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Gernot Rabl

Über Regenwürmer

Roman

© 2016 Gernot Rabl

Umschlagfoto/Bearbeitung: Susanne Rabl

Verlag: Morawa Lesezirkel GmbH, Wien

ISBN

978-3-99057-412-6 (Paperback)

978-3-99057-413-3 (Hardcover)

978-3-99057-414-0 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

I.

Wohin hatten ihn seine konventionellen Wege gebracht, wohin sein Sicherheitsdenken geführt? War er lediglich ein Opfer, der andere über sein Leben entscheiden ließ? Wusste er selbst nicht am besten, was ihm guttat, was ihm Freude bereitete? Warum nur hatte er so lange dabei zugesehen, wie er in Wege gedrängt wurde, die einfach nicht seinem Naturell entsprachen – so rein gar nichts mit ihm und seinen Bedürfnissen zu tun hatten? Jetzt stand Daniel völlig verloren auf einer ihm unbekannten Straße, ohne zu wissen, wie seine weiteren Schritte aussehen sollten. „Wo bin ich hier bloß gelandet?“, dachte er gequält bei sich, während er seinen stets zu groß und schief gebundenen Krawattenknopf langsam lockerte, sich des dunkelgrauen Jacketts entledigte und gedankenverloren auf einem Randstein Platz nahm. Auf Grund des frühen Vormittages, Daniels zusammengekauerter Körperhaltung, den wirren, zu Berge stehenden Haaren sowie einem weinerlichen Blick, vermittelte er für Außenstehende den Eindruck vollkommen betrunken zu sein. Doch ganz im Gegenteil: Er war noch nie zuvor so klar bei Verstand gewesen wie jetzt, in dieser Sekunde, auf dieser Straße! Vor noch nicht einmal zehn Minuten hatte er gekündigt und sich somit mit einem Schlag von einer unglücklich machenden Arbeit, als auch von unerträglichen Kollegen befreit. Folgsam war Daniel – so wie sich dies eben in den Augen einer gutbürgerlichen Gesellschaft gehört – direkt nach der Schule und einer kurzen Ausbildung in ein Inkassobüro eingetreten, wo er allerdings sehr rasch mit der Brutalität des täglichen Überlebenskampfes konfrontiert wurde. Als jungen Mann zerrissen ihn die unterschiedlichen Schicksale seelisch, quälten ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit, aber je länger er dieser Tätigkeit nachging, desto abgestumpfter sollte er gegenüber seinen Mitmenschen werden. Viele hatten ihr Schicksal schlichtweg verdient, waren sie doch häufig aus reiner Dummheit, Boshaftigkeit, Gier oder grenzenloser Faulheit in außer Kontrolle geratene Lebensumstände geschliddert. Aber Daniels letzter Fall ließ diesen Schluss einfach nicht mehr zu – er hatte ihn verändert, nachdenklicher und letztlich unendlich traurig gemacht. „Leben – ich will endlich raus aus diesem Leben“, knurrte er jetzt durch seine zusammengebissenen Zähne, „diesem täglichen Horror aus Beanstandungen, Wichtigtuerei, Abmahnungen und Strafen. Jeder Tag ist nur von Misstrauen, Feindseligkeit und blankem Hass bestimmt – ich will das alles nicht mehr!“ Immer heftiger fuhr sich Daniel durch die Haare, bis er mit seinen zu Fäusten geballten Händen auf den eigenen Kopf einzuschlagen begann. Am liebsten hätte er laut geschrien, seinen Zorn an einem Unschuldigen ausgelebt, nur um sich selbst dadurch besser zu fühlen und endlich von dieser unterdrückten Wut wegzukommen. Etwas Verrücktes tun, weder vernünftig noch gefällig sein. Ohne sich viel zu überlegen, stülpte er sodann – wie in einem Anflug von Wahnsinn – seine Hosenbeine exakt bis über die Knie hinauf und zog sich die penibel geputzten, schwarzen Lackschuhe sowie die aus feinem Zwirn gewebten Socken aus. In der einen Hand sein Jackett, in der anderen seine – mit hineingestopften Socken – Schuhe tragend, balancierte Daniel in der Folge bloßfüßig den Randsteinen entlang. Die Steine waren kalt, rau, manche gefährlich scharfkantig, aber davon ungerührt, setzte er seinen artistisch anmutenden Gang einfach fort. Wie ein kleines Kind erfreute er sich an der Beschaffenheit des Bodens, welchen er nun mit seinen Füßen ertastete. Ein Gefühl des Loslassens, der Freiheit, des Alles-wird-gut erfasste ihn und ließ eine gewisse Form der Leichtigkeit aufkommen. „Ich erde mich gerade“, erklärte er schließlich einem korpulenten Passanten schallend lachend, welcher auf Anstand und Ordnung bedacht, nicht aufhören konnte demonstrativ den Kopf zu schütteln. Auf Grund der abschüssigen Straße geriet Daniels Balanceakt jedoch allmählich außer Kontrolle, bis er, wie nicht anders zu erwarten war, seitlich an einen der Steine abrutschte und mit seinem Gesäß hart auf dem Asphalt landete. Daniel fürchtete bereits das Versagen seines Schließmuskels, aber sowie der erste Schmerz der unsanften Landung überwunden war, richtete er sich unter erneutem Gelächter wieder auf. „Wenn mich jetzt meine selbstgerechten, Gott spielenden Kollegen sehen könnten“, wischte er sich schmunzelnd den Straßenstaub von seiner Hose. Im Anschluss setzte er seinen unverändert bloßfüßiggeerdeten Gang fort, wobei sich wiederholt spitze Kieselsteine in die Fußsohlen bohrten. Doch davon unberührt, wie auch von den irritierten Blicken der ihm entgegenkommenden Menschen, ging Daniel einfach weiter und hing dabei erneut seinen Gedanken nach. Wie hatte es nur so weit kommen können? Wann hatte er seine Menschlichkeit, sein Mitgefühl, seine Nächstenliebe verloren? Wann hatte dieses „Knacken“ in seinem Kopf stattgefunden, wo und auf welche Weise? Seine Kollegen liebten es andere zurechtzuweisen, Vorhaltungen zu machen, zu ermahnen, kontrollieren, strafen und eine sogenannte Gerechtigkeit walten zu lassen: Schulden machen, auf großem Fuß leben, nicht an morgen oder übermorgen denken und dabei auch noch den Kopf in den Sand stecken – nein, Mitleid war hier mit Sicherheit nicht angebracht. Das Recht war auf ihrer Seite, sorgte für ein ruhiges Gewissen, deckte alles Menschliche zu. Aber Daniel gefiel sich in dieser Rolle plötzlich nicht mehr, Gerechtigkeit hin oder her. Denn diese verstörte junge Frau zu sehen, hatte ihn anfänglich nur unbewusst, später jedoch einschneidend verändert. „Ich muss aufräumen, aufräumen in meinem eigenen Leben. Am besten gleich und nicht erst nächste Woche, nächsten Monat oder gar erst nächstes Jahr.“

