cover
image

Michael Quante

Menschenwürde sund personale Autonomie

Demokratische Werte im Kontext der Lebenswissenschaften

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

eISBN (PDF) 978-3-7873-2122-3
eISBN (ePub) 978-3-7873-3118-5

www.meiner.de

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2010. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Umschlaggestaltung: Jens-Sören Mann. Konvertierung: Bookwire GmbH

Für Erzsébet Rózsa

»[…] alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.«

Karl Marx

Inhalt

EINLEITUNG

Demokratische Werte im Kontext der Lebenswissenschaften

ERSTER TEIL

Menschenwürde

I. Wider die Unverträglichkeit von Menschenwürde und Lebensqualitätsbewertung

II. Präimplantationsdiagnostik und Stammzellforschung

III. Politisch oder ethisch? Eine Kritik der Stellungnahme des Nationalen Ethikrates zur Präimplantationsdiagnostik

ZWEITER TEIL

Person

IV. Der Begriff der Person im Kontext der Lebenswissenschaften

V. Klonieren und personale Identität

VI. Selbst-Manipulation?

DRITTER TEIL

Autonomie

VII. Informierte Zustimmung, informierte Verweigerung und Verweigerung der Information

VIII. Sterbehilfe

IX. Verlängerte Autonomie

AUSBLICK

Menschenwürde und personale Autonomie in der pluralistischen Gesellschaft

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Drucknachweise

Einleitung

Demokratische Werte im Kontext der Lebenswissenschaften

Those engaged in bioethical discussion must become aware of the fact that they are living in a liberal society and take account of its basic values.

Max Charlesworth

Befragt man die Lebenswissenschaften darauf hin, in welcher Form sie unsere demokratischen Werte tangieren, dann kann ein solcher Bezug auf vielfältige Weise unmittelbar eingesehen oder – in philosophischer Reflexion – hergestellt werden. Daher läßt sich unter dem Titel dieses Buches unterschiedliches verstehen. Eine Erläuterung des Themas und der zu seiner Formulierung verwendeten Begriffe ist deshalb zu Beginn unumgänglich.

Ich verwende den Ausdruck »Lebenswissenschaften« einerseits in einem ausgeweiteten Sinne, weil ich nicht nur den technologischen Aspekt darunter fasse, sondern schon den Bereich des Wissens und des Wissenserwerbs darunter subsumiere. Wie vor allem im Bereich der Humangenetik deutlich werden wird, beginnt ein ethisch relevanter Zusammenhang nicht erst dort, wo sich naturwissenschaftliches und medizinisches Wissen in Form technologischer oder therapeutischer Anwendbarkeit niederschlägt. Schon das Verfügen über dieses Wissen oder auch der Weg dorthin, d. h. der Weg der Forschung, können ethisch relevante oder gar problematische Aspekte beinhalten. Andererseits verwende ich den Ausdruck »Lebenswissenschaften« in einem eingeschränkten Sinne. Diese Einschränkung besteht darin, daß ich mich auf das menschliche Leben beschränken und Pflanzen, Tiere oder die Natur als ganze nicht thematisieren werde. Obwohl auch diese in unserem Grundgesetz und damit von unseren demokratischen Werten erfaßt werden, frage ich im folgenden nicht danach, ob z. B. die gentechnische Veränderung von Lebensmitteln zum Zwecke der längeren Haltbarkeit oder die gentechnische Veränderung von Schweinen zum Zwecke der Organgewinnung für die Transplantationsmedizin mit Bezug auf die ethischen Ansprüche von Pflanze, Tier oder Natur als solche problematisch sind.1 Ich werde mich allein auf die Frage beschränken, ob die Biotechnologien mit Bezug auf das menschliche Leben ethische Probleme hinsichtlich unserer demokratischen Werte aufwerfen.

Auch der Begriff der demokratischen Werte ist erläuterungsbedürftig. Im folgenden wird nicht versucht zu explizieren, was Werte eigentlich sind, noch zu bestimmen, welche dieser Werte demokratisch genannt zu werden verdienen, oder wodurch sie sich als demokratische auszeichnen. Statt dessen beziehe ich mich auf ein weitgehend geteiltes Vorverständnis, was unter demokratischen Werten zu verstehen ist. Auf meiner Liste stehen dabei z. B. Autonomie, Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Menschenwürde2, Privatheit, Solidarität3 oder auch Natürlichkeit4 und Unverfügbarkeit. Formal möchte ich unter demokratischen Werten alle diejenigen Werte (und Normen) verstehen, auf die sich eine demokratische Gemeinschaft vernünftiger Wesen rationalerweise in einem konsensuellen Verfahren einigen kann. Diese formale Charakterisierung ist lediglich als heuristisches Testverfahren, nicht als Normkonstituierung oder -begründung zu verstehen. Ich möchte damit nicht die These verbinden, daß derartige Verfahren hinreichend dafür sind, demokratische Werte zu konstituieren oder zu begründen. Eine Beschränkung auf dieses vage Vorverständnis von demokratischen Werten scheint zum einen deshalb sinnvoll zu sein, weil jeder Versuch einer umfassenden Explikation und Begründung dazu führen müßte, das eigentliche Thema aus dem Blick zu verlieren. Zum anderen werden wir im Zuge der Erörterung dieses Themas, d. h. im Aufriß des Zusammenhangs von demokratischen Werten und den genannten neueren Biotechnologien, einiges über diese Werte selbst lernen können.

