokals. Sie lauschten einem Klavierkonzert von Grieg, nippten an einem Glas Roten Burgunder, ließen Ihren Blick über die Fotografien an den Wänden schweifen: Historische Aufnahmen von längst verschwundenen oder mittlerweile entstellten Bahnhöfen waren da zu sehen, der Grand Central Terminal in New York, der Pariser Gare de l’Est, der Hauptbahnhof von Leipzig oder der Sirkeci Gari in Istanbul – Kathedralen des Reisens aus Eisen und Stahl aus einer Epoche, in der das Aufbrechen, das Ankommen und vor allem das Warten noch wie ein Hochamt zelebriert wurden.

Meister Walter stopfte seine Bruyèrepfeife. Im Flackern des Kerzenlichts wirkte der auf die Wand geworfene Schatten seines Profils wie eine Gloriole, mit seinem dichten, weißgelockten Haar, dem seherischen Blick, der Adlernase, den vollen Lippen und dem spitzen Kinn erschien er Ihnen wie ein Philosoph der Antike. Sie erinnerten sich gern an Ihre erste Begegnung im Historischen Museum. Dort hatte eine Spezialausstellung zur Geschichte der Bahnhöfe Wiens stattgefunden, in deren Fokus die prunkvollen Anlagen aus der Gründerzeit standen, nach 1945 demoliert und durch glanzlose Zweckbauten ersetzt. Unsinnigerweise konnten Sie sich der Ausstellung nicht entziehen, obwohl Sie ahnten, in welche Gefühlsgräben sie sich dadurch zu manövrieren drohten. Von klein auf hatten Sie in Wien das Verschwundene vermisst und das Neue verabscheut.

Was Wunder, wenn Sie mit jedem Schritt durch das Museum bedrückter wurden. Unverständlich, wie andere Besucher hier vergnügt herumflanieren konnten. Dass man sich nicht an den Händen hielt, einander stützte, die Schultern zum Ausweinen anbot. Vor einem Bild, das den alten Nordbahnhof mit dem Praterstern im Vordergrund zeigte, kullerten ein paar alberne Tränen über Ihre Wangen.

»Ist es nicht ein Jammer?« Sie hörten eine gegerbte Stimme, spürten eine Hand auf Ihrer Schulter. Zuckten zusammen. Starrten den zudringlichen Mann neben sich an. Er erwiderte Ihren Blick. Was für ein Rauschen in Ihrem Kopf! Sie erkannten sofort, wie es ihn quälte, es war dieselbe Qual, die Ihnen den Schlaf raubte. »Man möchte weinen …«

Ihnen versagte die Stimme. Das Glänzen in den Augen des Mannes. Seine Hand massierte Ihre Schultern. Sie neigten den Kopf zur Seite, schielten zum Bild des Nordbahnhofs, dem Sie sich, den Praterstern querend, auf Viadukten in einem Salonwagen näherten. Von einem langgezogenen Signal begleitet, fuhren Sie in die Halle ein, traten auf den Bahnsteig, sahen Meister Walter, der Ihnen zuwinkte, einen Mouton Rothschild in der Hand. Sie näherten sich ihm, ein knappes Wort der Begrüßung, Sie streckten ihm die Hand entgegen, dann fielen Sie einander in die Arme. Drückten einander, die Weinflasche zerschellte, und als seine Hände Ihren Rücken streichelten, brachen Sie in Tränen aus.

Erst, als Sie das Historische Museum verließen, hatten Sie sich wieder halbwegs gefasst. Sie blickten auf den Karlsplatz und empfanden ihn als … schön. Sie breiteten die Arme aus und atmeten tief ein.

»Haben Sie noch Zeit?«, fragte Meister Walter. »Vielleicht möchten Sie mich begleiten? Ich würde Ihnen gerne etwas zeigen. Mein, nun ja, privates Vergnügen.«

Sie betraten zum ersten Mal das Modelleisenbahngeschäft: Lokomotiven, Stationshäuschen, Verschiebebahnhöfe, und über allem der Geruch von süßem Pfeifenrauch. Der Meister aber schubste Sie in das Atelier dahinter. Dort staunten Sie über eine detailgetreue Nachbildung des alten Nordbahnhofs. Wieder kämpften Sie mit den Tränen. Seit Ihrer Kündigung bei der Arbeiterzeitung war Ihnen das nicht mehr passiert.