Als Kind war Daniel furchtbar sensibel gewesen. Schiefe Blicke von Fremden verstörten ihn maßlos, ließen ihn häufig tagelang nicht mehr außer Haus gehen. Auf der anderen Seite weckten aber selbst erfahrene oder an anderen begangene Ungerechtigkeiten seinen kindlichen Zorn. Sein Gerechtigkeitssinn ging dabei so weit, dass er – im Gegensatz zu seiner eigentlichen Natur – wild um sich schrie und sogar den Einsatz seiner Fäuste nicht scheute. „Der Bub wird einmal ein Polizist, Richter oder gar Staatsanwalt“, erklärte sein Vater bei derartigen Vorfällen zumeist voller Stolz. Aber ganz gleich wie aufgebracht Daniel auch immer gewesen sein mochte, am Ende siegte doch stets seine Sanftheit, seine Sensibilität. Hinterher tat ihm immer alles schrecklich leid und nicht selten stellte er sich daher die Frage, ob der eigentliche Fehler nicht ohnehin bei ihm gelegen hatte.

Für die Welt des kleinen Daniels waren seine Eltern, der jüngere Bruder, die Großeltern seiner Mutter sowie der Nachbarsjunge Fred vollkommen ausreichend. Niemand sonst hatte Zutritt zu seiner Welt, mit Ausnahme der geliebten Tiere. Er konnte sich für jedwede tierische Lebensform begeistern, egal ob kriechend, krabbelnd, gehend, schwimmend oder fliegend. Hauptsache Tiere! In jedem Tier lag seiner Meinung nach eine unbeschreibliche Schönheit, wobei es keine Rolle spielte, ob es sich dabei um eine schleimige Kröte, eine behaarte Spinne, einen anmutigen Hengst oder majestätischen Löwen handelte – Daniel lag das Wohl aller Tiere am Herzen. So machte er sich etwa nach besonders intensiven Regenfällen stets daran, seine groß angelegte Rettungsaktion für Regenwürmer zu starten. Akribisch suchte er dabei, um diesen wunderbaren Geschöpfen beizustehen, sämtliche Straßen und Gehsteige nach ihnen ab. Am Asphalt gänzlich verloren, befreite er sie sodann umgehend aus ihrer misslichen und ausschichtlosen Lage, indem er sie mit kleinen weichen Zweigen wieder zurück in die lebensrettende Wiese hievte. Geduldig widmete er sich jedem Einzelnen, auch wenn sie ihm seine Rettungsaktionen aufgrund heftig-windender Bewegungen häufig erschwerten.

