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Claus-Artur Scheier

Luhmanns Schatten

Zur Funktion der Philosophie in der medialen Moderne

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.

ISBN (PDF) 978-3-7873-2999-1

eISBN (ePub) 978-3-7873-3130-7

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH

Inhalt

Siglen

Einleitung

Orientierung

Postmoderne

Produktion

Der Zeitpfeil

Sein und Funktion

Funktion und Menge

Umkehrung

Aporie und Krypta

Normalität

Kohärente Deformation

Systemtheorie

Systemtheorie und Philosophie

Die Leitdifferenz

Die formale Leitdifferenz und die Zeit

Das Möglichkeitsfeld

Differenz und Identifikation

Als-Struktur I: Bezeichnen

Funktionalisierung

Selbstreferenz I

Supplement

Selbstreferenz II

Basale Selbstreferenz, Reflexivität, Reflexion

Sinndimensionen

Differenzlose Begriffe: Sinn, Realität, Welt, Grund

Als-Struktur II: Sinn

Struktur

Sprachsystem und Sprachgebrauch

Das Zeichen

Der Referent

Phänomenologische, existenziale und strukturale Epoché

Das Sinnfeld

Kommunikationssystem und Bewußtseinssystem

Zeit

Widerspruch

Oszillation

Existenz

Spiel

Literatur

Anmerkungen

Register

SIGLEN UND ABKÜRZUNGEN

Luhmann

ES Einführung in die Systemtheorie
GG Die Gesellschaft der Gesellschaft
L vor Jahreszahl Luhmann + Erscheinungsjahr
RG Die Religion der Gesellschaft
SS Soziale Systeme
WG Die Wissenschaft der Gesellschaft
WP Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie
  
  
Andere Autoren
  
Hei vor Jahreszahl Heidegger + Erscheinungsjahr
KdrV Kant: Kritik der reinen Vernunft
T Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus
  
m. H. meine Hervorhebung(en)
o. H. ohne die Hervorhebung(en)

Das Wesen des Satzes angeben, heißt, das Wesen aller Beschreibung angeben, also das Wesen der Welt.

(Wittgenstein)

EINLEITUNG

Die Theorie selbstreferenzieller Systeme von Niklas Luhmann (1927–1998) ist kein philosophischer Glücksfall, aber ein Glücksfall für die Philosophie. Als »Supertheorie« mit universalistischen Ansprüchen darf sie als erste umfassende Bestandaufnahme der medialen Moderne gelten. »Mediale Moderne« soll die Moderne heißen, die ihrer condition postmoderne entwachsen ist und mit deren kaleidoskopischen ›Post-‹s, Paradoxien und Aporien umzugehen gelernt hat. »Medial« ist sie auch als logische Struktur, in der die eine ontologische Differenz ihrer Vorgängerin, der industriellen Moderne, transformiert ist ins Differenzfeld. Von der ontologischen Differenz her begriff die industrielle Moderne ihre geschichtliche Differenz zur klassischen Tradition, namentlich zur Metaphysik. Der Rückzug aus den älteren und neueren theoretischen Brückenköpfen in die wie auch immer solide philosophische Praxis dürfte letztlich keine zureichende Antwort sein auf das stehende Angebot der dezidiert poststrukturalistischen Theorie sozialer Systeme, die philosophische Domäne hinfort »mitzubetreuen«. Denn spätestens Die Wissenschaft der Gesellschaft (1990) macht unmißverständlich deutlich, daß Luhmann die Philosophie, wenn überhaupt, nur sehr beschränkt für »anschlußfähig« hielt. Die Philosophie wiederum hätte kaum Gründe, sich einem operativen Konstruktivismus zu verpflichten, dessen Status innerhalb der scientific community nach wie vor umstritten und dessen Axiomatik nicht geklärt ist.

Die Frage hingegen, wie es umgekehrt mit der Anschlußfähigkeit der »funktionalistischen« Systemtheorie an die Philosophie steht, ist von keinem geringen Interesse, einerseits für die Philosophie, anderseits gegen Luhmanns eigene Intention für die Theorie selber. (1) Für die Philosophie, weil das subtile Funktionsgefüge dieser allgemeinen Theorie die scheinbar inkompatiblen Stränge philosophischen Denkens im 20. Jahrhundert (Phänomenologie, sprachanalytische Philosophie, Existenzialismus, Seinsdenken, Strukturalismus und Dekonstruktivismus) auf erstaunliche Weise bündelt und zu einem neu belastbaren Knoten verschlingt, der ihre vormalige Tragkraft auch unter den Bedingungen der medialen Moderne unter Beweis zu stellen vermag. (2) Von Interesse aber auch für die Theorie selbstreferenzieller Systeme, weil sie das revolutionäre Konzept, kraft dessen sie sich die Auflösung der Probleme der älteren Systemtheorien wie des weiteren der Philosophie in toto versprach, schon als einen Knoten importiert hatte, den selber zu lösen oder durchzuhauen Luhmann ironischerweise verzagte.