»Was sagen Sie? Gefällt er Ihnen? Das ist erst der Anfang. Ich will sie alle bauen, alle alten Bahnhöfe unserer Stadt. Gleich morgen will ich mit dem Südbahnhof beginnen. Finden Sie das sonderbar?«

Mein Gott, wie Ihr Herz raste, frisches Blut in Ihren Körper pumpte! Sie schauten auf Ihre Hände … Sie wirkten plötzlich so glatt, so rein, so … schön. Wie es wäre, mit eigenen Händen … Sie beneideten Meister Walter um seine Fähigkeit. Seine Tatkraft. Seinen starken Geist. Nur ein starker Geist durchdringt den trägen Leib. Er hatte die Welt verändert. Dass Sie ihm begegnet waren! Es konnte unmöglich folgenlos bleiben. Hastig leerten Sie Ihr Glas. Der Meister schenkte Ihnen nach. Kaum ahnend, wie bewegt Sie waren, welche Weichen gestellt wurden. Oder doch?

»Ich werde sie wieder aufbauen!«

Er kniff die Augen zusammen. »Was meinen Sie?«

»Die Stadt! Wien! Ich werde sie wieder aufbauen! Wir werden sie wieder aufbauen! So, wie sie einst war! Nein, nein, das reicht nicht! Warten Sie! Ja, so, wie sie einst erdacht war! Alles Verschwundene und nie Gebaute! Alles Demolierte und Erträumte. Jedes einzelne Gebäude! Sie soll Wirklichkeit werden! Vienna gloriosa! Es ist mein Ernst! Helfen Sie mir! Ich beknie Sie!«

»Aber wie …«

»Ich habe Platz! Genug Platz! Ich sehe es vor mir. Mein Dachboden. Er ist riesig! Dort soll sie entstehen! Jedes einzelne Gebäude! Meister Walter! Sagen Sie mir: Sie sind doch ein Handwerker alten Schlags! Ein Mann, der einem Gedanken Gestalt geben kann! Ein Genie! Ihre Hände waren in der Lage, dieses Modell zu errichten! Trauen Sie sich das zu? Sie zu bauen? Mit mir? Für mich? Vienna gloriosa!«

»Vienna gloriosa …«

»Ja! Ja! Wir brauchen natürlich Pläne! Und Bilder! Wir müssen genau sein! Wir müssen Entscheidungen treffen! Welche Gebäude bleiben? Welche wollen wir ersetzen? Womit?«

Meister Walter betrachtete sein Nordbahnhofmodell mit stechendem Blick, die Stirn in Falten gelegt. Sie frohlockten. Er war bereits an die Arbeit gegangen.

»Sie sind der erste Mensch seit langem, der mich versteht! Was sagen Sie?«

Der Meister hob sein Glas.

»Vienna gloriosa!«

»Vienna gloriosa! Wir werden sie wieder aufbauen!«

 

Und heute, zehn Jahre später, waren Sie gekommen, um den letzten Baustein Ihrer Stadt entgegenzunehmen: Das von Otto Wagner geplante, jedoch nie errichtete Stadtmuseum am Karlsplatz, in dessen minderwertigem Ersatzbau Sie einander kennengelernt hatten. Vienna gloriosa war vollendet.

»Zehn Jahre! Zehn Jahre! Und davon sind die vergangenen Wochen die schönsten gewesen. Es wäre so ein großartiges Museum geworden! Diese Stadt hat das merkwürdige Talent, sich die wertvollsten Begabungen vom Leib zu halten.«

Wie recht Meister Walter hatte, wie hellsichtig er war! Sie aber würden Wiens Allergie auf jede Form von Genialität nicht akzeptieren, diese Stadt zu ihrem Glück zwingen, ihr zu Leibe rücken. Ihr Traum war zu kostbar, um im Verborgenen zu bleiben, zu mächtig – das war Ihnen im Laufe der Jahre klargeworden. Zunächst als absurder Gedanke, dann als fesselnde Möglichkeit, schließlich als konkretes Vorhaben. Vienna gloriosa – kein Wahn, Wirklichkeit! Jeglicher Zweifel wurde nach und nach begraben unter den Bauwerken, die Sie regelmäßig beim Meister abholten, zuhause einsetzen ließen.

»Wann werden Sie mich beehren? Wann werden Sie unser gemeinsames Werk bewundern?«

Der Meister winkte ab. Er erkannte wohl die Halbherzigkeit Ihres Angebots; wusste, dass Sie Ihre Stadt mit niemandem teilen wollten. Am Sonntag würde auch er begreifen, vielleicht sogar als Einziger. Ihr Fait accompli verstehen. Augenblicklich würde ihm alles klar sein, doch Sie hatten nichts zu befürchten. Sie zweifelten nicht an seiner Loyalität, im Gegenteil: Er würde den Erinnyen, die Sie losschickten, begeistert zujubeln. Ach was, nicht nur er! Alle! Die ganze Stadt, das ganze Land, die Welt; das Universum würde sich vor Ihnen und Ihrer Kühnheit verbeugen!