„Unbekümmert“, sinnierte Daniel komplett im Gedanken versunken, „wann war ich das letzte Mal unbekümmert wie ein Kind?“ Auch wenn die Kälte des Asphalts beziehungsweise die eine oder andere leichte Blessur an seinen Sohlen bereits empfindlich schmerzte, scheute er sich jetzt dennoch davor nach Hause zu gehen. Denn zu Hause wartete Klara, die sich über seine so frühe Rückkehr gewiss wundern würde. Seine Kündigung würde sie mit Sicherheit nicht gutheißen, waren ihr doch schon in der Vergangenheit das Gerede ihres Umfeldes stets wichtiger gewesen, als Daniels Seelenheil. Was täten wohl die Leute dazu sagen, ihre Eltern, Freunde, Bekannte und Verwandte? Leistung, arbeiten bis zum Umfallen, sich zwischen Kummer und Sorgen aufreiben – daraus bestand das wahre Leben und nicht aus Träumereien, wie etwa – was für ein schreckliches Wort – Selbstverwirklichung oder dem Streben nach Zufriedenheit. Wo wäre denn die Welt heute, wenn sich jeder nur mehr selbstverwirklicht? Als junger Frau hatte es Klara durchaus gefallen blind vor Liebe in den Tag hineinzuleben, doch jetzt mussten Rechnungen bezahlt, Banken und Versicherungen zufriedengestellt werden. Die Gesellschaft bestimmte die Regeln und Klara folgte diesen nur allzu gerne. Es kam ihrem strukturierten Wesen, welches aus Ordnung und Perfektionismus bestand, sehr entgegen, half ihr sich zu positionieren und Teil des Ganzen zu werden. Klara war scharfsinnig, leidenschaftlich, mitunter ein wenig zynisch, hart zu sich sowie anderen gegenüber. Sie wusste ganz genau was sie wollte und vor allem wie sie es erlangen konnte. Als Daniel sie vor mittlerweile über zehn Jahren kennengelernt hatte, war er von Klaras Stärke ungemein fasziniert gewesen. Er wollte so sein wie sie, versprach er sich doch von ihren Eigenschaften ein einfacheres, weniger von Grübeleien bestimmtes Leben. Alles auf den Punkt bringen, zum richtigen Zeitpunkt das Richtige sagen, sich nie mehr den Kopf über versäumte Gelegenheiten zerbrechen müssen. Klarheit und Konformität – dachte er – wäre auf lange Sicht gesehen bestimmt die bessere Formel für ein glückliches Dasein. Wenn er bloß annähernd Klaras Härte besäße! Härte zeigen und beweisen, brächte nicht nur Anerkennung und Bewunderung, sondern wäre gewiss auch ein hervorragender Selbstschutz. Irgendwann sollte sich Daniel dann tatsächlich erfolgreich verbogen haben, ein Umstand, der allerdings nicht ausschließlich auf Klara zurückzuführen gewesen war. Doch jetzt, ganz plötzlich, funktionierte diese Wesensänderung nicht mehr, drangen bereits lang verloren geglaubte Eigenschaften erneut an die Oberfläche.