Selbstreferenz, Reflexion, Wahrheit sind eigenste Themen der Philosophie – welch andre Disziplin könnte für ihre Formfragen einstehen? Es sei denn operational. Aber die Antwort, daß die Antworten nur operational möglich seien, wäre dogmatisch. Und Dogmatismus ist ein Modus von Operationalität, der dem Autor der Soziologischen Aufklärung (1970–1995, 6 Bände) ersichtlicherweise nicht zu unterstellen ist. Operationen generieren zwar Strukturen, aber nur aufgrund von Strukturen, die die geschichtlichen Bedingungen ihrer Möglichkeit sind. Im Schwung der poststrukturalistisch freigesetzten Operationalität tendierte die autopoietische Theorie der Selbstorganisation dagegen zur Verschattung (»Invisibilisierung«) nicht nur ihrer Paradoxien, sondern auch ihrer Strukturen. In George Spencer Browns Laws of Form (1969) glaubte sie die »wohl einfachste und eleganteste Behandlung« des Paradoxieproblems gefunden zu haben, mithin des Problems der Selbstreferenz überhaupt. Diese operative Logik mag elegant sein, einfach ist sie nicht und trotzte Luhmanns hartnäckigen Bemühungen, sie im Kern zu verstehen. Zuletzt rührt dies daher, daß schon ihre initiale Injunktion »Draw a distinction«, umstandslos beherzigt, die systemtheoretische Leitdifferenz desavouiert.

Ist es Ernst mit der »Differenz von Identität und Differenz«, dann postuliert die Leitdifferenz ein unhintergehbares Differenzfeld (das moderne Analogon zu Hegels absoluter Negativität). Luhmanns Lesart der Laws of Form suggeriert stattdessen ein ursprüngliches Indifferenzfeld, in dem jede Operation zur »Verletzung der Welt« gerät. Die basale Operation ist aber nicht »Unterscheiden-und-Bezeichnen«, sondern Bezeichnen. Das Unterscheiden ist schon Resultat des reflektierenden Bezeichnens (»re-entry«). Das Bezeichnen wird nämlich provoziert von einer Information, und diese, nicht die Operation, ist der »Unterschied, der einen Unterschied macht« (Gregory Bateson). Die Selbstreferenz setzt allemal diese Fremdreferenz voraus. Ein Ereignis, näher dessen Spur, wird bezeichnet als bezeichnet (»crossing«) und zeigt sich damit als unterschieden, d. h. als Identität. Der Leitdifferenz zufolge ist Identität stets Produkt einer informationsidentifizierenden Operation und damit ein Supplement (Jacques Derrida).

Die strukturale Behandlung des Paradoxieproblems wird mithin die Laws of Form verabschieden (Occam’s razor) und die ganze Theorie selbstreferenzieller Systeme konsequent funktional rekonstruieren, dies durchaus im Sinn Luhmanns. Das verlangt jedoch, den von ihm nur soziologisch ins Auge gefaßten Begriff der Funktion logisch einzuführen und philosophisch zu erweitern. Hierfür ist es tunlich, (1) die moderne Logik der Funktion geschichtlich zu unterscheiden von der klassischen Logik der Copula (der Logik des »alten Europa«) wie (2) die supplementäre Logik der medialen Moderne von der rein funktionalen Logik der industriellen Moderne (auf deren ontologisches Defizit schon Wittgensteins Tractatus aufmerksam gemacht hatte). Dieser geschichtlichen Orientierung sind die ersten zehn Kapitel gewidmet (S. 3–23). Die folgenden fünfzehn Kapitel (S. 24–70) sichten die für die formale Grundlegung der Theorie der Selbstreferenzialität konstitutiven Begriffe wie System und Umwelt, basale Selbstreferenz, Reflexivität, Reflexion, Sach-, Zeit- und Sozialdimension sowie die zentrierenden »differenzlosen Begriffe« Grund, Welt, Realität, Sinn. Das Ergebnis sind funktionale Reihen, in denen das systemtheoretisch konzipierte System sich ebenso übersichtlich wie vollständig darstellt.

