Kapitel 4


5. August 2032, 12:04 Uhr – zwei Monate vor dem Ausbruch – Abilene, Texas

 

Der Baumarkt Bible befand sich in der Walnut Street 333 zwischen der 3rd und 4th Street des historischen Stadtkerns. Da es sich um ein traditionelles Familiengeschäft mit sehr umfangreichem Sortiment handelte, zog es Marcus Battle gegenüber anderen in Abilene vor.

Er bremste mit seinem 2025er Ford F150 am Straßenrand und parkte vor der grünen Markise über dem Eingang. Dann ließ er seinen Blick über die breite Straße hinter dem Hauptpostamt schweifen. Hier und dort standen weiße Paketwagen auf dem eingezäunten Parkplatz. Er trat durch die offene Glasdoppeltür. Gleich neben der Tür, hinter einer breiten, blauen Theke, die nach einer Seite hin geöffnet war, saß eine Frau auf einem Drehstuhl. Marcus grüßte, nahm sich einen Korb und zog durch die Gänge, während er die Liste auf seinem Handy mit dem abglich, was er im Kopf hatte.

Bei Bible einzukaufen war wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Seit der Eröffnung vor neunzig Jahren hatte sich kaum etwas in dem Laden verändert. Dem vertrauten Ambiente wohnte etwas Beruhigendes inne, wenngleich Marcus nicht entging, wie ironisch es war, hier Besorgungen für das Ende der Welt zu erledigen.

Don, ein netter, älterer Herr, kam zu ihm und klopfte ihm auf den Rücken. »Darf ich Ihnen helfen?« Als sich Battle umdrehte, lachte er. »Oh, Marcus! Mit der Baseballmütze auf dem Kopf hab ich dich gar nicht erkannt.«

»Hi, Don.« Marcus nahm die Hand des Mannes und drückte sie fest. »Ich komme schon klar, heute brauche ich nicht viel.«

»Wann kommt's denn?«, fragte Don und steckte die Hände in die Taschen seiner Arbeitsschürze.

»Was meinst du?«

»Na, das dicke Ende.«

Marcus lachte kurz und ließ eine Packung Mikro-Batterien in den Korb fallen. »Kann ich nicht sagen, Don. Ist 'ne Sonntagsfrage. Jedenfalls möchte ich bereit sein, wenn es soweit ist.«

Der Alte zwinkerte. »Ich finde, Sonntage sind überhaupt eine gute Zeit, um Vorkehrungen zu treffen. Wir warten schon seit Wochen auf euren Besuch.«

»Ich will keine Ausflüchte machen«, erwiderte Marcus. »Wir konnten uns bisher einfach nicht die Zeit nehmen. Sollten wir aber, ich weiß. Uns tut's gut, und der Kleine liebt die Sonntagsschule.«

»Nicht dass ich's euch ankreiden würde«, versicherte Don. »Wirklich nicht, aber es wäre schön, euch mal wieder zu sehen.«

»Schon klar, wenn ich in einem Geschäft kaufe, das ›Bible‹ heißt, muss ich damit rechnen, in ein Gespräch über die Kirche verwickelt zu werden, richtig?«

Don zwinkerte erneut, hielt Marcus einen hochgestreckten Daumen vor und trat den Rückzug an. »Lass wissen, falls du etwas Bestimmtes suchst … und grüß Sylvia von mir.«

»Werde ich, Don.« Nachdem er mehrere Packungen Mignonzellen in den Korb gelegt hatte, suchte er im nächsten Gang nach LED-Birnchen. Diese hatten zwar kein Verfallsdatum, doch er kaufte gern auf Vorrat, fünf für jede Lampe im Haus. Zum Aufstocken brauchte er noch ein paar.

Hinter einem Regal voller Pflanzenschutzmittel stieß er wieder auf Don, der neben einer Frau stand, die sich am Kopf kratzte.

»Hey, Marcus«, begann der Alte. »Habt ihr Haustiere?«

»Nein.« Battle machte einen weiten Bogen um die Kopfkratzerin. »Wieso?«

»Diese junge Dame hier ist schon der fünfte Kunde in einer Woche, der etwas gegen Läuse braucht.«

»Ist das denn ungewöhnlich?«

»Ja, weil die Tierärzte keine Mittel mehr haben«, erklärte Don. »So wie es aussieht, gehen die Läuse gerade um.«

»Noch nichts davon gehört.«

»Liegt wohl daran, dass es diesen Sommer außerordentlich warm ist.«

»Hier unten doch immer.« Marcus zwängte sich an Don vorbei und blieb am Ende des Gangs stehen. »Wäre ich also nicht drauf gekommen.«

»Da hast du auch wieder recht.« Don zwinkerte ein weiteres Mal und widmete sich wieder der Frau mit dem Juckreiz.

Als Marcus alles zusammengetragen hatte, stellte er den vollen Korb auf der Theke ab. Ihm blieb noch eine halbe Stunde, um das eine oder andere im Supermarkt zu kaufen und rechtzeitig, wie er es Sylvia versprochen hatte, nach Hause zurückzukehren.

»Kein Entlausungsmittel, Marcus?«, fragte die Bedienung mit Blick auf die Batterien, mehrere verzinkte Leitungsrohre und einen Gummihammer. »Du dürftest heute der Erste sein, der keins kauft oder mich fragt, wo wir es ausliegen haben.«

»Wusste gar nicht, dass ihr welches führt«, entgegnete er und griff zu seinem Telefon. Nachdem er es über den Scanner am Rand der Theke gehalten hatte, wartete er auf die Ausgabe des Gesamtbetrags.

»Es geht weg wie geschnitten Brot«, fügte sie hinzu, während sie den Scan beendete. »Verrückt, nicht wahr? Das Zeug hält sich nicht lange hier. Wie ich hörte, ist das ein weltweites Problem. Flöhe sind die neuen Heuschrecken.« Sie lachte.