Aus diesen Erläuterungen zu den Begriffen »Biotechnologie« und »demokratische Werte« ergibt sich, daß ich in diesem Buch zwei Dinge nicht anstreben werde. Erstens werde ich nicht versuchen, eine ethische Begründung oder gar eine philosophische Letztbegründung derjenigen Werte zu entwickeln, die im folgenden eine zentrale Rolle spielen werden. Ich gehe statt dessen davon aus, daß hinsichtlich der Akzeptabilität dieser Werte ein breiter Konsens besteht und nicht die Frage nach der Gerechtfertigtheit dieser Werte relevant ist, sondern die Erörterung des Zusammenhangs, der zwischen diesen Werten und den Biotechnologien besteht. Zweitens werde ich die diversen Fragestellungen der biomedizinischen Ethik, die in den folgenden Kapiteln thematisiert werden, keiner abschließenden inhaltlichen Bewertung unterziehen. Ich werde also nicht versuchen, z. B. hinsichtlich der Frage nach der Zulässigkeit humangenetischer Eingriffe oder der Präimplantationsdiagnostik zu einem abschließenden ethischen Urteil zu gelangen. Eine abschließende Bewertung der bioethischen Probleme, die im folgenden thematisiert werden, kann im Rahmen dieses Buches schon allein deshalb nicht erfolgen, weil es in diesem Bereich keine einfachen Antworten gibt. Alle diese Probleme bedürfen einer detaillierten und auf die einzelnen Fälle abgestimmten Analyse und Bewertung. Weder pauschalisierende Ablehnung noch generelle Zustimmung ist ethisch vertretbar. Fragt man nach der Art und Weise, wie die Lebenswissenschaften die demokratischen Werte unserer Gesellschaft berühren, so sieht man sehr schnell, daß und warum sie ethisch zwiespältig sind. Während sie hinsichtlich einiger dieser Werte als problematisch oder gar als unzulässig erscheinen mögen, können sie im Bezug auf andere dieser Werte als ethisch zulässig oder gar geboten erscheinen. Das erste Ziel dieses Buches kann daher so formuliert werden: Durch die genauere Bestimmung des Zusammenhangs zwischen den Lebenswissenschaften und unseren demokratischen Werten soll deren ethische Ambivalenz erkennbar und verstehbar gemacht werden. Aber die Frage nach dem Zusammenhang zwischen demokratischen Werten und den Lebenswissenschaften kann nicht nur zu einem vertieften Verständnis von letzteren führen. Die Erhellung dieses Zusammenhangs ermöglicht es auch, den materialen Gehalt unserer Werte, sowie das Verhältnis zwischen ihnen besser zu bestimmen. Solche Begriffe wie Selbstbestimmung, Menschenwürde oder Natürlichkeit sind notorisch vage. Außerdem ist nicht generell zu beantworten, wie sie im Falle eines Wertekonfliktes zueinander in ein Verhältnis gesetzt werden müssen. Die Frage nach dem Zusammenhang von demokratischen Werten und den Lebenswissenschaften soll, so das zweite Ziel dieses Buches, zu einer Vertiefung unseres Verständnisses des materialen Gehalts der darin involvierten Werte führen. Darüber hinaus möchte ich mit den hier vorgelegten Überlegungen ein weiteres Ziel erreichen. Dieses besteht darin, plausibel zu machen, daß der Erwerb von Wissen, die Definition von Forschungszielen, die Durchführung der Forschung und die Umsetzung der Forschungsergebnisse in Form von Technologie oder medizinischer Therapie von gesamtgesellschaftlicher Relevanz sind und die Frage nach unserer Werteordnung aufwirft. Damit aber zeigt sich, so kann man dieses dritte Ziel umschreiben, die Notwendigkeit eines demokratischen Steuerungsprozesses durch eine informierte Öffentlichkeit mittels demokratischer Willensbildungsprozesse.

Im folgenden möchte ich anhand verschiedener ethischer Problemstellungen, die sich im Kontext der Reproduktionsmedizin und der Humangenetik ergeben, zeigen, auf welche Weise unterschiedliche demokratische Werte tangiert werden. Dazu werde ich für beide Bereiche jeweils verschiedene Probleme kurz skizzieren und aufweisen, welche demokratischen Werte hier entweder bedroht zu sein oder aber miteinander in Konflikt zu geraten scheinen. Ich beginne mit der Reproduktionsmedizin.

Reproduktionsmedizin

Unter der Reproduktionsmedizin verstehe ich im folgenden diejenigen naturwissenschaftlich-medizinischen Techniken, menschliche Fortpflanzung auch in solchen Fällen zu ermöglichen, wo dies auf natürliche Weise nicht gelingt.5 Zu diesen Techniken gehören solche Dinge wie Künstliche Befruchtung (In vitro fertilisation), verbunden mit den Möglichkeiten der Samenspende und Leihmutterschaft, oder auch – zumindest als Zukunftsvision – das Klonieren menschlicher Individuen. Auch wenn letzteres noch weit von der technischen Realisierbarkeit entfernt ist und in den Augen mancher Naturwissenschaftler sogar überhaupt nicht möglich sein kann, haben die weltweiten Reaktionen auf das Schaf Dolly, welches im Jahre 1997 als erstes geklontes Exemplar seiner Gattung das Licht der Welt erblickt hat, gezeigt, daß diese Utopie von massiven ethischen Bedenken begleitet wird. Einige der ethischen Probleme, die sich im Kontext der Reproduktionsmedizin stellen, ergeben sich durch die Kombination mit den Optionen der Humangenetik und werden daher gleich noch behandelt werden. Spezifisch auf die Reproduktionsmedizin bezogen sind dagegen die vier Probleme, die ich nun als Wertekonflikte rekonstruieren möchte.

(a.) Wie weit geht das Recht auf die eigene Fortpflanzung? Künstliche Befruchtung ist teuer, und, entgegen aller Propaganda, nicht sehr erfolgreich. Weniger als 20% aller Versuche führen auch wirklich zu einer erfolgreichen Schwangerschaft. Darüber hinaus sind die für eine künstliche Befruchtung notwendigen mehrfachen Anläufe für die Partner häufig sehr belastend, was nicht nur dazu führt, daß die Erfolgschancen sinken, sondern sogar gelegentlich damit endet, daß Eltern zu ihrem Kind keine stabile psychische Beziehung aufbauen können und es dann zur Adoption freigeben. Ein Problem, welches sich angesichts zunehmender Mittelknappheit im Gesundheitswesen stellt, ist, ob die Gesellschaft die Pflicht hat, diese Technologien zu entwickeln und anzubieten, obwohl einerseits nicht klar ist, ob ungewollte Kinderlosigkeit überhaupt eine Krankheit6 darstellt, und obwohl andererseits mit den hierfür verwendeten Mitteln andere medizinische Programme finanziert werden könnten, die mit Blick auf die Gesundheit der Menschen sicher wesentlich effektiver wären. Hier zeichnet sich ein Konflikt zwischen Autonomie und Gerechtigkeit ab. Folgt aus dem unbestrittenen Recht, eigene Kinder zu haben, daß die Gesellschaft verpflichtet ist, ökonomische Ressourcen bereitzustellen, um diesen Ausdruck individueller Autonomie auch zu realisieren? Oder ist ein derartiger Einsatz knapper Mittel nicht vielmehr ungerecht, weil er massive Ansprüche anderer möglicher Patienten verletzt?