Klara tat ihm einfach nicht gut – Daniel wusste dies schon seit langem, scheute aber dennoch jedwede Form der Veränderung. Er hatte Angst davor alleine zu sein, sein Leben ohne die Unterstützung von Klara bestreiten zu müssen. Überdies fühlte er sich mit Mitte vierzig erstaunlicherweise zu alt dazu, um nochmals die Gunst irgendeiner Frau zu erlangen. Alleine die Vorstellung daran, jemandem sein Interesse bekunden zu müssen, kam ihm schon unglaublich albern vor – da war es doch wesentlich einfacher bei Klara zu bleiben und ihr Wesen zu akzeptieren. Im Gegensatz zu Daniel hatte sich Klara aber in all den Jahren kaum verändert: Im Grunde war sie nach wie vor so, wie er sie kurz nach Beginn ihrer Beziehung kennengelernt hatte. Klara hatte ihm zu keinem Zeitpunkt irgendetwas vorgemacht oder vorgegeben irgendjemand anderes zu sein. Aber während des mit nackten Füßen zurückgelegten Weges wurde Daniel nun zum ersten Mal so richtig bewusst, wie viel Kraft, Substanz, als auch Lebensfreude sie ihm eigentlich kostete. Für ihre ursprünglich bewunderte Härte hatte er jetzt nur noch Verachtung, für ihre gesellschaftskonformen Regeln lediglich Hohn und Spott über. Er wollte sich keinen weiteren Tag mehr verstellen, ewig ihren Ansichten folgen, einen lächerlichen Schein bewahren. Zudem stellte sich die Frage, worin denn Klaras vermeintliche Unterstützung eigentlich lag, die Daniel zu verlieren befürchtete? Im Grunde lebten beide in Parallelwelten, redeten keine fünf Minuten am Tag mehr miteinander oder erfreuten sich an irgendwelchen gemeinsamen Aktivitäten. In den letzten Wochen hatte Daniel freilich mehrmals versucht gehabt Klara von seinem Kummer zu berichten: Seine Arbeit quäle ihn, die Sinnhaftigkeit dieser Tätigkeit, seine Kollegen, diese unterschiedlichen, oft tragischen Schicksale. Aber Klaras Problembewältigung bestand darin, seine besorgten Schilderungen mit einem schiefen Lächeln abzutun und darauf hinzuweisen, dass es heutzutage nirgends einfach wäre. Obendrein wären seine Klienten selbst schuld an ihrer Misere, Mitleid somit in keiner Weise angebracht. Derartige Unterhaltungen endeten daher zumeist sehr rasch und ließen Daniel abermals mit seinen Gedanken alleine zurück. Seit Monaten konnte er mittlerweile schon nicht mehr richtig schlafen; jede Nacht wälzte er sich hin und her, starrte hellwach an die Zimmerdecke. Gelang es ihm dennoch einmal für einige wenige Stunden Schlaf zu finden, wachte er danach zumeist wieder schweißgebadet auf. Aber selbst in diesem durchnässten Zustand verließ er sein Bett nicht, da ihn der Beginn des nächsten Tages noch wesentlich mehr ängstigte. Was war nur passiert? Woher kamen plötzlich all diese schwarzen, dunklen Grübeleien? Er hatte sich seine Welt doch bereits recht wohnlich eingerichtet gehabt, also warum geriet jetzt alles aus den Fugen? Ausgelöst durch diesen einen Fall setzte bei Daniel eine Veränderung ein, die ihn unbewusst in seine alten, kindlichen Verhaltensmuster zurückdrängen sollte – auf Dauer konnte es freilich nicht gutgehen, ließ sich die wahre Natur eines Menschen nicht verleugnen. Wie Klara zu denken und zu handeln, hatte sein Leben bestimmt erleichtert, war auf der anderen Seite aber mit zahlreichen Verrenkungen und Kompromissen verbunden gewesen. Es passte zu ihr, aber es passte nicht mehr zu ihm.

Tief im Gedanken versunken, tat sich vor Daniel auf einmal jener prächtige Stadtpark auf, welchen er bereits als Kind häufig aufgesucht hatte. Die satten grünen Wiesen luden zum Verweilen ein, weshalb er ohne zu zögern, den harten Asphalt gegen den weichen Erdboden des Parks austauschte. Verborgen hinter einem mächtigen Stamm einer Kastanie legte er sich in das saftige Gras und starrte durch verschlungene Äste und lichtdurchflutete Blätter in einen tiefblauen, scheinbar grenzenlosen Himmel hinauf. Zusätzlich vom Gesang der Vögel beseelt, begann sich in seinem gesamten Körper eine seit langem nicht mehr gekannte Zufriedenheit auszubreiten. Konnte es tatsächlich sein, dass bereits nach so kurzer Zeit, nachdem er seine Kündigung ausgesprochen hatte, diese innere Gelöstheit ausgebrochen war? „Der erste Schritt ist getan“, lächelte er daher still vor sich hin, „und weitere werden folgen.“ Augenblicklich machte sich Daniel keinerlei Gedanken mehr über seine Zukunft, das Gerede der ehemaligen Kollegen oder gar über die heuchlerischbesorgten Ansichten seiner falschen Freunde – er genoss lediglich die Ruhe, die Friedlichkeit dieses wunderbaren Vormittages. „Ich werde mich von allem trennen, was mir nicht guttut – konsequent, egoistisch, ausnahmslos, jetzt und sofort“, fasste er folglich einen Entschluss, dabei die vom Straßenstaub arg verschmutzten Fußsohlen im Gras reibend. Daniel wollte ein neues, gänzlich anderes Leben beginnen und vertraute nun einfach darauf, dass es ein gutes werden würde.