Marcus schloss die Augen und entsann sich des genauen Wortlauts aus dem Buch Exodus. »Da sprach der Herr zu Mose: Strecke deine Hand über Ägypten, damit die Heuschrecken über Ägypten kommen und alles Gewächs im Lande auffressen samt allem, was vom Hagel übrig geblieben ist!«

»Hut ab«, sagte die Frau und nickte. »Wusste gar nicht, dass du so bibelfest bist.«

»Ich häng's nicht an die große Glocke.«

»Dann hoffen wir mal, dass das nicht das Ende aller Tage ist.« Sie kicherte. »Wäre doch schrecklich, wenn uns Gott vor den Heuschrecken verschont, und uns doch linkt, indem er sie lediglich gegen Läuse ausgetauscht hat.«

»Ich bin froh, dass wir keinen Hund haben.« Marcus packte seinen Einkauf selbst in Tüten.

»Ich habe drei Katzen«, sagte sie und steckte die Quittung in eine der Plastiktaschen. »Die tragen Flohhalsbänder, das scheint zu wirken. Außerdem lass ich sie nicht raus, das hilft auch.«

»Garantiert.« Marcus lächelte. »Bis demnächst.« Als er die Tüten gerade auf die Ladefläche des Fords stellte, vibrierte sein Telefon.

»Ich hab mich noch nicht verspätet«, begann er vorausahnend.

»Darum ruf ich nicht an«, erwiderte Sylvia. »Ich brauch noch ein paar Sachen mehr aus dem Supermarkt. Kriegst die Liste aufs Handy.«

»Steht auch mehr Wein darauf?«

»Ja«, sagte sie. »Beeil dich.«

»Mach ich. Schick's per Mail. Hab dich lieb.«

»Ich dich auch.«

Marcus wusste, sie verlebten gerade die goldenen Jahre ihrer Ehe.

Kapitel 9


13. Oktober 2037, 13:47 Uhr – Jahr 5 nach dem Ausbruch – östlich von Rising Star, Texas

 

»Ist es gespannt?«, rief Battle. »Es muss straff sein. Lass es nicht durchhängen.«

Lola, die unter einem Baum kauerte, schaute auf, sodass ihr Kopf über dem hohen, gelben Gras auftauchte. »Ich hab es so fest wie möglich gezogen.«

Sie befanden sich fünfzig Yards voneinander entfernt in der Einfahrt zum Grundstück, beide an Eichen, deren Wipfel langsam lichter wurden. Da der Schotterweg größtenteils überwachsen war, fiel er vom Highway aus kaum auf.

Battle zupfte an einer Angelschnur, um Lolas Arbeit zu überprüfen.

»Gut gemacht«, ließ er sie wissen. »Bleib da.«

Nun öffnete er eine Leinentasche und nahm seine Utensilien heraus. Zuerst klappte er ein Spydercomesser auf und schnitt den Deckel eines Konfettiknallrohrs aus Plastik ab. Dann hielt er den mit Kunststoff verkleideten Zünder am oberen Ende des Behälters fest und träufelte ein Döschen Schießpulver hinein. Nachdem er eine Knallerbse in den Deckel gesteckt hatte, befestigte er das Rohr an der Schnur, zog noch einmal an den Knoten an beiden Enden und umwickelte es mit Isolierband. Schließlich schnitt er ein großzügig bemessenes Stück Faden zurecht und machte es am längeren Ende der Schnur fest.

»Wie viele solche Fallen schweben dir vor?« Während er an dem explosiven Stolperdraht fummelte, stand Lola ein paar Fuß entfernt und stützte sich auf den Schirm.

»Vier.«

»Das wird die Männer nicht umbringen«, fuhr sie fort. »An so einem kleinen Feuerwerkskörper tun sie sich nicht mal weh, oder?«

Battle band die Schnur jetzt an den anderen Baum. »Nein, aber der Knall verwirrt sie, und ich weiß, wo sie sind.«

»Ich dachte, du hättest Bewegungsmelder.«

»Hab ich auch, doch die melden nur, wenn jemand das Gelände betreten hat, aber nicht wo. Hiermit kann ich Eindringlinge viel schneller aufspüren.«

»Anhand des Lärms?«

»Ja, und weil es blitzt. Außerdem steht anzunehmen, dass die Kerle das Feuer eröffnen werden. Die Kracher hören sich an wie Schüsse. Gut möglich, dass sie reagieren, bevor sie nachdenken.«

Battle griff wieder in seine Tasche und nahm einen flachen Metallgegenstand heraus, dazu eine Handvoll Nägel, einen Hammer und einen Plastikbeutel voller Patronen.

»Was ist das?«

»Eine Sprengfalle Kaliber zwölf.«

»Und was bewirkt die?«

Er schaute zu ihr auf und seufzte. Ihm war nicht danach, sie zu belehren. Er hielt die Platte niedrig an den Baumstamm – nur ein wenig über der Angelschnur – und hämmerte sie mit vier der dicken Nägel ins Holz. Dann nahm er das lose Ende des Fadens und verdrillte es an der Seite der Falle zu einem Zünder, wobei er darauf achtete, nicht zu fest zu ziehen und das Knallrohr dadurch auszulösen.