An dieser Stelle ist es notwendig, zwei Bedeutungen des Rechts auf die eigene Fortpflanzung zu unterscheiden. Darunter kann man zum einen das negative Recht verstehen, welches besagt, daß der Staat kein Recht hat, den Wunsch auf eigene Kinder zu unterbinden. In dieser negativen Variante ist das Recht auf den eigenen Nachwuchs nahezu unumstritten; Begrenzungen aus bevölkerungspolitischen oder ökologischen Gründen gelten weitgehend als inakzeptabel. Ausgenommen sind zum einen geistig behinderte Menschen, denen dieses Recht nicht zuerkannt wird. Und zum anderen vertreten einige Ethiker explizit und viele Menschen implizit die Auffassung, Menschen mit vererbbaren Gendefekten sollten dieses Recht ebenfalls nicht zuerkannt bekommen (auf letzteres komme ich noch zurück). In seiner positiven Lesart bedeutet das Recht auf die eigene Fortpflanzung über die Nichteinmischungsbedingung hinaus, daß die Gesellschaft verpflichtet ist, zur Realisierung dieses Kinderwunsches positiv beizutragen, wenn dies nötig ist. Und dies bedeutet dann, daß die einzelnen Mitglieder unserer Gesellschaft einen ethischen Anspruch darauf hätten, daß diese Gesellschaft Mittel darauf verwendet, entsprechende Technologien bereitzustellen.

Die Auseinandersetzung um dieses Problem berührt also die Frage, ob wir ungewollte Kinderlosigkeit als Krankheit ansehen wollen, auf deren Heilung ein Anspruch besteht, der durch gesellschaftlich solidarische Leistung zu realisieren ist. Aber es geht hier auch um einen Konflikt zwischen individueller Autonomie und Gerechtigkeit, sowie darum, in der Behandlung dieses Konflikts genauer zu bestimmen, was wir unter diesen beiden Werten verstehen wollen. Die konkrete gesellschaftliche Ausgestaltung des Rechts auf eigene Fortpflanzung ist zugleich eine Bestimmung des materialen Gehalts dieser beiden Werte.

(b.) Zerstörung der natürlichen Sozialbezüge? Die sich im Wunsch auf eigenen Nachwuchs manifestierende Autonomie steht aber nicht nur in einem Spannungsverhältnis zur Gerechtigkeit, sondern auch zu zwei Werten, die in unserem alltäglichen normativen Selbstverständnis zwar nicht in vorderster Front stehen, gleichwohl aber im Kontext der Biotechnologien von großer Bedeutung sind: die Natürlichkeit und die Unverfügbarkeit. Die Dinge werden durch die Möglichkeiten der Reproduktionstechnologien komplizierter. Da gibt es neben dem biologischen Vater in Form eines anonymen Samenspenders den sozialen Vater, neben der genetischen Mutter, von der die befruchtete Eizelle stammt, möglicherweise die Leihmutter, die den Embryo ausgetragen hat, und dann die soziale Mutter, bei der das Kind aufwächst. Und dabei kann es sich um drei verschiedene Personen handeln. Wer angesichts solcher Verhältnisse den Verlust von Natürlichkeit oder Unverfügbarkeit beklagt, hat folgendes im Sinn: Unsere ethischen Spielregeln beruhen auf zwar kontingenten, durch die biologischen Fakten aber weitgehend stabilen Voraussetzungen. Genau diese Voraussetzungen werden durch die technischen Optionen nun zur Verfügung gestellt. Dies erhöht zum einen die Autonomie der Menschen, weil sie sich nun wieder ein Stück weit von den vorgegebenen Zwängen der Natur befreien können. Auf der anderen Seite führt diese neugewonnene Freiheit aber auch zu Irritationen, weil die unseren Wertvorstellungen zugrundeliegenden ›normalen‹ Verhältnisse wegbrechen. Eine Neuorientierung ist gefragt, und diese Konsequenz wird von manchen als belastend erlebt. Wenn der Weg vom Zufall zur Wahl führt, dann erhöht dies einerseits unseren Gestaltungsspielraum, erlegt uns andererseits aber auch die Pflicht auf, diesen Spielraum in verantwortungsvoller Weise zu gestalten (Buchanan et al., Chance). Wer den Verlust der Natürlichkeit beklagt und den Wert der Unverfügbarkeit betont, will dabei nicht sagen, daß die Natur uns unmittelbar vorschreibt, was ethisch zu tun ist. Eine solche Argumentation – Philosophen haben dafür den Namen ›naturalistischer Fehlschluß‹ geprägt – ist logisch defekt.7 Vielmehr soll betont werden, daß die Anerkennung von Unverfügbarem und natürlich Vorgegebenem zwei wichtige Funktionen hat. Erstens entlastet sie uns von dem Zwang, die fraglichen Bereiche selbst gestalten zu müssen. Und zweitens ist Autonomie, die sich nicht an vorgegebenen Fakten orientiert und sich in Auseinandersetzung mit diesen Unverfügbarkeiten definiert und konkretisiert, formal, beliebig und inhaltsleer.

Der Dissens, der hinsichtlich dieses Problems zu konstatieren ist, läßt sich am besten beschreiben als Konflikt zwischen der Ausdehnung der Autonomie als Möglichkeit der Verfügung und Gestaltung einerseits sowie der entlastenden Funktion von Natürlichkeit und Unverfügbarkeit andererseits. Während die Befürworter der Autonomie das zu gewinnende Freiheitspotential ins Feld führen, weisen die Kritiker darauf hin, daß der solchermaßen entstehende Gestaltungsspielraum nach ethisch akzeptablen Kriterien ausgefüllt werden muß. Zumeist befürchten sie zugleich, daß ökonomische oder beliebige individuelle Interessen diese Leerstelle ausfüllen werden, was insgesamt zu einem Verlust an Humanität und möglicherweise sogar individueller Freiheit führen könnte.