»Es ist Zeit. Ich werde es holen gehen.«

Bald darauf brachte er eine kleine Holzkiste mit Wagners Museum darin. Der Beginn der Verabschiedung. Ohne Aussicht auf ein nächstes Mal. Ohne Vorfreude auf das kommende Bauwerk.

Sie traten auf den Innenhof. In der Auslage das Bild vom alten Nordbahnhof. Ein kalter Schauer lief Ihnen über den Rücken. Die Augen des Meisters bekamen ihr jugendliches Leuchten zurück.

»Für Wartungsarbeiten stehe ich zur Verfügung.«

»Tun Sie sich doch was Gutes und machen Sie eine Reise! Oder kaufen Sie sich ein Haus in der Provence!«

Der Meister schüttelte den Kopf. »Ich gehöre hierher. In dieser Stadt weiß ich, was ich zu erwarten habe, im Guten wie im Schlechten. Beides bietet sie in Perfektion. Und mit etwas Geschick kann man sich ganz auf das Gute konzentrieren und das Schlechte ignorieren. Ich habe vor, den ersten Bezirk erst im Sarg wieder zu verlassen …«

Den Händedruck vermochten Sie schon nicht mehr zu genießen. Zu bitter war der Gedanke, diese Geste gehöre nun der Vergangenheit an. Langsam, ohne sich noch einmal umzusehen, schritten Sie zum Durchgang. Öffneten das Tor, traten auf den Michaelerplatz, kakophonisches Touristentreiben. Sie warfen einen letzten Blick in den Innenhof, seufzten. Der Meister war verschwunden. Der einzige Freund, den Sie je hatten.

 

 

6

 

 

Zum ersten Mal besuchte Tamara sein Grab. Hatte eine Rose mitgebracht, einen kleinen Engel aus Stein. Las immer wieder die simple Inschrift: ›Francesco Domenico 1962–2012‹. War wie gelähmt, vergoss jedoch keine Träne. Als müsste sie sich dafür rechtfertigen, murmelte sie mehrmals hintereinander einen Satz, von dem sie nicht einmal wusste, ob er stimmte: »Ich bin traurig.«

Aber ja, sie war traurig. Sie hatte traurig zu sein! Er war Norberts Vater gewesen, die Liebe ihres Lebens. Ein Glückslos, das Menschen wie ihr selten zufiel. Und sie? Hatte die Chance vergeigt. Wenn sie nur mehr Zeit gehabt hätten! Wäre sie bloß geduldiger gewesen! Verständnisvoller. Die Flausen hätte sie ihm schon ausgetrieben, wenigstens in vernünftige Bahnen gelenkt. Er war talentiert, das hätte noch was werden können mit seiner internationalen Karriere. So wären sie vielleicht zu einem Haus am Wienerwald gekommen, mit Garten und Pool; bestimmt wäre Norbert bei ihnen geblieben. Er hätte Gitarre spielen dürfen, als er das wollte, und sie selber – hätte ganz anders reagiert. Sich gefreut. Ihr Sohn! Begabt wie sein Vater! Eines Tages wären die zwei gemeinsam auf der Bühne gestanden. Sie hätte backstage das Essen zubereitet. Eine flippige Künstlerfamilie. Sie würde nicht mehr ständig genervte Blicke von blöden Kunden kassieren, sondern Bewunderung. Wie sie strahlte, was für eine gute Figur sie noch hatte, wie Madonna! Kein Wunder, bei dem Mann, dem Sohn! Bei dem aufregenden Leben, das sie führten! Scheiß aufs Haus am Wienerwald, den Garten, den Pool. In einem Wohnwagen würden sie durch die Lande ziehen. Bleiben, wo es ihnen gefiel. Barfuß über Wiesen rennen. Am Abend ein Lagerfeuer, sie würden gemeinsam singen. Hätten Spaß, die ganze Zeit …

Wie kindisch sie war. Sie zündete sich eine Zigarette an. Wie hätte sie sich freuen können? Wieder einen Träumer zuhause. Ständig in Gefahr, abzudriften. Einen, der meinte, das Leben sei ein Wunschkonzert. Reich und berühmt werden wollen, und wenn es nicht klappte, auch egal. Als wäre er aus einer Ärztefamilie! Dort konnte man sich Flausen leisten, scheitern, auf die Realität pfeifen, aufs echte Leben. Leute wie sie konnten das nicht. Nichts anderes hatte sie Norbert beibringen wollen. War das so verkehrt gewesen?

Sie dachte an das letzte Mal, als sie Francesco gesehen hatte. Als er neu durchstarten wollte, sperrige Musik machte, keine Massen mehr anlockte. Ausgerechnet sie war zu einem Konzert von ihm gegangen, ja sie, das Tschapperl, das von guter Musik nicht viel verstand, sich nur Schrott aus den Hitparaden reinzog.

Über vier Jahre war das her. Sie war in aller Früh