Nachdem er die Schnur noch einmal geprüft hatte, drückte er eine der roten Patronen in eine Öffnung hinter dem Zünder. »Das sollte klappen.«

»Was denn?«

»Die Munition enthält Reizgas. Sobald jemand über die Schnur stolpert, feuert die Sprengfalle die Kugel horizontal auf ihn. Trifft sie, entweicht das Gas, und dann geht's ihm richtig dreckig.«

»Aber er stirbt nicht davon, oder?«

»Nein, es setzt ihn außer Gefecht, während ich Zeit zum Handeln gewinne. Einen oder zwei von ihnen derart auszuhebeln löst eine Kettenreaktion aus. Bringt man einen dazu, nach Hilfe zu rufen, sind dadurch noch zwei oder drei weitere beschäftigt. Würde ich sie sofort töten, nutzen sie mir nichts mehr.«

»Wie viele von diesen Fallen sollen es sein?«

»Auch vier, eine an jeder Stelle, wo sie sich Zugang verschaffen können.«

»Hast du so was schon mal gemacht?«

Battle griff zu seiner Stofftasche und stand auf. »Nein.«

»Wieso nicht?«

»Ich habe nur genug Material, um es einmal durchzuziehen«, erklärte er. »Davon abgesehen war es nie nötig.«

»Funktioniert das auch wirklich?«

»Das wird sich zeigen. Ich hab aber noch mehr Überraschungen parat.«

Sie gingen zum Ostrand des Grundstückes, wo ein Zaun Battles fünfzig Morgen vom Land einer verlassenen Pferderanch trennte. Dieser war nur hüfthoch und hätte deshalb höchstens träge Gäule aufgehalten, die früher dort eingesperrt gewesen waren.

Es gab nur eine Stelle, an der die Männer seines Erachtens mit höherer Wahrscheinlichkeit als anderswo über den Zaun kommen würden, und zwar dort, wo er nach Nordwesten vom Haus wegführte. Battle spannte von diesem Punkt aus in beide Richtungen Angelschnur, indem er sie an der Oberkante des Zauns entlangführte. Die Sprengfalle wurde hier so angebracht – an einem Pfahl ungefähr in der Mitte des Abschnitts –, dass sie nach oben feuerte. Er wusste, dass es reine Glückssache war, ob die Kugel treffen würde, doch besser eine zusätzliche Sicherheitsvorkehrung als nichts.

Die dritte Kombination aus Stolper- und Sprengvorrichtung baute er diagonal zwischen Haus und Scheune auf einer Achse von Nordwesten nach Südosten auf, die letzte auf einem überdachten Gehweg, welcher von der Garage hinters Haus führte.

Danach trank er einen Schluck Wasser aus seiner Feldflasche und lehnte sich mit Blick in den Garten an die hintere Mauer. »Also schön, jetzt zum interessanten Teil. Pass gut auf.«

»Was meinst du mit interessant?«

»Wir stellen Fußbrecher auf.«

»Was soll das sein?«

»Wie der Name schon sagt: Sie brechen Eindringlingen die Füße. Die können dann noch schlechter laufen als du gerade.«

Lola wischte Schweiß von ihrer Stirn und ließ sich die Feldflasche reichen. »Nicht witzig.«

»Sollte es auch nicht sein«, erwiderte Battle. »Ich will sie verletzen, nicht töten, jedenfalls nicht sofort. Ein Verletzter stellt immerhin ein viel schwierigeres Problem dar als ein Toter.«

»Das hast du schon hundertmal gesagt.«

»Es stimmt eben. Komm mit.«

Nachdem er eine Schaufel und einen Stoß Bretter aus dünnem Sperrholz aus der Scheune geholt hatte, stapften sie durchs Gras zum Baumhaus auf der Südseite. Er ließ die Bretter vor dem Baum fallen, nahm eine Farbsprühdose aus der Stofftasche und schüttelte sie.

»Gibt es eigentlich etwas, das du nicht in dieser Tasche hast?«, fragte Lola.

»Du fühlst dich allmählich zu wohl hier.«

»Was willst du damit andeuten?«

»Dein Sarkasmus«, fuhr er fort, während es in der Dose klapperte. »Er zeugt von jemandem, der seiner selbst zu sicher ist. Sei das nicht. Du wirst nicht hierbleiben. Sobald dein Knöchel …«

»Ich fühle mich alles andere als wohl, Battle.« Sie trat einen Schritt zurück und kniff die Augen ein wenig zusammen. »Von meinem Sohn fehlt jede Spur – vielleicht ist er tot –, mein Fußgelenk ist verstaucht, und die einzige Person, die mir helfen könnte, verstößt mich. Mir geht's beschissen. Sarkasmus gehört außerdem zu den Bewältigungsstrategien. Du bist ein echtes …«

»Na gut, dann fühlst du dich eben nicht wohl. Jetzt möchte ich, dass du achtgibst.«

Lola schnaubte und warf den Schirm auf die Erde. Dann verschränkte sie ihre Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf, als raube er ihr die Zeit. »Was?!«

Battle zog den Deckel von der Farbdose und sprühte ein gelbes Viereck auf den teils bewachsenen Sandboden. Dann ging er fünf Schritte weiter und markierte noch einen Fleck. Das wiederholte er, bis er den Schotterweg am Einfahrtstor erreichte.

»Falls du aus dem Haus fliehen musst, sieh zu, dass du dich auf der linken Seite des Weges hältst. Auf dieser könnte es dich erwischen.« Battle setzte mit der Schaufel am Rand des ersten Farbvierecks an. Er hob Erde aus, bis das Blatt ganz in der Mulde verschwand.

Es war eine halbe Stunde vergangen, bis er an allen Markierungen Löcher gegraben hatte. Lola blieb währenddessen unter dem Baumhaus sitzen und stieß erst wieder zu ihm, als er fertig wurde.

Er ging an dem ersten Loch auf die Knie, nahm eines der Sperrholzbretter und legte es hinein. Es passte genau in die quadratische Mulde und garantierte für den nächsten Schritt im Bauplan eine glatte Oberfläche.