In der Zwischenzeit war es bereits Mittag geworden, hatte Daniel demzufolge mehrere Stunden unter diesem Baum verbracht gehabt. Mittlerweile bevölkerten die unterschiedlichsten Menschen den Park, doch zwischen all den spielenden Kindern, in äußersten Winkeln versteckten, sich zärtlich-liebenden Pärchen, auf Bänken aufgeregt schwätzenden Studenten und ziellos herumspazierenden Senioren fiel er nicht weiter auf, sondern stellte lediglich einen Teil des allgemeinen Treibens dar. „Herrlich ist der Park zu dieser Uhrzeit“, atmete er tief durch, „ich habe keine Ahnung, wann ich das letzte Mal da gewesen bin? Was versäumt man nicht alles in stinkenden Büros, neben unerträglichen, sich als den Mittelpunkt der Welt betrachtenden Menschen – ausschließlich hier spielt sich das Leben ab, hier im Sonnenschein, geborgen in der Natur und bloßfüßig.“ Aber Daniel konnte sich natürlich nicht ewig, auch wenn dies freilich seinem eigentlichen Wunsch entsprochen hätte, im Schatten dieser Kastanie verkriechen. Er war nicht alleine auf der Welt, wartete doch zu Hause unverändert Klara. Sie wusste weder über seine Kündigung Bescheid, noch darüber, dass er im Schutze dieses Baumes bereits die nächste Entscheidung getroffen hatte.

II.

„Wo kommst du so plötzlich her?“, fragte ihn Klara völlig erstaunt. „Solltest du jetzt nicht bei dieser seltsamen Frau sein, sie pfänden oder was auch immer?“ Irritiert sah sie Daniel an, bis ihr seine hochgezogenen Hosenbeine auffielen – „Bist du schon vollkommen verrückt geworden? Was ist bloß mit dir los?“ Ohne ein Wort zu sagen, ließ Daniel die in der Hand getragenen Schuhe fallen, warf sein Jackett über eine Sessellehne und ging anschließend ins Badezimmer. Aufgebracht folgte ihm Klara. Während er seine schmutzigen Füße unter der Dusche zu reinigen versuchte, sah sie ihn entrüstet von der Seite aus an und wiederholte dabei ihre Frage: „Würdest du mir bitte endlich sagen, was mit dir los ist?“ „Ich habe heute in der Früh gekündigt“, erklärte er knapp, bedächtig sich seinen Füßen widmend. Klara hatte es schon immer gewusst, mit diesem Mann würde sie niemals einen Krieg gewinnen: Er war unfähig Verantwortung zu übernehmen, sich Problemen zu stellen, ließ sich ohne einen Funken Eigeninitiative immer nur treiben – so weit sie ihn schob, so weit hatte sie ihn! In ihren Augen war er nach wie vor ein Kind, im Grunde ihr Kind, welches sie zu bemuttern hatte. Sicherlich, in den letzten Jahren hatte er sich – was rein ihr Verdienst gewesen war – zu seinem Vorteil entwickelt, trat selbstsicherer auf und ging wesentlich vehementer gegen seine Klienten vor; so wurden etwa Ausreden nicht mehr länger akzeptiert, stattdessen Verbindlichkeiten gnadenlos eingetrieben. Klara gefiel dies sehr, da sie unangebrachtes Mitleid ausschließlich mit Schwäche verband. Auch wenn ihr Daniels Arbeit zuweilen zu minder war, verdiente er wenigstens sein eigenes Geld und leistete damit einen Beitrag im gemeinsamen Haushalt. Aber jetzt, wo sollte er jetzt arbeiten? Er verfügte über keine ernsthafte Ausbildung, war Mitte vierzig und zudem – wie dies ihre Mutter schon immer gewusst hatte – unglaublich faul. Vom Intellekt her, so Klaras Überzeugung, war ihr Daniel ohnehin unterlegen, schließlich hatte sie studiert und arbeitete von zu Hause aus als Übersetzerin. Unter ihren Kunden waren die größten Konzerne, die besten Firmen, die angesehensten Unternehmen. Wie also hätte Daniel dabei mit seiner Arbeit mithalten sollen – er verkehrte mit dem Abschaum der Menschheit, sie mit der Elite. „Wenn du glaubst, dass ich nun für uns beide sorgen werde, hast du dich aber getäuscht“, fuhr es nun kämpferisch aus Klara heraus: „Entweder nimmst du augenblicklich deine Kündigung zurück oder du suchst dir auf der Stelle eine neue Arbeit. Ich lasse dich sicherlich nicht umsonst hier bei mir wohnen!“ Die Gründe seiner Kündigung interessierten Klara natürlich in keiner Weise, da diese gewiss unbedeutend waren. Nein, er war einfach faul und unwillig – wie konnte sie sich nur dermaßen getäuscht haben?