(c.) Klonieren gefährdet die Menschenwürde! So lautet der Grundtenor, der in der westlichen Welt nahezu unisono erklang, als die Nachricht vom Schaf Dolly um die Welt ging.8 Anders als in den ersten beiden Problembereichen, in denen es einen massiven Dissens gibt, scheint man sich hinsichtlich der Ablehnung des Klonierens menschlicher Individuen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, einig zu sein. Diese heftige und entschiedene Reaktion ist philosophisch genauso interessant wie die Hektik, mit der Regierungen verschiedenster Länder in Form von Verboten reagiert haben, obwohl die technische Realisierung dieser Möglichkeit noch in weiter Ferne liegt und vielleicht sogar überhaupt nicht gegeben ist. Interessant ist diese Reaktion also nicht deshalb, weil das Klonieren eines menschlichen Individuums eine große akute Gefahr darstellt, sondern weil diese Option offensichtlich mit weitgeteilten Wertvorstellungen konfligiert.9 Welche aber sind diese? Was ist so bedrohlich an der Vorstellung, man könne ein menschliches Individuum erzeugen, das nicht aus der Verschmelzung der genetischen Erbinformationen zweier Individuen hervorgeht, sondern als geklonter genetischer Nachfolger nur eines Individuums zur Existenz kommt? Ein solcher Nachfolger wäre ein verspäteter Zwilling, ein Mensch, der zeitlich nach seinem genetischen Doppelgänger sein Leben führen würde. Die Abscheu, die eine solche Vorstellung hervorruft, beruht m. E. auf unserem Bedürfnis nach Individualität und unserer Furcht davor, einfach durch eine Kopie ersetzbar zu sein. Klonieren ruft die gleichen Ängste hervor, die Huxley und andere Künstler in ihren Darstellungen totalitärer Systeme abrufen, in denen Menschen entindividualisiert und zu bloßen Nummern erniedrigt werden. Nun ist dies zwar alles weniger eine reale Gefahr des Klonierens als Ausdruck unserer dystopischen Vorstellungen, dennoch zeigt sich hierin, welchen Wert wir der Individualität und dem Recht auf einen selbstgestalteten Lebensweg beimessen. Ein geklonter Mensch müßte, als verspäteter Zwilling, stets sowohl mit dem Faktum, Informationen über das Leben seines genetischen Vorgängers zu haben, als auch mit den Verhaltenserwartungen seiner sozialen Umwelt umgehen. In der Befürchtung, ein solcher geklonter Mensch könnte möglicherweise keinen Gestaltungsspielraum für seine eigene Biographie haben oder seine Individualität nur unter erschwerten sozialen Rahmenbedingungen ausbilden, drückt sich ein weiteres höchst relevantes Faktum aus: die Tatsache, daß der Glaube an einen genetischen Determinismus, zumindest als latente, unterschwellige Annahme weit verbreitet ist. Dies ist, obwohl ich den Gedanken hier nicht vertiefen kann, philosophisch äußerst interessant. Und zwar nicht deshalb, weil für einen solchen strikten genetischen Determinismus wenig spricht, sondern vielmehr deshalb, weil der stillschweigende Glaube an eine solche genetische Determination mit den Vorstellungen von Autonomie, Freiheit, Individualität und der darauf basierenden Menschenwürde prima facie unvereinbar zu sein scheint. Was sich hier meines Erachtens beobachten läßt, ist ein Zwiespalt, in dem sich die meisten Mitglieder unserer Gesellschaft befinden. Viele, zumeist diffus bleibende Annahmen über die Beschaffenheit der von den Naturwissenschaften erklärten und ›entzauberten‹ Welt passen nicht zu den Werten und Normen, die unser ethisches Selbstverständnis prägen. Die Widersprüchlichkeit, mit der wir den Lebenswissenschaften häufig begegnen, ist vermutlich auch Ausdruck der Tatsache, daß sie einen tief liegenden Konflikt zwischen unserem Welt- und Wertbild tangieren.

(d.) Die Entwertung menschlichen Lebens. Zum Bereich der Reproduktionsmedizin möchte ich abschließend auf zwei Folgeprobleme hinweisen, die diese Handlungsoptionen nach sich ziehen. Zum einen entstehen wesentlich mehr befruchtete Eizellen als verwendet werden können. Die Frage ist, wie mit diesem beginnenden menschlichen Leben umzugehen ist. Darf man es töten oder zu Forschungszwecken10 verwenden? Zum anderen ergeben sich häufig Mehrlingsschwangerschaften, was in besonders krassen Fällen zum Problem der selektiven Abtreibung führt. Hier ist zu fragen, ob man zugunsten der Lebenschancen von ein oder zwei Embryonen berechtigt ist, überzählige weitere Embryonen abzutreiben. Sollte dies der Fall sein, stellt sich die Folgefrage, nach welchen Kriterien diese Selektion zu erfolgen hat. Es ist offensichtlich, daß sich – selbst wenn man den ohnehin schon problematischen Fall der Abtreibung ausklammert – ein Konflikt zwischen der Bewertung individuellen menschlichen Lebens und Menschenwürde in nicht abzumildernder Schärfe ergibt. Strittig ist vor allem, ob sich die Menschenwürde, wie es in Deutschland vertreten wird, auch auf das beginnende menschliche Leben erstreckt, oder erst zu einem späteren Stadium greift, wenn das menschliche Individuum Bewußtsein und Personalität entwickelt hat. Gegenstand der Diskussion ist dabei auch, ob unser Begriff der Menschenwürde möglicherweise Gradualisierungen zuläßt.11

Humangenetik

Damit komme ich zur Humangenetik.12 Das weltweit angelegte Projekt der vollständigen Erforschung und Totalsequenzierung des menschlichen Genoms dürfte, vielleicht neben der Erforschung von Gehirn und Bewußtsein, das größte wissenschaftliche Projekt der Gegenwart sein. Dabei ist weder strittig, daß sich eine derartige umfassende Landkarte erstellen läßt, noch ist zu übersehen, daß auf dem Wege dahin das Wissen über die genetische Verfaßtheit des Menschen, über den Ort von Erbinformationen und über genetische Defekte sprunghaft ansteigt. Ich möchte nun fünf mit der Humangenetik verbundene Themen unter dem Aspekt anreißen, in welcher Weise sie unsere demokratischen Werte tangieren, und mit zwei Fragen, die schon im Kontext der Reproduktionstechnologie aufgeworfen worden sind, beginnen.