»Würdest du mir so ein silbernes, zylinderförmiges Ding aus der Tasche suchen?«, bat Battle. »Die sehen aus wie schwere Geschosse.«

Sie kramte herum, bis sie zwei Stück gefunden hatte. »Was sind das für Teile?«

»Schwere Geschosse.«

»Sarkasmus deutet darauf hin, dass …«

»Es ist Kaliber-50-Munition und die wichtigste Komponente dieser Fallen. Jetzt gib mir bitte genug Nägel und den Hammer.«

Sie schloss eine Faust um ein halbes Dutzend Nägel und reichte sie ihm. Er beugte sich über das Loch und schlug einen Nagel in das Brett am Boden. Vier weitere hämmerte er weniger tief in einem engen Radius um den einen in der Mitte. Zuletzt legte er die Patrone Kaliber 50 auf die Köpfe der vier Nägel, sodass sich der tief in der Erde steckende Nagel genau darunter befand.

Mit einem weiteren Quadrat aus Balsaholz deckte er die Mulde ab und tarnte sie mit einer dünnen Schicht aus Sand und Gras, wodurch sie nicht mehr zu sehen war.

»Das ist ein Fußbrecher«, erklärte er. »Dieses Brett ist zu dünn, um das Gewicht eines Menschen zu halten, also bricht es ein, sodass er auf die Patrone tritt, die gegen den Nagel drückt. Der fungiert dann als Schlagbolzen … die Patrone geht los und zerfetzt seinen Fuß oder Knöchel. Unschöne Angelegenheit.«

»Wie bist du darauf gekommen?«

Battle lachte. »Das habe nicht ich mir ausgedacht, sondern die Vietnamesen. Ähnliche Fallen haben sie überall im Dschungel im Süden ihres Landes aufgestellt, um unsere Truppen aus dem Hinterhalt zu verletzen.«

»Und du stellst sie überall auf dem Hof vor dem Haus auf?«

»Nur auf der breiteren Seite. So kommen die Typen dem Haus nicht zu nahe. Vergiss bloß nicht, links neben der Einfahrt zu laufen, falls du fliehen musst.«

»Hoffen wir, dass keiner von uns beiden zu fliehen braucht.«

 

13. Oktober 2037, 14:15 – Jahr 5 nach dem Ausbruch – Abilene, Texas

 

Das Kartell war so groß, dass es die Auffassungsgabe der meisten Überlebenden überstieg. Selbst seine Führungsriege, die seine Macht in weite Bereiche und Regionen aufteilte, wusste nicht genau, wie groß.

Als die Zivilisation in den Tagen nach dem Pestausbruch unterging und Verzweiflung über Vernunft siegte, übernahmen Kriminelle unterschiedlicher Art die Kontrolle. Im Anschluss an monatelange blutige Gebietskriege, in deren Rahmen sich die Überlebenden sinnloserweise gegenseitig dezimiert hatten, erzielten die zahllosen Parteien eine Einigung. Statt einander weiter zu bekämpfen, traten sie gegen die legitimen Herrscher und verwiesen sie in ihre Schranken.

Ausgehend von kleinen, voneinander abgekoppelten Enklaven sicherten sie ihr Land ab und verfügten so über weite Teile der Flächen zwischen dem Mississippi im Osten, dem Red River im Norden, den Sandia Mountains im Westen sowie dem Rio Grande im Süden. Letzterer war eine leicht durchlässige Grenze, und das neue, gefestigte Kartell erachtete die traditionellen Drogenbanden Mexikos als Brüder, falls nicht sogar Schutzherren.

Die Männer, die zu Anführern aufstiegen, waren die bösesten, moralisch verdorbensten Mitglieder. Sie wurden nicht in ihre Positionen gewählt, sondern ergriffen sie und gingen über die Leichen derjenigen, die sich ihnen in den Weg stellten.

Einer von ihnen war Cyrus Skinner, skrupellos auf sich selbst bedacht und vor der Katastrophe ein Gefängniswärter in Südtexas, wo er mit Drogen gehandelt hatte. Sein Stiernacken und die breite Brust passten zu seiner kehligen, vom Rauchen heiseren Stimme. In seinem Bereich war er König und Richter, Geschworener und Vollstrecker zugleich.

Jetzt saß er in seinem Büro, einem Hinterzimmer in der Ecke des Hauptquartiers respektive der ehemalige Pausenraum der Angestellten des früheren Baumarkts. Er lehnte sich in seinem Sessel mit den rissigen Lederpolstern zurück und hatte die Füße auf den schwarzen Metallschreibtisch gelegt. Zigarettenqualm umwölkte seinen Kopf und vermischte sich mit Staubkörnern, die in der Luft tänzelten. Ein fetter Mann, dessen eine Hand in Mull gewickelt war, stand ihm gegenüber und pochte darauf, dass Skinner etwas für ihn klärte.

»Er hat mich angeschossen«, empörte sich Rudabaugh. »Damit muss er irgendeine Regel gebrochen haben. Du solltest in der Lage sein, gegen ihn durchzugreifen.«

Skinner schaukelte leicht in dem Sessel, der knarrte, weil der Mann so schwer war. Er zog an einer halb gerauchten Zigarette, dass die Asche rot aufglühte. »Vermutlich«, entgegnete er.

Rudabaugh rückte seine Gürtelschnalle zurecht, nachdem er die Hose hochgezogen hatte. »Vermutlich was

»Vermutlich hat er eine Regel gebrochen. Offen gestanden, Rud, ist mir das völlig schnuppe. Ihr seid zwei erwachsene Männer. Ihr habt gegeneinander gekämpft, und er ist der Sieger.«

»Es gab keinen Kampf, Cyrus. Er hat angefangen und mir ein Loch in die Hand geballert!«

»Wenn ich sage, ihr habt gekämpft, dann war das so, Rud.«

»Also wirst du nichts unternehmen? Du lässt es ihm durchgehen?«

Eine Stimme von der Tür hinter Rudabaugh nahm Skinner die Antwort ab: »Ganz genau, er lässt es mir durchgehen.«

Der Untersetzte schaute über seine Schulter zurück. An den Türrahmen gelehnt mit den Händen in seinen Hosentaschen stand Queho. Sein Pistolenholster baumelte tief unterm Beckenknochen, und er hatte seinen Hut so weit zurückgeschoben, dass man seinen spitzen Haaransatz sah.