Das auf dem Grund des Differenzfelds funktionslogisch allein aus der Bezeichnungsfunktion rekonstruierte selbstreferenzielle System erweist sich als strukturidentisch (1) mit dem modernen Zeichenbegriff Ferdinand de Saussures, den die anschließenden fünf Kapitel auslegen (S. 70–79), sowie (2) mit dem phänomenologisch reduzierten Bewußtsein in seiner Sartreschen Transformation zum existenzialen Erlebnisfeld. Strukturell ist das intentionale Bewußtsein nichts anderes als das Fürsichsein ebenso des strukturalistisch gedachten Zeichens wie des systemtheoretisch konstituierten Sinnsystems. Diese fürsichseiende Differenz exponieren die beiden Kapitel über das Sinnfeld und das Kommunikations- und Bewußtseinssystem (S. 82–86). Sie lassen sehen, daß Luhmanns Entscheidung, die fürsichseienden Träger des Kommunikationssystems mit »psychischen Systemen« zu identifizieren, zwar soziologisch handhabbar sein mag, philosophisch aber nicht Stich hält. Das Sinnkorrelat des globalen Kommunikationssystems ist das (immer schon individuierte) Bewußtseinssystem.

Termini mit dem Präfix post- (wie poststrukturalistisch) deuten zumindest an, daß Herkunft nicht zu löschen, sondern fruchtbar zu machen ist. Die Identifikation der individuierten Sinnsysteme mit psychischen Systemen delegitimiert das existenzialistische Denken des 20. Jahrhunderts, das der medialen Struktur von Selbstreferenzialität gleichwohl unabdingbar ist. Die abschließenden fünf Kapitel über Zeit, Widerspruch, Oszillation, Existenz und Spiel (S. 86–104) skizzieren darum die postexistenzialistischexistenziale Dimension der Theorie selbstreferenzieller Systeme – einen, wenn man so will, medialen Existenzialismus.

ORIENTIERUNG

Die Formeln der Moderne, Zeichenreihen1 als Sedimente strukturalistischer Tätigkeit,2 haben die Begriffe, Urteile und Schlüsse des alten Europa abgelöst und mit ihnen den Primat der Copula. Das »Verhältniswörtchen ist«3 machte sein Testament als Hegels Wissenschaft der Logik: »Alles Vernünftige ist ein Schluß.«4 Die Moderne schließt nicht, sie denkt funktional, wiewohl nicht sogleich in Systemen. Die Tendenz manifestierte sich erst im Kontext der militärischen, ökonomischen und logistischen Probleme des Ersten Weltkriegs.5 Der Salto mortale der industriellen Moderne wurde abgefedert vom medialen Netz,6 dessen rapide Proliferation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für Medialität in jedem Sinn sensibilisierte, für das strukturale Feld als den geschichtlichen Ort der Moderne überhaupt. Medialität transformierte nicht nur den ontotheologischen Terminus medius, die Copula als den logischen Grund des klassischen Denkens, sie disseminierte7 auch die eigne ontologische Differenz. In deren unüberschaubarer Facettierung begegnet der Mensch sich selbst als Beobachter unter Beobachtern.8

Für die »Wissensgesellschaft« sind all diese Facetten längst ebenso viele Gegenstände der Soziologien, Ästhetiken, Medienwissenschaften usw.9 Nichts wird unberücksichtigt bleiben, obschon manches vergessen werden. Und selbstverständlich nehmen die Medienwissenschaften sich der Medien mit höherer Kompetenz an als die Philosophie, die in bezug auf Gegenstände ohnehin immer zu spät käme. Denn die modernen Wissenschaften sind hinsichtlich möglicher wissenschaftlicher Gegenstandsbereiche in ihrer Gesamtheit nicht nur allumfassend, sondern auch unvergleichlich schnell (nur die Massenmedien sind schneller)10.

Anders steht es mit der Gegenständlichkeit dieser Gegenstände und Gegenstandsbereiche. Sie wird von den Wissenschaften notwendig vorausgesetzt, die anders gar nicht anfangen könnten: Es gibt sie, sie sind nur unzureichend verstanden, d. h. unzureichend beschrieben und also problematisch, mithin Desiderate der Forschung. Das genügt, es orientiert auch, aber es orientiert noch nicht über die spezifische Art der Orientierung, die wir unsre Gegenwart nennen. Es geht uns wie den Tauben auf dem Postkartenfoto vom Markusplatz: In Menge stürzten sie sich auf das listig gestreute Futter, dessen Spur wohl abzugehen, aber nicht zu überblicken gewesen wäre – erst die beschäftigten Vögel konfigurierten den Schriftzug ›Coca-Cola‹,11 lesbar von hoch oben, ob Campanile, ob Flugzeug.12 Die sýnopsis,13 das Zusammensehen, wird möglich dank der Warte, der skopiá14 oder specula der philosophischen Tradition, in der noch Kant von spekulativer Philosophie spricht. Die andre Tradition schreibt sich her von speculum, Spiegel.15 Sie vollendet den Gedanken der specula als die ausgehaltene Paradoxie der Reflexivität – als die sich in sich transzendierende Transzendenz (RG 77). Daran hat die Philosophie ihre Bewegung, durch sie hindurch ihre Sache und Geschichte.