(a.) Erbkrankheiten und das Recht auf die eigene Fortpflanzung. Ein Grundproblem der Humangenetik ist derzeit, daß die Schere zwischen Diagnose- und Therapiemöglichkeit sehr weit auseinanderklafft. Im Grunde ist bisher kein einziger Beweis für eine erfolgreiche Gentherapie erbracht worden. Andererseits schreitet die Erkenntnis auf der Seite der Diagnosemöglichkeiten immer weiter und schneller voran. Dies nötigt nicht nur zu einer Ethik des Umgangs mit diesem Wissen, sondern wirft auch die Frage auf, wie es mit dem Recht auf eigenen Nachwuchs bestellt ist, wenn von möglichen Risiken der Vererbung von genetischen Defekten gewußt wird. Hier geht es nicht nur um die Frage, wie mit den Wahrscheinlichkeiten umzugehen ist, und auch nicht nur darum, inwiefern eine Veranlagung zu einer Krankheit selbst bereits als Krankheit angesehen werden kann. Es stellt sich die prinzipielle Frage, ob das Recht auf den eigenen Nachwuchs sich auch auf solche Personen erstreckt, die vermutlich genetische Defekte weitervererben. Kann, anders formuliert, ein Recht der Gesellschaft darauf begründet werden, daß in solchen Fällen keine eigenen Kinder gezeugt werden? Liegt eine solche Begründung möglicherweise in dem Verweis auf die Kosten, die einer Gesellschaft ansonsten durch die Behandlung und Betreuung behinderter Kinder entstehen? Oder gibt es gar, wie manche behaupten, eine ethische Pflicht zur Gesunderhaltung des menschlichen Genoms? Was hier auf dem Spiel steht, ist nicht nur noch einmal die genauere Bestimmung des Verhältnisses von Autonomie und Gerechtigkeit oder die Sorge vor einer möglichen Entsolidarisierung im Gesundheitswesen dergestalt, daß für wissentlich in Kauf genommene Risiken privat aufgekommen werden muß. Es geht auch um die generelle Frage, ob Vorstellungen von genetischer Normalität und Gesundheit möglicherweise gesellschaftliche Normen darstellen, die individuelle Selbstbestimmung einzuschränken erlauben (vgl. Harris, Clones).

(b.) Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik: Im Zusammenspiel von humangenetischer Diagnostik und Reproduktionsmedizin ergibt sich die Möglichkeit der in Deutschland derzeit verbotenen Präimplantationsdiagnostik, bei der man vor einer Implantation die extrakorporalen Embryonen auf mögliche genetische Defekte und damit auch auf andere genetisch verankerte Eigenschaften hin untersucht. Anschließend kann man dann aufgrund dieser Daten entscheiden, welche Embryonen überhaupt implantiert werden sollen. Während auf diese Weise eine Abtreibung vermieden wird, ergibt sich aus den Möglichkeiten der Pränataldiagnostik, von denen die Amniozentese vermutlich die Bekannteste ist, genau dieses Folgeproblem. Beiden Varianten gemeinsam ist, daß aufgrund des humangenetischen Wissens und einer damit verbundenen Bewertung des jeweiligen menschlichen Lebens entweder eine Implantation nicht vorgenommen oder aber eine Schwangerschaft beendet wird. Der Streit geht hier zum einen darum, ob eine solche Bewertung des Lebens und eine derartige Selektion mit unserer Vorstellung der Menschenwürde vereinbar ist.13 Zweitens ist fraglich, ob in einer solchen Selektion nicht allgemeine eugenische Einstellungen oder individuelle Vorlieben wie der Wunsch nach einem Sohn wirksam werden können, die nicht zu verantworten sind.14 Und drittens ergibt sich auch hier die Frage, ob das prinzipielle Verfügen über humangenetisches Wissen nicht zu einer Entsolidarisierung mit den Eltern von behinderten Kindern führt, weil – wie man an dieser Stelle dann häufig zu hören bekommt – »so etwas heute doch nicht mehr sein muß«.

(c.) Recht auf Nichtwissen? Die Möglichkeit, über humangenetisches Wissen verfügen zu können, betrifft auch mündige Personen. Kann eine Person, in deren Familie eine Erbkrankheit gehäuft auftritt, gezwungen werden, sich testen zu lassen? Was ist, wenn eines von mehreren Kindern Wissen erwerben will, die anderen dies aber nicht wollen? Die Diagnose des einen wird für die anderen ein Erwerb von nichtgewolltem Wissen darstellen, der schwer zu vermeiden sein wird. Im Kontext einer biomedizinischen Ethik, die sich von einer paternalistischen Konzeption hin zu einer an Patientenautonomie orientierten Ausrichtung bewegt hat, mag das Recht auf Nichtwissen auf den ersten Blick paradox erscheinen.15 Ist es doch gerade das Recht auf Information und die Unverzichtbarkeit auf informierte Zustimmung, die dem Recht auf Selbstbestimmung des Patienten zur Geltung verhelfen soll. Ein Verzicht auf Information kann vor diesem Hintergrund aussehen wie die Flucht vor der eigenen Autonomie. Aber dieser Eindruck täuscht. Zum einen ist, gerade wenn mit dem Wissen die entsprechenden Handlungsoptionen in Form von Therapie nicht einhergehen, alles andere als sicher, daß ein solches Wissen immer die Autonomie des Patienten vergrößert. Wenn die eine Patientin lieber wissen möchte, ob sie in 20 Jahren eine Krankheit (z. B. Corea Huntington) entwickeln wird, um ihr Leben darauf auszurichten, wird ein anderer Patient vielleicht über ein solches Wissen nicht verfügen wollen, weil er zu Recht befürchtet, es psychisch nicht bewältigen zu können. Humangenetische Information zwingt jedoch nicht nur dazu, dem Recht auf Wissen ein ebenfalls legitimes Recht auf Nichtwissen an die Seite zu stellen, um anschließend zu untersuchen, wie sich die hieraus möglicherweise ergebenden Konflikte bewerten lassen. Da das humangenetische Wissen nicht nur die jeweilige Person, sondern auch die mit ihr genetisch nahe verwandten anderen Personen berührt, und da vor allem auch weiterreichende Interessen von Dritten an diesen Informationen bestehen, wird zusätzlich zu erörtern sein, wer einen Anspruch auf solches Wissen über die jeweilige Person hinaus hat (vgl. Chadwick, Nichtwissen). Dies möchte ich an einem Beispiel, welches zugleich das nächste Problem darstellt, illustrieren.