»Du warst nicht zu diesem Treffen eingeladen«, beschwerte sich Rudabaugh. »Das ist eine Sache zwischen Cyrus und mir.«

Da lachte Queho kurz. »Klingt für mich eher so, als wolltest du den Boss in eine Sache zwischen dir und mir hineinziehen.« Er machte seinen Hals lang, um an Rudabaugh vorbeizuschauen und Skinners Blick zu suchen. »Denkst du nicht auch, Skin?«

Der Gefragte nahm die Füße vom Tisch und lehnte sich in seinem knarrenden Drehstuhl nach vorn. »Jepp, das tue ich. Ehrlich gesagt, Queho, habe ich keine Zeit hierfür. Ihr zwei müsst das unter euch klären. Heute Abend habt ihr einen Auftrag zu erledigen.«

Rudabaugh drehte sich so zur Seite, dass er beide Männer sehen konnte. Schweiß perlte an seiner Oberlippe. Er nestelte erneut an seiner Gürtelschnalle. »Für mich ist das noch nicht vom Tisch. Das letzte Wort muss erst noch gesprochen werden.« Nachdem er an seinen braunen Hut gefasst hatte, um sich von Skinner zu verabschieden, grunzte er und zwängte sich an Queho vorbei durch die Tür, nicht ohne ihn anzurempeln.

Der Klumpfüßige ließ sich nicht provozieren, sondern lachte, während er zu Skinners Schreibtisch ging. Er nahm auf der Kante vor ihm Platz. »Ist das denn zu fassen? Er belästigt dich deswegen?«

Der Captain kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Ich bin genauso wenig ein Waisenknabe wie sonst jemand hier, aber du kannst nicht herumlaufen und einen anderen Kartellboss anschießen. Jedem anderen außer dir hätte ich dafür selbst eine Pfote perforiert.« Er lächelte, zog noch einmal an der Kippe und stieß den Qualm aus.

»Rud ist uns nicht ebenbürtig, Skin«, rechtfertigte sich Queho. »Nur ein fetter, behäbiger Säufer. Einzig durch Beziehungen zu seinem Posten gelangt.«

Skinners Umgänglichkeit verflog mit dem Rauch. Er machte ein finsteres Gesicht und neigte sich wieder nach vorn, während er mit dem Zigarettenstummel auf seinen Untergebenen zeigte. »Du bist einzig durch Beziehungen zu deinem Posten gelangt. Zwing mich nicht, meine Entscheidung zu bereuen, Queho. Und jetzt runter von meinem Schreibtisch und raus aus meinem Büro, bring diesen Mad Max um.«

Queho sprang auf und trat zurück. Auch er fasste sich respektvoll an seinen Hut.

»Sorry, Skin, mein Fehler.«

»Schon in Ordnung. Vergiss nur nicht, wo du stehst. Rud und du, ihr begrabt euer Kriegsbeil.«

Queho nickte, drehte sich um und wollte hinausgehen.

»Wie werdet ihr es abwickeln?« Skinner zog einen neuen Glimmstängel hinter seinem Ohr hervor und steckte ihn an. »Hast du einen gescheiten Plan? Konntest du was Nützliches von Pico erfahren?«

»Wir werden ihn nicht heute Nacht umbringen«, sagte Queho. »Zuerst bringen wir in Erfahrung, wie gut er sich verteidigen kann. Muss nicht sein, dass heute noch mehr von uns draufgehen.«

»Wie du es für am besten hältst, Queho. Enttäusche mich bloß nicht, oder ich überlege mir, vielleicht doch auf Rudabaugh zu hören.« Er zog an der Zigarette und legte seine Füße wieder auf den Tisch.

Queho steckte die Hände zurück in seine Taschen, verließ das Büro und ging zum Tresen. Skinner lachte in sich hinein, als seine rechte Hand verärgert abrückte. Er würde Rud gegenüber Queho niemals bevorteilen, egal, worum es ging. Allerdings durfte er Letzteren, einen ehemaligen Sträfling, der hinter Gittern für ihn gearbeitet hatte, nie derart in Sicherheit wiegen, dass er glaubte, er sei zu wichtig, um seinen Platz aufgezeigt zu bekommen.

Der Captain besaß die Gabe, seinen Mitmenschen so viele Freiräume zu gewähren, dass es ihnen zum Verhängnis wurde. Dies hatte er in allen Variationen durchexerziert, mit ihnen gespielt. Kaum dachten sie, er würde ihnen gegenüber nachlässig, bekamen sie einen umso empfindlicheren Stich versetzt. Erst wenn sie glaubten, es sei endgültig um sie geschehen, ruderte er zurück und vermittelte ihnen das Gefühl, wieder gebraucht zu werden.

Er hielt Queho häufig genug an der langen Leine, um die anderen zu beunruhigen. Hin und wieder jedoch, wenn der Kerl zu weit über die Stränge schlug, nahm Skinner die Zügel fest in die Hand und gab ihnen einen Ruck.

Für Männer wie ihn war die Welt nach der Pest wie geschaffen. Er befand sich in seinem Element. Es gab keine Regeln außer denjenigen, die er selbst aufstellte, und selbst darüber setzte er sich hinweg, wie ihm der Sinn stand.

Kapitel 12


9. November 2032, 23:00 Uhr – Tag 38 nach dem Ausbruch – östlich von Rising Star, Texas

 

Marcus saß im dunklen Arbeitszimmer seines Hauses und starrte auf den Computermonitor, während er mit beiden Händen seinen Kopf hielt. Er las wiederholt den gleichen Text und suchte widersprüchliche Nachrichten auf anderen Webseiten, doch er konnte keine finden.