In seiner Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse unterscheidet Hegel am Logischen (als an der Sache der Logik) der Form nach die abstrakte oder verständige Seite, dann die dialektische oder negativ-vernünftige und schließlich die spekulative oder positiv-vernünftige16 und erläutert: »Das Speculative oder Positiv-Vernünftige faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf, das Affirmative, das in ihrer Auflösung und ihrem Uebergehen enthalten ist.«17 Das ist noch auf dem Boden des vormodernen Denkens gesagt, der Metaphysik. Aber eben weil es für die Metaphysik endgültig gesagt ist, kann die Moderne sich für ihre eigne Gegenwart unterscheidend daran orientieren.

Vier Jahrzehnte zuvor (1786) hatte Kant einen Aufsatz veröffentlicht mit dem prägnanten Titel Was heißt: Sich im Denken orientieren? Kant ist auch die exemplarische Formulierung von drei im doppelten Sinn spekulativ-orientierenden Fragen zu verdanken: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?18 Kann – Soll – Darf: Für diese Fragen und ihre Reihe gilt nicht minder, daß die Antworten heute notwendigerweise anders ausfallen als im 18. Jahrhundert, während die Fragen orientierend bleiben. Allerdings wie? Und inwiefern notwendigerweise anders? Was hat sich ereignet seit Kants Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung19 und Hegels spekulativem Wissen?

Zu tun ist es um eine Philosophie der medialen Moderne im Sinn des Genitivus subjectivus wie objectivus. Der Blick auf das geschichtliche Phänomen-Agglomerat ›mediale Moderne‹ dokumentiert sich in Gestalt von Kartographien, Nach- und Vorzeichnungen des Musters oder der Struktur, die all diese Phänomene wo nicht eint, so doch charakterisiert. Diese philosophische Lineatur wäre vielleicht gar nicht zu entdecken oder bliebe durchaus hypothetisch, wäre sie nicht, in der Nachbarschaft Michel Foucaults, ›archäologisch‹ nachzuzeichnen als Genese der medialen Moderne aus der Unruhe ihrer Vorgängerin, der industriellen Moderne, und wo nötig noch weiter zurück im europäischen Denken überhaupt aus den griechischen Anfängen von Wissenschaft. Wenn Hegels Einsicht stichhält, jede Philosophie (ihrem »Weltbegriff« nach)20 sei »ihre Zeit in Gedanken erfaßt«,21 dann wird die Philosophie, die die mediale Moderne zu ihrer Sache macht, auch im Sinn des Genitivus subjectivus eine Philosophie der medialen Moderne sein: eine Philosophie der Gegenwart als die Gegenwart der Philosophie in ihr. Ihre Gesellschaft mag »Netzwerkgesellschaft« heißen oder auch »nächste« Gesellschaft,22 allgemein bekannt ist sie sich seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts als »Postmoderne«.

POSTMODERNE

Jean-François Lyotard hatte guten Grund, seinen »Bericht über das Wissen« La condition postmoderne zu nennen.23 Ohne die Hypothesen zu häufen, konnte die Umorientierung des institutionalisierten Wissens im Sog der sich formierenden Informationsgesellschaft 1979 nur beschrieben werden in Differenz zur nächsten geschichtlichen Herkunft. Inzwischen mag es scheinen, als erweise unsre Moderne dieser ihrer Herkunft ein wenig zu viel der Ehre, wenn sie, sich ostentativ das Präfix vorhaltend, als Kind der Moderne schlechtweg gebärdet. Schließlich ist ihre Mutter auch nur ein Modus der Moderne, nämlich die industrielle Moderne. Dreißig Jahre nach Lyotards hellsichtigem Rapport ist unsre eigne Gegenwart als avancierter Modus (noch mitten in einer weiterhin stürmisch zu nennenden Entwicklung) ihrer glücklichen Kindheit immerhin derart entwachsen, daß sie weiß, woran sie ist – nämlich dabei, als mediale Moderne längst alle Verfahrens- und Denkweisen der industriellen Moderne von Grund auf zu transformieren.