(d.) Entsolidarisierung durch humangenetische Informationen? Nicht nur für den jeweils betroffenen Einzelnen, und auch nicht nur für seine möglicherweise durch die Diagnose unmittelbar mitbetroffenen genetischen Verwandten sind genetische Informationen interessant, sondern auch für Arbeitgeber oder Versicherungen, die sich davor schützen möchten, besondere Risikokandidaten einzustellen bzw. aufzunehmen. Hier könnte die Gefahr drohen, daß Menschen mit genetisch nachgewiesenen erhöhten Risiken diskriminiert werden (vgl. Kaminski, Genomanalyse). Daher ist nicht nur zu klären, in welchem Maße genetische Information dem Recht auf Privatheit unterliegt; zu befürchten ist auch, daß eine irgendwann einmal mögliche exakte Ermittlung, welche Person von welchen Erkrankungsrisiken betroffen ist, zu einer Entsolidarisierung führt. Die Logik von Kranken- oder Lebensversicherung beruht ja darauf, daß in solidarischer Weise ein Risiko verwaltet wird, welches jeden treffen kann. Ist letztere Bedingung durch das Verfügen über exaktes Wissen nicht mehr erfüllt, wird vermutlich die Bereitschaft zu einer Solidarleistung vermindert oder gar wegfallen. So werden z. B. diejenigen, bei denen sicher oder sehr wahrscheinlich ist, daß sie eine bestimmte Krankheit entwickeln werden, gar nicht mehr oder nur noch zu ungünstigen Konditionen versichert werden. Und diejenigen, die sicher sind, von bestimmten Risiken ausgenommen zu sein, werden sich zu weigern anfangen, zur Absicherung genau dieser Risiken einen Solidarbeitrag zu leisten. Fragt man bei Versicherungsgesellschaften nach, ob sie erwägen, derartige auf genetischen Informationen beruhende Klauseln einzuführen, erfährt man zwar offiziell, daß so etwas nicht geplant sei. Inoffiziell dagegen wird unumwunden zugegeben, daß derartige Pläne längst entwickelt worden sind und nur niemand der Erste sein möchte, der sie umsetzt (vgl. Wiesing & Schonauer, Prognose).

(e.) Die Ambivalenz der humangenetischen Therapie. Bis hierher habe ich einige der ethischen Probleme skizziert, die durch humangenetische Diagnostik allein entstehen. Aber wenn man von der plausiblen Annahme ausgeht, daß irgendwann einmal auch genetische Therapien zur Verfügung stehen, dann ist es wichtig, auch hierauf einen prüfenden Blick zu werfen. Zuerst einmal sind hier zwei wichtige Unterscheidungen zu beachten. Die erste betrifft den Unterschied zwischen dem Heilen mit Genen und dem Heilen von Genen. Im ersteren Fall will man defekte Gene reparieren, indem man anderes Erbmaterial einschleust, welches die defekten Teile ersetzt. Im letzteren Fall versucht man durch das Einfügen von Erbmaterial in Zellen und Geweben heilende Effekte zu erzielen. Wichtiger, wenn auch in manchen Kontexten von gradueller Natur, ist der bekannte Unterschied zwischen somatischer Gentherapie und Keimbahntherapie. Erstere bleibt in ihren Auswirkungen auf das einzelne Individuum, welches diesem Eingriff unterzogen wird, beschränkt, letztere wird dagegen auf folgende Generationen weitervererbt. Während die Keimbahntherapie16 aufgrund unterschiedlichster Argumente (Risiko, genetisches Erbe der Menschheit) weitgehend abgelehnt wird, kann man mit Bezug auf die somatische Therapie zumeist die folgende Einschätzung hören: Wenn die individuellen Risiken beherrschbar sind und es sich bei dem Eingriff um die Behebung eines Defektes oder die Therapie einer Krankheit handelt, dann ist gegen eine somatische Gentherapie nichts einzuwenden (vgl. Birnbacher, Genomanalyse). Mit dieser Aussage wird implizit auf eine Differenz aufmerksam gemacht, die in ethischer Hinsicht gravierend ist – der Unterschied zwischen Therapie oder Reparatur von Defekten einerseits und der Vorstellung einer Verbesserung andererseits. Wenn es möglich ist, gewisse Eigenschaften menschlicher Individuen durch genetische Therapie zu verändern, dann muß diskutiert werden, welche dieser Eigenschaften beseitigt und welche hervorgebracht werden sollen. Bestimmte Körpergrößen sind für manche Sportarten günstig, andere körperliche Voraussetzungen für andere Berufe. Schönheitsideale und weitere individuelle oder kulturelle Vorlieben und Moden sind möglicherweise genauso wirksam bei der Festlegung dessen, was abgelehnt und was erstrebt wird. Der Begriff der Krankheit ist einer rein objektiven, wertfreien Definition nicht zugänglich. Daher wäre es eine Illusion zu glauben, man käme hier ohne explizite Wertentscheidungen aus. Die Festlegung, welche Eigenschaften als Defizite, welche als Krankheiten, und welche als normale oder zumindest akzeptable Startbedingungen für menschliche Individuen gelten sollen, wird uns nicht erspart bleiben. Und auch die These, daß das Ziel einer genetischen Verbesserung des Menschen auf jeden Fall ethisch inakzeptabel ist, muß allererst noch begründet werden.17 Aus der Tatsache allein, daß es die Menschen sein werden, welche die Ziele dieser Verbesserung definieren müssen, folgt noch nicht die ethische Unzulässigkeit der gesamten Vorstellung. Der Hinweis auf ideologischen Mißbrauch, bekannt aus und illustriert in vielen Utopien und Dystopien, ist ein Warnschild, kein kategorischer Einwand. Aber ersichtlich wird einmal mehr, daß uns die neuen Handlungsoptionen nicht nur eine Erweiterung der Autonomie versprechen, sondern zugleich auch Verpflichtungen zu einer verantwortungsvollen Gestaltung der neuen Spielräume auferlegen. Von hierher wird auch verständlich, wieso der Rekurs auf den Wert der Natürlichkeit und der Unverfügbarkeit Attraktivität gewinnt, weil er Entlastung verspricht. Dies darf aber nicht den Blick dafür verstellen, daß eine generelle Ablehnung der Verbesserungsvorstellung ebenfalls eine Wertentscheidung darstellt. Sie ist eine Option, bei der Autonomie anderen Werten untergeordnet wird.