 

Die Seuchenschutzbehörde bestätigt, dass die unter dem Kürzel PP1 oder schlicht Pest bekannte Lungenpest medikamentenresistent ist. Im Rahmen einer Pressekonferenz heute Morgen gab Dr. phil. Mateo Negro, der stellvertretende Direktor der Abteilung Wasserhygiene vom Landeszentrum für neue zoonotische und ansteckende Krankheiten den anwesenden Reportern zu verstehen, dass die Aussichten finster seien.

»Trotz früher Anzeichen dafür, dass eine medikamentöse Behandlung mit Tetracyclin und anderen Breitspektrum-Antibiotika die Langzeitwirkungen der Krankheit eindämmen könne, wissen wir nun, dass dies nicht zutrifft«, so Dr. Negro, der ferner dem PP1-Notfallreaktionsteam vorsteht. »Alles deutet darauf hin, dass sich die PP1-Bakterien unfassbar schnell anpassen. Sie sind mittlerweile resistent gegen jede getestete Kombination existierender Medikamente, darunter Streptomycin, Gentamicin und viele Mischungen mit den erwähnten Mitteln.«

Als Sprecher des Seuchenschutzbüros Atlanta, Georgia, fügte Dr. Negro hinzu, dass mit dem jüngsten Erregerstamm von Yersinia pestis infizierte Personen höchstwahrscheinlich binnen zweiundsiebzig Stunden sterben.

»Schauen wir uns die Geschichte an«, erklärte er, »belief sich die Sterberate bei unbehandelter Pestsepsis oder Lungenpest auf neunzig Prozent. Wie wir feststellen müssen, beträgt die Sterberate bei dieser neusten Art von bakterieller Erkrankung hundert Prozent. Selbst wenn Betroffene behandelt werden, sterben sie in fast siebenundneunzig Prozent der Fälle.«

Die Weltgesundheitsorganisation WHO berichtete gestern, sie sei im Begriff, ein Impfmittel zu entwickeln, gezüchtet mit dem Blut eines frühen Überlebenden der Krankheit aus Syrien. Allerdings könnten bis zur Fertigstellung und Erprobung Monate vergehen. Zudem arbeiten mehrere amerikanische, deutsche und britische Arzneimittelkonzerne an neuen, pestresistenten Antibiotika. Ihre Freigabe, so warnen Experten, könne auch bei schnellsten Prüfverfahren ebenfalls Monate dauern.

Sowohl die WHO als auch der Seuchenschutz raten, keine Flugreisen zu tätigen sowie große Menschenmassen zu meiden, und bitten Erkrankte, sich ihren Mitbürgern zuliebe abzuschotten.

Die jüngsten Volkszählungen 2030 ergaben eine Gesamtbevölkerung von acht Komma zwei Milliarden Menschen auf der Welt. Dreihundertdreißig Million leben in den Vereinigten Staaten. Bis heute schätzt die WHO die Zahl der Krankheitsopfer auf zwei Komma vierundsiebzig Milliarden, darunter fünfundsiebzig Millionen US-Bürger.

Diese Zahl steigt täglich exponentiell, und laut Dr. Negro sei kein Ende absehbar. »Die einzigen Menschen, die überleben«, sagte er gegen Ende der Pressekonferenz, »sind diejenigen mit natürlichen Antikörpern, und momentan können wir solche Personen unmöglich ausfindig machen. Die Inkubationszeit kann wenige Tage bis zu einem ganzen Monat betragen.«

 

Marcus klappte den Laptop zu und blieb im Dunkeln sitzen. Er hörte den Kühlschrank in der Küche brummen und die Eismaschine rattern. Ansonsten war es still im Haus. Dann hustete Wesson.

Es klang wie Pseudokrupp, aber mit Schleimauswurf, und wurde schlimmer. Zwischendurch rang der Junge nach Luft, als sei er am Ertrinken gewesen und gerade aufgetaucht. Als Marcus ins Kinderzimmer hinüberstürzte, war Sylvia bereits dort. Sie rieb Wes mit einer Hand den Rücken und hielt ihm mit der anderen eine leere Schale vor.

»Raus damit, Wes«, sagte sie. »Übergib dich, wenn es sein muss.«

Wes hustete und schüttelte den Kopf, während er sich quälte. Marcus knipste das Licht an und trat an die andere Seite des Bettes. Dann klopfte er seinem Sohn auf den Rücken, wobei er Sylvia anschaute. Sie saß in einem luftigen Tanktop und zu großen Boxershorts auf der Kante. Die Sachen trug sie schon seit zwei Tagen. Weil sie zu wenig geschlafen und gegessen hatte, waren ihre Augen verquollen und ihre Wangen eingefallen.

»Lassen sich die Symptome irgendwie in den Griff kriegen?«, fragte sie ihren Mann, während Wes' Anfall einfach nicht aufhören wollte. Marcus verneinte kopfschüttelnd. Hustensaft, Tabletten, Schmerzmittel, Eis zum Kühlen … nichts davon hatte in den vergangenen achtundvierzig Stunden gegen die schlimmer werdenden Erscheinungen der Pest beigetragen.

Als Wes sein Husten kurz unterbrechen konnte, nahm er das Glas Wasser von seinem Nachttisch. Er trank hastig wie ein Kleinkind und rieb sich seine tränenden Augen. »Ich krieg keine Luft«, klagte er. Er klang, als wären seine Stimmbänder entzündet. »Wenn ich tief einatme, muss ich husten.«

»Dann tu's nicht«, sagte Marcus. Er legte dem Jungen eine Hand in den Nacken und drückte sanft zu. »Hol langsam durch die Nase Luft.« Die Haut des Kleinen fühlte sich heiß an. Er musste über vierzig Grad Fieber haben.

Die Eltern wechselten Blicke. Marcus erkannte, dass es Sylvia schwerfiel, ihre Fassung zu wahren. Sie hatte ebenso feuchte Augen wie ihr Sohn.