Das Kompendium Kulturgeschichte24 unterscheidet drei Diskussionsbereiche des Begriffs Postmoderne, nämlich 1. Kunst, Architektur und Literatur, 2. Gesellschafts- und Sozialtheorien und 3. die akademisch verfaßte Wissensproduktion. Im ersten Bereich werde »die Sehnsucht nach dem Ganzen und Großen verdächtig; an die Stelle künstlerischer Einheitsversionen und Weltdeutungsangebote tritt die Freude an der Vielfältigkeit, programmatisch bleibt nur noch das Programm radikaler Pluralität. Abgedankt werden alle elitären Kunstutopien ›hoher‹ Kunst und künstlerischer Avantgarde; die bisherigen Grenzen zur Populärkultur werden geöffnet. Bevorzugte Stilmittel sind das Mischen von Stilformen und künstlerischen Zitaten, das Spiel mit der Lust am Unerwarteten und die Intensivierung und Vervielfältigung ästhetischer Fiktionen und Inszenierungspraktiken«.25 Bürgerlicher geben sich die Gesellschafts- und Sozialtheorien: »Die meisten ›postmodernen‹ Positionen wollen die ›Moderne‹ weder nach ›vorwärts‹ noch nach ›rückwärts‹ verlassen; sie wollen vielmehr die in ihr entfalteten Realitäten – sozialer und wirtschaftlicher, technischer und politischer Art – und ihre Visionen humanisieren, vervielfältigen und im ganzen etwas bescheidener und verantwortungsbewußter gestalten.«26

Läßt der erste Bereich bei allem Entlastungs- und Unterhaltungspotenzial eine gewisse Orientierungslosigkeit spüren, erscheinen die Tendenzen im zweiten als pragmatisch und mangels Widerstand ein bißchen uninteressant. Im dritten Bereich geht es aufgeregter zu, nämlich um den Wahrheitsbegriff. Hier tobt sich, scheint es, »die Befürwortern wie Gegnern der ›Postmoderne‹ gemeinsame Tendenz« aus, »die größte Phantasie auf das Erfinden derjenigen gegnerischen Position zu verwenden, zu deren Bekämpfung aufgerufen wird. […] Die Grenzen der Debatte um die ›postmoderne‹ Wissenschaftskritik sind […] selbst die wohl überzeugendste Einlösung des ›postmodernen‹ Kernsatzes, es gebe nichts außerhalb des Textes (Jacques Derrida)« – was zur Folge hat, »daß Unterscheidungskriterien abhanden kommen, die es erlauben, zwischen fiktiv und wirklich zu trennen«.27

Das ist nun etwas, was »jedermann notwendig interessiert«,28 wenn schon der Unterschied von hundert wirklichen und ebensoviel möglichen Talern in meinem Vermögenszustande eine wirkliche Differenz macht.29 Auch in Zeiten radikaler Pluralität hat die Philosophie »jedermann« Auskunft darüber zu geben, wie die Welt (sich) unterscheidet.

Das tut die Philosophie, indem sie nicht erstlich von dem oder jenem handelt, was (vielleicht) wahr ist, sondern von der Wahrheit, ein Geschäft, das ihr keine andre Wissenschaft oder Disziplin abnehmen kann, auch die Theologie nicht, die ihre Wahrheit je nur zu bezeugen vermag. Hier ist näher nach der Wahrheit der Grenzen und innerhalb der Grenzen des Möglichkeitsspielraums jener radikalen Pluralität zu fragen.30 Daß es geschichtliche Grenzen sind, verrät bereits der Name dessen, was einzugrenzen, zu de-finieren ist: Post-Moderne. Ist also Philosophie (in einer selber diesem Möglichkeitsspielraum verpflichteten Wendung) die Beschreibung ihres geschichtlichen Orts und dessen Genealogie im Andenken der Weltgrenzen,31 dann ist eine philosophische Genealogie der Postmoderne zu geben. Soweit sie gelingt, hätte die Philosophie wieder einmal ihre von Hegel formulierte Aufgabe erfüllt. Sie hätte ihre Zeit in Gedanken erfaßt, ohne sie umfassen zu wollen – denn die Gegenwart ist dies, das Offene zu sein.