Als Daniel vor ungefähr neun Jahren bei Klara eingezogen war, bestand ihre Beziehung noch aus einer gegenseitigen, tiefempfundenen Liebe. So schienen beide erst durch die Verschränkung ihrer entgegengesetzten Eigenschaften komplett geworden zu sein: Daniel war eher ruhig, leise, nachdenklich, verschlossen, während Klara selbstsicher, laut, offen und kompromisslos war. Sie ergänzten, bedingten und genügten einander auf ganz wunderbare Weise. Doch mit Aufkommen des Alltages und Ende der anfänglichen, über alles hinwegtäuschenden Verliebtheit sollten auch schon die ersten dunklen Wolken am einst strahlenden Himmel aufziehen. Daniel bemühte sich zwar redlich den Ansprüchen von Klara zu genügen, sich ihrer – auch seinetwillen – Charaktereigenschaften zu bedienen, doch tief in seinem Innersten wusste er stets um die Unmöglichkeit dieses Unterfangens. Er konnte sich nicht ewig verbiegen, gegen seine eigenen Empfindungen ankämpfen. Umgekehrt stieß es Klara, welche früher von diesem – wie sie zu sagen pflegte – „weichen Mann“ fasziniert gewesen war, äußerst unangenehm auf, wenn er wieder einmal zögerte oder unsicher wurde. Er war doch ein erwachsener Mensch, also was sollte dieses kindliche Verhalten? Überdies bekrittelte sie, dass sich Daniel, im Gegensatz zu ihr, in all den Jahren kein bisschen weiterentwickelt hatte, sondern völlig ambitionslos stehen geblieben war. Bestimmt, ganz bestimmt sogar, war sie ihm bereits viel zu groß geworden. Im Grunde lebten beide nur mehr nebeneinander, anstatt miteinander. Irgendwann hatten sie einfach jenen Punkt übersehen gehabt, wo noch Hoffnung für ihre Beziehung bestanden hätte. Aber schleichend, vollkommen unbemerkt war der gegenseitige Respekt verloren gegangen, spielten Begriffe wie Liebe, Achtung oder Leidenschaft keine Rolle mehr. Ihr einzig verbindendes Element war die Bequemlichkeit gewesen, welche sie an etwas völlig Irrationalem, Ungesundem hatte festhalten lassen.