Damit bin ich am Ende meines kurzen Problemaufrisses angelangt. Ich möchte diese Einleitung mit drei Thesen beenden, die zugleich zum Ausdruck bringen, worin die philosophisch-ethische Relevanz der Lebenswissenschaften liegt.

Die erste These: Die ethische Ambivalenz der Lebenswissenschaften läßt sich als Wertekonflikt begreifen. Mit Ausnahme der Bereiche, in denen Annahmen über einen genetischen Determinismus mit unseren Wertvorstellungen konfligieren, läßt sich die Ambivalenz der Lebenswissenschaften als Konflikt von Werten beschreiben, die in unserer Gesellschaft weitgehend akzeptiert werden. Die Erkenntnisfortschritte und die mit ihnen einhergehenden neuen Handlungsoptionen im Bereich der Reproduktionsmedizin und der Humangenetik zwingen uns, das Verhältnis der Werte zueinander neu zu bestimmen, denn sie zeigen, daß diese Werte nicht in allen Kontexten reibungsfrei nebeneinander bestehen oder zugleich erfüllt werden können. Als zentral erweist sich dabei, daß fast immer die Autonomie auf der einen, und andere, die Autonomie limitierende, Werte auf der anderen Seite stehen. Dies ist aus zwei Gründen nicht weiter erstaunlich: Zum einen gehört Autonomie zum Kern unseres normativen Weltbildes. Und zum anderen sind Wissenszuwächse und technische Fortschritte paradigmatische Fälle für die Erweiterung unserer individuellen und kollektiven Autonomie gewesen. Die philosophisch bedeutsame Frage ist, ob die Lebenswissenschaften den Schluß erzwingen, daß die These vom Vorrang der personalen Autonomie nicht mehr haltbar ist.

Die zweite These: Die Ambivalenz der Lebenswissenschaften zwingt zu einer materialen Anreicherung bzw. Neubestimmung unserer Grundwerte. Wir müssen nicht nur die Gewichtung der Werte zueinander neu überdenken. Im Spannungsfeld der Lebenswissenschaften bedürfen die einzelnen Werte selbst einer inhaltlichen Konkretisierung und vielleicht sogar einer Modifikation. Auch dieses Resultat kann, zumindest auf den zweiten Blick, nicht weiter verwundern. Zum einen liegt dies nahe, weil viele unserer zentralen Werte negative Inhalte in folgendem Sinne haben: Es ist schwer, ihren Gehalt positiv zu bestimmen, und normalerweise füllen wir ihren Inhalt durch die Festlegung, was mit diesen Werten unvereinbar ist, wie z. B. im Fall der Menschenwürde. Worin diese positiv besteht, ist schwer zu sagen. Deutlicher ist zu sehen, daß bestimmte Dinge, Maßnahmen oder Handlungsmöglichkeiten mit der Würde des Menschen nicht vereinbar sind. Zum anderen gehen in unsere Wertvorstellungen Voraussetzungen ein, welche auf kontingenten Voraussetzungen beruhen, die unsere menschliche Natur mit sich bringt (vgl. Vieth & Quante, Chimäre). Wenn diese Voraussetzungen durch die Erweiterung unseres Handlungsspielraums zur Disposition stehen, muß dies auf unsere Wertvorstellungen Auswirkungen haben. Außerdem eröffnen die Lebenswissenschaften neue Handlungsoptionen, für die es noch keine bewährten Bewertungsund Interpretationsmuster gibt. Daher sind wir gezwungen, unsere Wertvorstellungen in diese neuen Bereiche hinein zu übertragen. Es ist naheliegend, daß sie sich dabei modifizieren und anpassen werden. Die ethische Bedeutsamkeit der Lebenswissenschaften liegt deshalb nicht nur darin, daß sie ethische Probleme aufwerfen, auf die es Antworten zu finden gilt. Sie sind auch deshalb von Belang, weil die Auseinandersetzung mit diesen Problemen zu einer inhaltlichen Neu- und Weiterbestimmung dessen führen wird, was wir mit unseren zentralen Werten eigentlich meinen.