Sieht man also zu, welche Moderne die Postmoderne-Debatte aufgeheizt hat, wird man allemal auf die industrielle Moderne stoßen, auch wenn deren Grundlinien gelegentlich bis ins Entstehen der mathematisierten Wissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert zurückgezogen werden – und auch wenn der bedrängte Lyotard sich einmal ein Hintertürchen auflassen zu müssen glaubte und erwog, ob die Moderne nicht gar schon mit dem Christentum anhöbe. Das erledigt sich, wenn gezeigt werden kann, daß die in Rede stehende Moderne ihrer funktionalsten, nämlich logischen Konfiguration nach nicht in, geschweige hinter den sogenannten deutschen Idealismus zurückreicht trotz mannigfaltiger Familienähnlichkeiten, wie etwa Nietzsche sie Rousseaus Silhouette ablas.32

Auch der Streit um die postmoderne Fiktionalisierung der Welt ist nicht aus einer bloßen Invisibilisierung der von der Philosophie sonst immer erbrachten Grenzziehung zwischen Sein und Schein zu erklären, etwa zwischen der Vernunft und ihrer Beirrung durch die menschlichen Auffassungen oder zwischen Kants ›kritischem Weg‹ und dem transzendentalen Schein. Nur verbal mag es noch (oder wieder) zu tun sein um den Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben (Hegel GW 9, 293–311) und der Macht seines ontotheologisch institutionalisierten Dogmatismus – real geht es um die Macht der ökonomisch gesteuerten Medien in der geschichtlichen Phase »eines sich zum Universum abschließenden und versiegelnden Kapitalismus«,33 mithin um eine neue Erscheinungsform der global verwalteten Welt, deren noch industrielle Gestalt Adorno in der Mitte des 20. Jahrhunderts zum Gegenstand der kritischen Verfahrungsweisen seiner negativen Dialektik gemacht hatte.

PRODUKTION

Gewiß war das europäische Denken seiner innersten Unruhe nach von Anfang an Produktionsdenken, seine Logik Produktionslogik, auch wo sie bloßes Instrument sein sollte – órganon für ein érgon, Werkzeug für ein Werk. Solange das Denken aber innerhalb des Horizonts handwerklich-manufakturieller Produktion zu Hause war,34 läßt sich unbeschadet aller epochaler Grenzen ein Bogen ziehen von den frühen Griechen bis zum deutschen Idealismus. Immer waren Produzent und Produkt durch die Mitte der produktiven Bewegung selbst zusammengeschlossen, die auch und gerade als menschliche35 den Charakter natürlicher Produktion hatte. Dadurch blieb sie ihrerseits durch die ganze produktive Natur (phýsis) bezogen auf Gott als deren produktiven Grund. In ihm erst als im actus purus und primus motor schaute der Mensch sein produktives Wesen an als sein meta-physisches Wesen:

Gott
|
Natur
|
Produzent – Produktion – Produkt.

Mit der industriellen Revolution ereignet sich jedoch etwas geschichtlich Beispielloses: Die erstlich-produktive Natur erweist sich als Material der Arbeit, die menschliche Produktivität (wiewohl nicht ohne weiteres das faktische Produzieren) wird von einem Produkt, der Maschine übernommen und so dem Menschen als Menschen ›enteignet‹. Der vormalige vertikal-horizontale Doppel-Schluß

S
|
c
|
S – c – P

ist zur horizontalen Differenz geworden:

Produzent | (Produktion-Produkt).

Die metaphysische Vertikale ist darin gelöscht. Diese differierende Horizontale ist die produktionslogische Figur der industriellen Moderne, deren Denken der (mit Frege notierten) Logik der Funktion folgt:

f(a)
fProduktion-Produkt | aProduzent

– wobei das Zeichen ›|‹ die zwar durch supplementäre Funktionen verschiebbare, aber nicht mehr mit Hegel aufzuhebende Differenz anzeigt.36

Diese die ganze industrielle Moderne bestimmende Differenz wird in der medialen Moderne dispers – zum Differenzfeld, dessen strukturalistisches Paradigma die Sprache ist:

fProduktion-Produkt ▒ aProduzent,37

allgemein:

f ▒ a.

DER ZEITPFEIL

Die moderne Produktionsform schließt mit der metaphysischen Vertikalen die transzendentalen Signifikate Natur und Gott aus und damit ewige Dauer (sempiternitas) wie Ewigkeit überhaupt (aeternitas). Innerstes der Produktion ist nicht länger das nunc stans,38 sondern die sich realisierende Zeit entsprechend der modernen Konzeption von Wahrheit, »welche diese nicht als abstrakt beharrend supponiert, sondern ihres Zeitkerns sich bewußt wird«.39 Zeitlos ist, was entzeitlicht wurde, Resultat einer strukturierenden Operation, und »Strukturen halten Zeit reversibel fest« (SS 73), sie »haben eine eigene Aktualität nur in dem Moment, in dem sie benutzt werden« (WG 129 f.).