„Ich werde weder meine Kündigung zurücknehmen, noch mir eine neue Arbeit suchen“, erklärte Daniel darauf Klara in ruhigen Worten, „– und mach dir keine Sorgen, ich brauche deine Unterstützung nicht. Wie du weißt, habe ich genug gespart, um für die nächsten zwei, drei Jahre problemlos über die Runden zu kommen. Ich muss raus aus diesem tristen Alltag, brauche Abstand und will endlich wieder Freude am Leben haben.“ „Und wie finanziert sich auf Dauer deine Freude am Leben?“, entgegnete Klara süffisant. Innerlich freilich kochte Klara, da sie dieses verantwortungslose Verhalten in keiner Weise nachvollziehen konnte, sie seine demonstrative Gelassenheit rasend machte. Lebensunfähig, lebensfremd, eben ein Kind! „Es soll nicht deine Sorge sein, denn du spielst ab sofort in meinem Leben keine Rolle mehr“, lächelte Daniel sanft in sich hinein, während er seine mittlerweile gesäuberten Füße mit einem Handtuch abtrocknete. „Ich werde dich verlassen Klara. Ich hätte schon viel früher gehen müssen, aber meine Angst vor dem Was-kommtdanach ließ mich immer wieder zögern.“ Es erstaunte Daniel selbst, wie leicht ihm eigentlich diese Sätze über die Lippen kamen – zwar ehrliche, aber in der Sache harte, schonungslos vorgetragene Sätze. Bis zu diesem Moment hatten sie immerhin über zehn gemeinsame Jahre miteinander verbracht und jetzt beendete er alles auf diese abrupte, wenig feinfühlige Art. Gewiss hatte auch Klara schon des Öfteren mit dem Gedanken gespielt gehabt, sich neu zu orientieren und nicht länger an dieser unbefriedigenden, sie unglücklich machenden Beziehung festzuhalten. Aber ihre Angst am Ende alleine zu bleiben und ein Dasein ohne Partner fristen zu müssen, ließ auch sie vor diesem längst überfälligen Schritt immer wieder Abstand nehmen. Obwohl Daniel somit lediglich aussprach, was im Grunde ohnehin beide wollten, erschrak Klara dennoch über seine Aussage, kränkte sie die Art und Weise zutiefst. Wie konnte er nur so herzlos sein? All die Jahre die sie ihm geopfert hatte, sollten verloren, absolut umsonst gewesen sein? Heiraten – sie wollten doch irgendwann einmal heiraten und Kinder bekommen! Was wurde nun daraus? „Ich hör mir diesen Unfug nicht mehr länger an“, erwiderte Klara daher wirsch, drehte am Stand um, warf die Badezimmertür hinter sich zu und ging anschließend wutentbrannt zu ihrem Schreibtisch zurück. Sie konnte, wollte einfach nicht glauben, was ihr Daniel soeben gesagt hatte. Was bildete er sich ein? Wer war er schon! Aber tief in ihrem Innersten begann sich – anfänglich kaum merkbar – eine bis dato unbekannte Verzweiflung zu regen, die ihr allmählich die Luft zum Atmen nahm. Was sollte nur aus ihr werden, wenn er tatsächlich ging? Daniel hingegen fühlte sich befreit, glücklich und ungeheuer erleichtert – endlich hatte er den Mut aufgebracht sich von Klara zu lösen. Niemand konnte ihn jetzt noch stoppen. Schon viel zu lang hatte er zugeschaut und sein unbefriedigendes Dasein stillschweigend akzeptiert gehabt. Keine Sekunde länger wollte er Passagier bleiben, alles als gegeben hinnehmen, ohne auch nur einen einzigen Ausbruch gewagt zu haben. Finanzielle Sicherheit, Altersvorsorge, Pflichtbewusstsein, Rechtschaffenheit – Daniel konnte es nicht mehr hören, er wollte endlich im Hier und Jetzt nach seinen eigenen Bedingungen leben. Seine tägliche Arbeit hatte ihn über ein unerträgliches Maß hinaus abstumpfen lassen, Klara ihn in eine ihm nicht entsprechende Richtung gedrängt, oberflächliche Freunde in allen Belangen blockiert; aber damit war nun endgültig Schluss – auf zu neuen Ufern! Während sich seine Ausbruchsgedanken schon zu regelrechten Kampfansagen in seinem Kopf entwickelten, begann er hastig in einen von Klaras überdimensional großen Koffern Wäsche zu stopfen. Ohne System warf er seine von den unterschiedlichsten Kleiderhaken gelösten Hemden, Hosen, Anzüge hinein, packte seine Schuhe sowie die notwendigsten Waschutensilien obendrauf und verstaute in den Seitenfächern die wichtigsten Dokumente. Das Klara möglicherweise – nur ein paar Türen entfernt – auf weitere Erklärungen von ihm wartete, kam Daniel freilich nicht in den Sinn. Für ihn hatte sich die Sache bereits erledigt, bestand an zusätzlichen Gesprächen schlichtweg kein Bedarf mehr, ganz gleich, ob dieses Verhalten nun unedel, tölpelhaft, kindisch oder idiotisch war. Über all die Jahre hatte sich eine derartige Wut, eine unendliche Verbitterung aufgebaut gehabt, die er einfach nicht mehr unterdrücken wollte – er ertrug Klaras Anblick keinen Tag länger. Zweifellos wusste Daniel um seine Schuld, da auch er diese Beziehung jahrelang mitgestaltet, mitgetragen hatte, aber etwaige Rettungsversuche interessierten ihn jetzt genauso wenig, wie irgendwelche reinigenden Worte. Insgeheim hoffte er sogar, dass Klara in ihrem Arbeitszimmer bleiben würde und er somit ungestört die Wohnung verlassen konnte. Allerdings tat ihm Klara diesen Gefallen nicht, denn im Gegensatz zu Daniel war sie durchaus bereit für diese Beziehung zu kämpfen, begangene Fehler einzugestehen und nach gemeinsamen Lösungen zu suchen.

An den Schreibtisch gelehnt, verfolgte Klara aufgebracht die Geräusche außerhalb ihres Zimmers: Sie vernahm Schritte, das Öffnen und Schließen verschiedener Türen, ein undefinierbares Klopfen, ein beängstigendes Schlagen. Nach einer Weile war es jedoch komplett ruhig geworden, weshalb Klara schon befürchtete, dass Daniel ohne ein Wort des Abschieds gegangen war. Leichte Panik befiel sie; war er tatsächlich fort – nach über zehn gemeinsamen Jahren einfach weg, endgültig raus aus ihrem Leben? Er konnte doch unmöglich auf diese Weise verschwinden, nicht nach dieser langen Zeit! Verunsichert öffnete Klara daher einen Spalt breit die Tür, steckte vorsichtig ihren Kopf hindurch und rief zaghaft nach Daniel. Keine Reaktion. Ihr Herz pochte wie wild, als sie nach einer Weile aus der Tür hinaustrat, langsam den Flur entlangging und erneut nach Daniel rief. „Ich bin hier, im Schlafzimmer“, drang es darauf zu Klaras großer Erleichterung an ihr Ohr. „Was machst du da?“, fragte sie ihn verwundert, als er unter offensichtlich größter Anstrengung eine kleine Kiste aus dem hintersten Eck des Wandschranks zu ziehen versuchte. „Meine Schatzkiste, ich habe nach meiner Schatzkiste gesucht und bin endlich fündig geworden“, hallte es dumpf aus dem Schrank heraus, „– darin ist alles enthalten, was mir einmal wichtig war.“ Nach erfolgreicher Bergung des „Schatzes“ erhob sich Daniel mit hochrotem Kopf und strich liebevoll über die aus schlichtem Holz bestehende Kiste. Klara hatte noch nie zuvor, in all den Jahren des Zusammenlebens, diese Kiste gesehen gehabt. Aufgeregt öffnete Daniel den simplen Klappverschluss, überprüfte grob den Inhalt, lächelte beseelt, um im Anschluss diese lang unbeachtet gebliebenen Kostbarkeiten ebenfalls in den Koffer zu zwängen. „Ich bin jetzt soweit Klara. Alles Gute und mach dir keine Sorgen, bei Gelegenheit bringe ich dir deinen Koffer wieder zurück und nehme auch noch meine restlichen Sachen mit.“ Danach ergriff er den kurz vorm Platzen befindlichen Koffer, schulterte befreit sein Jackett, legte die Wohnungsschlüssel am Bett ab, drängte sich durch die Schlafzimmertür an Klara vorbei und ging. „Das ist aber nicht dein Ernst? Du kannst unmöglich so gehen! Nicht nach dieser langen, gemeinsamen Zeit! Was tust du mir an? Ich habe diese Behandlung nicht verdient – rede endlich mit mir!“, schrie ihm Klara noch fassungslos hinterher, aber Daniel hatte seine Entscheidung bereits getroffen – ein Umkehren war nicht vorgesehen, ein respektvoller, angemessener Abgang absolut bedeutungslos.