»Willst du etwas essen?«, fragte er. »Eis am Stil vielleicht? Wir haben noch Kirsche und Limette.«

Wes nickte. »Limette bitte.«

Marcus zerraufte das schweißnasse Haar des Jungen und lächelte ihm zu. »Bin gleich wieder da.« Als er zur Tür hinausgehen wollte, hielt ihn Wesson mit einer Frage zurück: »Dad«, begann er so heiser, dass man ihn schlecht verstand. »Muss ich sterben?«

Sylvia fuhr schlagartig herum und sah ihren Mann an. Sie schluchzte leise und versuchte mit leidlichem Erfolg, ihre zitternden Schultern ruhig zu halten.

Marcus legte seine Hände in ihren Nacken. Dabei schaute er seinen Sohn an, der in seinen Augen mit einem Mal gebrechlicher aussah als wenige Sekunden zuvor. Er konnte ihn nicht belügen. »Es liegt an Gott, Wes«, antwortete er lächelnd. »Falls er dich jetzt dringender braucht als wir, dann wirst du sterben, ja. Falls nicht, bist du wieder gesund, ehe du dich versiehst. So oder so wird alles gut für dich.«

»Ich will nicht sterben, Dad«, wisperte der Kleine. »Ich glaube, ich bin noch nicht bereit, um in den Himmel zu kommen.«

»Das ist niemand, Wes, zu keinem Zeitpunkt«, erwiderte Marcus. Er spürte, wie Sylvias Tränen an seinem Bauch durch den Stoff seines Hemdes sickerten. »Darum fällt Gott die Entscheidung. Er kennt stets den richtigen Zeitpunkt. Ehrlich gesagt: Sollte er dich schon so früh rufen, kann das nur bedeuten, dass du etwas ganz Besonderes bist. Es heißt, er hält dich für wichtig.«

Wes nickte seinem Dad zu. Dann streckte er eine Hand nach dem Rücken seiner Mutter aus. »Mom, schon gut«, beschwichtigte er. »Man darf traurig sein und Angst haben. Ich fürchte mich auch. Du musst das nicht vor mir verbergen.«

Sylvia drehte sich langsam wieder um und nahm den Jungen in die Arme. Wes schlang seine Arme um sie und winkte Marcus zu sich.

Der zögerte, setzte sich aber schließlich neben seine Frau und umschloss alle beide. Während er sie an sich drückte, holte er tief Luft. Falls sein Sohn sterben musste, brauchte auch er selbst nicht weiterzuleben. Beim nächsten Atemzug wünschte er sich, dass die Bakterien in seine Lunge eindrangen. Sylvia küsste den Kopf ihres Sohnes immer wieder. Ihre Nase lief; sie hatte die Augen zusammengekniffen, um Tränen herauszupressen, die nun über ihre Wangen liefen.

Marcus ließ die beiden los und stand auf. »Ich geh das Eis holen.« Er verließ das Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Nachdem er die Tür des Gefrierschranks geöffnet hatte, blieb er kurz in dem Schwall kalter Luft stehen, der herausdrang. Er langte in die Eisschachtel und suchte. Sie war leer, er hatte sich geirrt.

Kapitel 15


14. Oktober 2037, 1:27 Uhr – Jahr 5 nach dem Ausbruch – Abilene, Texas

 

Queho drehte sich und tastete auf seinem Nachttisch herum, bis er die Blechdose fand, in der er seine selbstgedrehten Zigaretten aufbewahrte. »Willst du eine?«

Seine Freundin verneinte. »Und ich dachte, du hättest aufgehört.« Sie stand auf und ging nackt durchs Zimmer.

Er beobachtete im gedämpft flackernden Licht zweier Kerzen, wie sie im Bad verschwand. Sie hatte sie aus Wachs gefertigt. Zwei Dinge beherrschte sie besonders gut. Das eine war die Handfertigung und der Verkauf von Kerzen, das andere hatten sie eben gemeinsam ausgekostet.

Queho witzelte regelmäßig, sie könne mit diesem Talent vermutlich mehr Geld verdienen. Darüber lachte sie nie, sondern konterte häufig mit der Bemerkung, Kerzen herzustellen sei für sie befriedigender.

Nun nahm er ein Feuerzeug vom Nachttisch und zündete sich eine Zigarette an. Nachdem er ein paarmal daran gezogen hatte, warf er die Dose mit dem Feuerzeug zurück. »Ich habe wirklich aufgehört.«

»Sieht für mich aber anders aus«, erwiderte seine Freundin aus dem Bad. Sie war der einzige Mensch, mit dem Queho offen reden konnte, abgesehen vielleicht von Skinner.

Sie wohnten zusammen in einem Haus an der Ecke 9th Street und Butternut. Dieser Stadtteil von Abilene hieß Original Town South. Gegenüber ihres Hauses befanden sich ein Spirituosenhandel und eine Bibliothek. Ersterer hatte jetzt nicht einen Tropfen Alkohol übrig, Letztere kein einziges Buch mehr.

Der ältere Herr, der vor der Pest sechzig Jahre lang in diesem Haus gewohnt hatte, lag dahinter begraben. Dort war sein steifer, aufgeschwemmter Leib von Queho in ein Loch geworfen worden, nachdem dieser ihn vorn im Wohnzimmer tot in einem Sessel vorgefunden hatte.

Seitdem gehörte das Anwesen dem Boss – nichts Besonderes, aber bis zum Hauptquartier war es nicht weit. Zudem wusste er, dass seine Männer es ihm hoch anrechneten, dass er sich keine der schickeren Gegenden der Stadt ausgesucht hatte. Respekt bedeutete Queho eine Menge, genauso viel wie Macht.