Während für mathematisch formulierbare Sätze von generellem Charakter das kommutative Gesetz der Addition gilt: x + y = y + x,40 sind philosophische Sätze virtuell in (›dialektischer‹) Bewegung. Das Verhältnis von Subjekt, Copula41 und Prädikat ›S c P‹ ist keine Gleichung: Mit der konventionellen Leserichtung von links nach rechts indiziert die Voranstellung des Subjekts den Zeitpfeil →t für den Sachverhalt selbst. Die Zeit ist dabei zu verstehen als Zeit der Produktion, worin eins nach dem andern zu tun bzw. hervorzubringen ist, sprachwissenschaftlich die syntagmatische Abszisse42 in praesentia. So ist das Urteil zu lesen als ›S →t P‹, wobei der Pfeil das Erscheinen der Sache, Rede usw. anzeigt. Im Prädikat P oder Objekt O resultiert die Bewegung, die vom Subjekt S (als von der Ur-Sache) ausgeht. Insofern stellt das klassische Urteil ›S c P‹ bzw. ›S →t O‹ das abstrakte Produktionsverhältnis überhaupt dar: Produzent – Produktion – Produkt. Näher ist die jeweilige Produktivität eine Spezifizierung der natürlichen Produktion schlechthin, das Subjekt ein produzierendes Naturprodukt:

Natur

Produzent ← Produktion → Produkt.

Und wiederum ist die Natur selber Produkt in ihrer Sichtbarkeit, weswegen die Metaphysik den Schluß zu jenem horizontal-vertikalen, explizit onto-theo-logischen Doppelschluß vervollständigt. Dessen Vertikale stellt das als Produktion gedachte, dem Hilfsverb eînai, estin etc. in den indoeuropäischen Sprachen entsprechende Sein dar: Heraklit zuerst hat das die Welt, den kósmos strukturierende Verhältnis lógos genannt: lógos eôn = seiendes Urteil.43

SEIN UND FUNKTION

Die Konfiguration des modern gedachten Seins gibt die analytische Philosophie vor: 1) prädikativ: Der Himmel ist blau: Pa; 2) Identität: Abendstern = Morgenstern: I(a,b); 3) Subordination: Pferd Pflanzenfresser: Λx(Px→Qx), 4) Existenz:44 Es gibt mindestens ein x, für das gilt, daß x P ist: ∃x(Px).45 Sie kann dafür an Freges Transformation der mathematischen Funktion in die logische Funktion anknüpfen:

»Behauptungssätze im allgemeinen kann man ebenso wie Gleichungen oder analytische Ausdrücke zerlegt denken in zwei Teile, von denen der eine in sich abgeschlossen, der andere ergänzungsbedürftig, ungesättigt ist. So kann man z. B. den Satz / »Caesar eroberte Gallien« / zerlegen in »Caesar« und »eroberte Gallien«. Der zweite Teil ist ungesättigt, führt eine leere Stelle mit sich, und erst dadurch, daß diese Stelle von einem Eigennamen ausgefüllt wird oder von einem Ausdrucke, der einen Eigennamen vertritt, kommt ein abgeschlossener Sinn zum Vorschein. Ich nenne auch hier die Bedeutung dieses ungesättigten Teiles Funktion.«46

Die analytische Ontologie denkt mithin konsequent funktional:

(2) Es kann mehrere Namen/Beschreibungen für ein und dasselbe x geben.

(4) x ist Element einer Menge.

(1) Die Menge ist eine Funktion.

(3) Die Funktion ist Element einer Menge.

Diese funktionale Seinsverfassung begreift Wittgensteins Tractatus als das moderne speculum: »Die Logik ist keine Lehre, sondern ein Spiegelbild der Welt.« (T 6.13) »Den Satz fasse ich – wie Frege und Russell – als Funktion der in ihm enthaltenen Ausdrücke auf.« (T 3.318) »Das Wesen des Satzes angeben, heißt, das Wesen aller Beschreibung angeben, also das Wesen der Welt.« (T 5.4711). Die Funktion spiegelt den logischen Raum (T 1.13), das Argument die Substanz (T 2.021). Die »sub specie aeterni« als gesättigte Funktion gespiegelte Welt wird darin angeschaut »als – begrenztes – Ganzes« (T 6.45). Die in der Verkettung und Hierarchisierung der Sätze beständig mitlaufende Differenz ›|‹ ist weder als Funktion noch als Argument ausdrückbar, wird aber (wie hier) durch beide supplementiert – ›als solche‹ wird sie gefühlt (ebd.):