III.

Fürs Erste musste dieses Hotelzimmer genügen. Daniel betrachtete die dunklen Vorhänge, welche viel zu lang waren und somit wellenförmig am dunkelgrünen Teppichboden auflagen. Der Raum selbst schien mehr in die Höhe, denn in die Breite zu gehen, weshalb das massive, aus dunkelbraunem Holz gezimmerte Doppelbett nahezu die gesamte Wohnfläche einnahm. An jeder Kopfseite des Bettes stand ein schweres, ebenfalls dunkelbraunes Nachtkästchen mit kleiner Schirmlampe obendrauf. Neben der Eingangstür ragte ein gewaltiger, unglaublich tiefer Wandschrank empor, welcher den Hausrat einer ganzen Kleinfamilie hätte aufnehmen können. An der gegenüberliegenden Seite war zudem ein schräg ins Eck gestellter, schlichter Schreibtisch platziert worden, worauf ein uralter Fernseher ruhte. Gleich daneben befand sich das allem Anschein nach erst vor kurzem renovierte Bad, hatte doch die Helligkeit, Freundlichkeit und Modernität der Einrichtung so rein gar nichts mit dem restlichen Zimmer zu tun. „Für die nächsten drei Wochen bist also du mein neues Zuhause“, war Daniel mit der Wahl seines Hotelzimmers durchaus zufrieden. Eilig ordnete er daher die gesamte Wäsche in den nach altem Holz riechenden Schrank ein, schob den Koffer unter den Schreibtisch und warf sich danach mit einem Jubelschrei auf das Bett. Bedrohlich begann dieses zu schwingen und ächzen, allein Daniel blieb davon gänzlich ungerührt. Ausgestreckt lag er da, mit sich und der Welt im Reinen, doch es sollte nicht allzu lange dauern, bis sein Jubelschrei auch schon wieder verklungen war, sich seine Miene langsam zu verfinstern begann. „Warum“, überlegte er angestrengt, „habe ich es einfach nicht geschafft, mich ordentlich von Klara zu verabschieden?“ „Es tut mir leid“, umfasste Daniel mit beiden Armen seine Knie, „aber zu mehr habe ich momentan nicht die Kraft.“ Auf einmal sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus – Worte, die er freilich besser Klara direkt gesagt hätte, als ungehört in diesen finsteren Raum hinein. Vielleicht hätte sie seine Beweggründe ja ohnehin verstanden, die Trennung sowieso gutgeheißen? Doch durch seinen abrupten Auszug hatte er alle gangbaren Wege im Vorhinein versperrt – ebenso jenen eines gemeinsamen Neustarts: Aber genau davor hatte er eben Angst. Es wäre gewiss das Letzte gewesen, was er gewollt hätte. Einfach zu gehen, schien ihm schlichtweg die beste Lösung gewesen zu sein, auch wenn es sich dabei um keine menschliche Meisterleistung gehandelt hatte. Kurz und schmerzlos, jetzt und gleich, bloß keine falschen Sentimentalitäten oder plötzliche Sinneswandlungen aufkommen lassen. „Irgendwann einmal werde ich Klara schon mein Handeln erklären“, beruhigte sich Daniel nach einer Weile wieder, da sich sein schlechtes Gewissen nur sehr schwer mit einem Auf-zu-neuen-Ufern vereinbaren ließ.