Die dritte These: Die Lebenswissenschaften erfordern die Meinungs- und politische Willensbildung einer informierten Öffentlichkeit. Bei der Frage nach dem Zusammenhang von Lebenswissenschaften und demokratischen Werten geht es darum, daß in diesem Kontext unsere Wertvorstellungen einer inhaltlichen Neubewertung zu unterziehen sind, und daß der Umgang mit dieser Wissens- und Technikform eine genuin ethische und soziale Problemdimension hat. Es zeigt sich, daß das Verständnis von personaler Autonomie und die Frage ihrer möglichen Begrenzung zugunsten anderer Werte, die insgesamt für eine gelingende Biographie und ein gutes Gemeinschaftsleben unverzichtbar sind, auf der Tagesordnung stehen. Die mögliche Begrenzung oder inhaltliche Neubestimmung dessen, was unter individueller Lebensführung, Selbstbestimmung oder Autonomie sinnvoll verstanden werden kann, darf aber, das hat uns die Geschichte mehrfach gelehrt, wieder nur in solchen Prozessen vorgenommen werden, welche die personale Autonomie und das Recht auf Selbstbestimmung der Individuen respektieren und repräsentieren. Dabei handelt es sich um die demokratischen Verfahren der kritischen Meinungsbildung einer informierten Öffentlichkeit. Allerdings sollte diese Information nicht in der leider üblichen Form von skandalträchtigen Sensationsmeldungen oder unsachlicher Polemik erfolgen. Die hier anstehenden Fragen und Probleme sind zu komplex, als daß sie einfache Ja-Nein-Antworten oder Schwarz-Weiß-Malerei vertrügen oder verdienten. Vor allem aber sind sie zu wichtig, um sie anonymen Wissenschaftlern oder anderen Experten (oder gar Technokraten) zu überlassen. Die Lebenswissenschaften werden, ähnlich wie die neuen Medien, einen immer wichtigeren Platz in unserem Leben einnehmen. Es kommt deshalb darauf an, diesen Bereich bewußt und kritisch selbst zu gestalten. Somit stehen die Lebenswissenschaften nicht nur im Spannungsfeld der demokratischen Werte, sie erfordern auch unsere bewußte politische Steuerung. Diese Aufforderung ernst- und anzunehmen, ist sicher eine der wichtigsten demokratischen Tugenden, die keiner von uns generell an andere delegieren sollte. Die philosophischen Überlegungen zum Verhältnis von Menschenwürde und personaler Autonomie, die ich in den folgenden Kapiteln vorlege, möchten sich dieser Herausforderung stellen und zielen auf eine Interpretation dieser für unsere demokratische Gesellschaft grundlegenden Prinzipien ab, welche die Herausforderungen der Lebenswissenschaften im Rahmen einer pluralistisch verfaßten Gesellschaft meistern kann.18

ERSTER TEIL

Menschenwürde

I. Wider die Unverträglichkeit von Menschenwürde und Lebensqualitätsbewertung

Nach den Auseinandersetzungen, welche die Verabschiedung des Organtransplantationsgesetzes begleitet haben, und nach den zahlreichen Infragestellungen des Hirntodbegriffs konnte man den Eindruck gewinnen, daß Diskussionen über biomedizinische Ethik in Deutschland nun mehr und mehr von Ideologie befreit worden seien.19 Es schien, als seien wir in der Lage, solche grundlegenden Streitfragen sachlich zu betrachten. Die Bereitschaft zum objektiven und konstruktiven Dialog zwischen Politikern, Wissenschaftlern und Ethikern schien sich zu entwickeln; und die Einsicht, daß Dogmatismus auf diesem, für unsere Gesellschaft so sensiblen, Themenfeld nicht hilfreich ist, schien an Akzeptanz zu gewinnen.

Leider ist die Rationalisierung unserer Diskussionskultur rückläufig, seit sich die biopolitische Debatte in Deutschland auf die Frühstadien des menschlichen Lebens konzentriert. Die Frage, ob die Forschung an embryonalen Stammzellen legalisiert oder kriminalisiert werden sollte, hat die Debatte erheblich emotionalisiert, denn solche Forschung ist gegenwärtig nur möglich, wenn hierfür menschliche Embryonen getötet werden (vgl. Solter et al., Embryo). Aus diesem Grund eskalierte die Debatte dermaßen, daß man den Eindruck gewinnen konnte, ein neuer Kulturkampf habe begonnen (vgl. Vieth, Rubikon). Dieser Eindruck wird durch die Tatsache verstärkt, daß die Haltung Deutschlands zu Forschung und Wirtschaft im Vergleich zu anderen Ländern von Anfang an von besonderer Bedeutung war. So waren einige der Auffassung, daß nunmehr die Forschungsfreiheit auf dem Spiel stünde und gegen Wissenschaftsfeindlichkeit oder reaktionäre Ideologien, die danach strebten, in unserer Gesellschaft verlorenen Boden wett zu machen, verteidigt werden müsse. In einigen anderen Fällen, z. B. in der Präimplantationsdiagnostik, kamen Wirtschaftsinteressen massiv ins Spiel. Diese, so fürchtete man, würden gefährdet, wenn man auf der Basis des deutschen Grundgesetzes zu restriktive ethische Standards akzeptierte.

§1 Die gemeinsame Prämisse

Angesichts dieses Trends muß unsere Frage lauten: Warum ist das Rationalitätspotential unserer Diskurse über Biopolitik und biomedizinische Ethik rückläufig, und warum laufen wir Gefahr, bereits erreichte Konsense wieder zu zerstören? Bedenklich ist, daß der Begriff der Menschenwürde gegenwärtig nicht dazu genutzt wird, um in bioethischen Debatten voranzukommen, sondern um sie abrupt zu beenden. Hier besteht philosophischer Analysebedarf. In einer solchen Untersuchung muß auch expliziert werden, wie die Argumente, die auf dem Begriff der Menschenwürde fußen, in verschiedenen Kontexten der biomedizinischen Ethik funktionieren.

Meine These lautet, daß sich dieser gegenwärtige Rückschritt aus der Tatsache ergibt, daß der Fortschritt in der Reproduktionsmedizin die Frage aufwirft, wie man angemessen mit dem beginnenden menschlichen Leben umgehen sollte, und zwar auf eine Art und Weise, wie sie in der deutschen Diskussion (und im deutschen Recht) beharrlich vermieden oder allgemein als ethisch unzulässig angesehen worden ist. Daß man so rasch auf den Begriff der Menschenwürde zurückgreift, ergibt sich daraus, daß eine Beurteilung der neuen medizinischen Optionen der Stammzellforschung oder der Präimplantationsdiagnostik uns dazu zwingt, über die ethische Annehmbarkeit der Lebensqualitätsbewertung von menschlichem Leben nachzudenken.

Die politische Lösung des Problems der Abtreibung sowie Diskussionen über andere Problemfälle wie Sterbehilfe oder ärztlich assistierten Suizid haben ein gemeinsames Charakteristikum: Beinahe jeder versucht die Frage zu vermeiden, ob Bedingungen oder Situationen eintreten können, in denen Lebensqualitätsbewertungen akzeptabel oder gar erforderlich sind; dies gilt insbesondere für Fälle, in denen die Möglichkeit besteht, menschliches Leben mit Absicht zu beenden.20 Sowohl am Ende des menschlichen Lebens als auch ganz an dessen Anfang macht es der Fortschritt in der Biologie und in der Medizin unvermeidbar, die Frage zu diskutieren, ob Lebensqualitätsbewertungen im Allgemeinen ethisch unzulässig sind.

21