»6.54 Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) / Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig. / 7 Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.«47

Das Worüber des Schweigens, das Daß der Welt (T 6.44), die produktive Differenz wird Derrida als différance und archi-écriture, als Ur-Schrift denken,48 Heidegger demzuvor als Riß: »Riß ist dasselbe Wort wie ritzen«49 – mit Luhmanns Formel »die Verletzung der Welt«50. Auch Heideggers logischer Ort ist nicht das alte Urteil, sondern der Satz und also die onto-logische Differenz von Funktion (»Sein«) und Argument (»Seiendes«):51

»Ontische und ontologische Wahrheit betreffen je verschieden Seiendes in seinem Sein und Sein von Seiendem. Sie gehören wesenhaft zusammen auf Grund ihres Bezugs zum Unterschied von Sein und Seiendem52

Einig sind sich analytische Philosophie und ›Seinsdenken‹ in der Kritik des bisherigen Denkens als »Metaphysik«, mag sie nun gegen die logische oder gegen die ontologische Syntax verstoßen: »Die Metaphysik stellt zwar das Seiende in seinem Sein vor und denkt so das Sein des Seienden. Aber sie denkt nicht den Unterschied beider.«53 Das wäre wohl wahr, wäre die Logik der klassischen Metaphysik schon die Logik der Moderne gewesen.54

FUNKTION UND MENGE

Aber das alte Europa ist darum das alte, weil es anders dachte. Es fängt an mit den »Seienden«, den ónta. Sie sind das, was dem Allgemeinen, dem »vom Ganzen her« Gedachten, kathóloy, zugrunde liegt als die hypokeímena, die Subjekte. Zuhöchst sind darum auch »die« Natur und ihr Grund Individuen, átomoi phýseis. Das Paradigma des alten Europa ist die Identität. Umgekehrt geht die Moderne aus von der Differenz und also von der Menge, die ihre Elemente allererst konstituiert. Ihr Individuum ist Poes Man of the Crowd, »ein Unbekannter, der seinen Weg […] so einrichtet, daß er immer in deren Mitte bleibt. Dieser Unbekannte ist der Flaneur«,55 der sich systemtheoretisch entpuppen wird als der (beobachtete) Beobachter.56 Noch dort, wo vom einzelnen Individuum her argumentiert zu werden scheint, wie bei Kierkegaard, Nietzsche, Husserl und den Existenzphilosophen, ist die zu denkende Struktur funktional.

»Ein Subjekt ist ein Name für ein Ding (Individuum), ein Prädikat ein Name für eine Eigenschaft und ein Funktor ein Name für eine Funktion (Operation). In der Aussage Der Turm des Ulmer Münsters ist hoch kann man Der Turm des Ulmer Münsters als Subjekt und ist hoch als Prädikat auffassen. Man kann diese Aussage aber auch weiter analysieren, indem man Der Turm des und Münsters von als Funktoren und Ulm als Subjekt nimmt. / Das Prädikat ist hoch ist ein einstelliges Prädikat, denn es läßt sich durch ein Subjekt zu einer aristotelischen Aussage ergänzen.«57

Funktionen sind Abbildungen von einer Menge (bzw. Klasse) in eine andre.58 Die abgebildete Menge ist der Definitionsbereich (D), die andre der Wertebereich (W). Ist x die unabhängige, y die abhängige Variable und wird jedem Element x є D durch eine Zuordnungsvorschrift genau ein Element y є W zugeordnet, heißt f eine Funktion von der Menge D in die Menge W. So kann eine Menge von Kalendertagen abgebildet werden in die Verkaufsmenge einer Neuerscheinung auf dem Buchmarkt oder in die Menge von Erwähnungen in den Medien, die Verkaufsmenge in die Erwähnungsmenge usw. Der Wertebereich einer Funktion kann wieder als Definitionsbereich einer anderen Funktion, jeder Funktionswert als Argument und also als Element des Definitionsbereichs einer höheren Funktion, jede Menge als Element einer weiteren Menge genommen werden. Das ist das für das Denken im 20. Jahrhundert konstitutive Undsoweiter (oder Meta-):

… f2{f1[f(a)]},

wobei das Argument a sich seinerseits (wenigstens virtuell) weiter auflösen läßt, so daß

… f2{f1[f(a)]} …

– »Element« ist es jeweils nur in »seiner« Menge.

Entsprechend ist das System im Luhmannschen Sinn eine Menge, die sich ihre Elemente selbst gibtGegebenesihrPhänomen/Signifikat59SinnBedeutungUrdoxa6061