»Ich bin gestresst«, rief er nach einem langen Zug an der Kippe zurück. »Es beruhigt mich.«

Sie lachte. »Hab ich den Stress etwa nicht gerade aufgehoben?«

Queho kicherte leise. Dann stand er auf und ging zu einer Kommode an der gegenüberliegenden Wand. Darauf lagen, abgesehen von seinem Holster mitsamt Revolver, neben einem Aschenbecher sein Hut, seine Brieftasche und ein Schlüsselbund.

Er schnippte Asche in den Behälter und nahm ihn mit zum Bett. Jedes Mal, wenn er mit seinem Klumpfuß auftrat, pochte es dumpf auf dem Holzboden.

»Was machst du?« Seine Freundin kam in einem freizügigen Frotteekleid aus dem Bad. Er sah die Tätowierungen auf ihren Brüsten und rings um den Bauchnabel, während sie zum Bett zurückkehrte.

»Hab den Aschenbecher geholt.«

»Also …« Sie rutschte unter die Laken und fuhr Queho mit einer Hand übers Bein. »Warum bist du gestresst? Mir ist aufgefallen, dass du … geistesabwesend bist.«

»Eine Frau.« Queho zog wieder an seiner Zigarette und wartete auf ihre Reaktion.

»Ach, wirklich?« Ihre Finger wanderten an seiner Brust hinauf. »Welche Frau?«, schnurrte sie. Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet.

»Eine unserer Arbeiterinnen«, antwortete er gleichmütig. »Sie schuldet uns was und ist abgehauen. Auf der Suche nach ihr mussten ein paar Männer dran glauben.«

Sie zog ihre Hand auf seiner Brust nach unten und zeichnete den tätowierten Schriftzug an seinem Bauch nach. »Ist sie die Mörderin?«

Queho zerdrückte den Stummel im Aschenbecher. »Nein. Sie hat eine Ranch entdeckt, von der wir bisher nichts wussten. Da wohnt so ein Typ, der hat die Männer umgebracht.«

»Und die Frau?«

»Keine Ahnung, aber der Kerl ist zäh. Sagt zumindest Pico.«

Sie lachte wieder. »Pico? Du verlässt dich darauf, was dieser Wicht von sich gibt? Der hat doch Schiss vor seinem eigenen Schatten.« Queho stellte den Aschenbecher neben dem Bett ab und fasste seiner Freundin an den Oberschenkel. »Das stimmt, aber ich glaube ihm. Dieser Mann muss zäh sein. Er hat drei Männer kaltgemacht, einen mit bloßen Händen, falls wahr ist, was Pico erzählt hat.«

»Okay«, entgegnete sie. »Eine Frau ist also unauffindbar. Sie hat sich davongemacht. Riesentheater.«

Queho ließ ihr Bein los und schob ihre Hand von seinem Bauch. Er setzte sich gerade hin und drehte sich ihr zu, um ihr in die Augen zu schauen.

»Machst du Witze?«, schnaubte er. »Riesentheater? Unsere Macht, unser Lebensstil beruht auf Furcht. Wenn die Leute keine Angst vor uns haben, verlieren wir sie. Eine Frau entwischt, und wir unternehmen nichts? Dann fühlen sich andere verleitet, es auch zu probieren. Ehe wir uns versehen, knüpft uns der Pöbel öffentlich auf.«

»Schon verstanden«, sagte sie leise. »Mir leuchtet nur nicht ein, warum du dir deshalb Stress machst.«

Queho schlug mit beiden Händen aufs Bett und riss seine Augen auf. »Weil wir jetzt auch diesen Typen da draußen haben. Wir nennen ihn Mad Max. Er ist ein Problem.«

»Dann beseitigt ihn. Ich begreife nicht, warum das so eine große Sache sein soll. Ihr habt schon viele Leute aus dem Weg geschafft. Was macht diesen Kerl so besonders?«

»Das kann ich dir nicht erklären«, gestand Queho. »Ich hab so ein Gefühl deswegen, sonst nichts. ›Ihn beseitigen‹, so einfach wird das nicht, glaube ich. Er lebt bestimmt schon seit dem Ausbruch der Seuche auf diesem Land. Man könnte vermuten, wir hätten ihn bis zuletzt übersehen, aber das bezweifle ich. Dafür sind zu viele Truppen von uns losgezogen, um besetzte Höfe aufzuspüren. Er kann uns nicht entgangen sein. Ich könnte schwören, dass nicht wenige unserer Männer auf dieses Grundstück gestoßen sind und er sie beseitigt hat.«

»Nun ja, was willst du jetzt dagegen tun?«

»Heute Abend reitet ein Erkundungstrupp hin«, erzählte er und zog ein Kissen am Kopfbrett hinter sich hoch. »Die Jungs sehen sich um und verschaffen sich einen Überblick über das Gelände. Später schicken wir zwanzig bis fünfundzwanzig Mann nach, die ihm einen Strich durch die Rechnung machen werden.«

»Ach so.« Sie zuckte mit den Achseln. »Das ist also deine Lösung. Es gibt keinen Grund, dich zu stressen oder zu rauchen oder … geistesabwesend zu sein.« Sie schob eine Hand unter die Decke.

»Mag sein«, erwiderte er. »Weiß nicht. Jedenfalls kann ich es kaum erwarten, dass das Team zurückkehrt. Sobald ich etwas höre, wird mir ein Stein vom Herzen fallen. Wie viel Uhr ist es?«

»Keinen Schimmer«, antwortete sie. »Ist das wichtig?«

»Doch, schon.« Er schlug die Decke zurück und ließ seine Freundin allein im Bett liegen. »Es ist schon spät, sie sollten bald da sein.« Queho hinkte durchs Zimmer zu einem Haufen Kleider am Boden. Er bückte sich und zog sich an.

»Wäschst du dich nicht wenigstens?«

»Nein«, sagte er. »Ich muss mich mit Skin unterhalten. Warte nicht auf mich.«

Kapitel 17


12. November 2032, 17:18 Uhr – Tag 43 nach dem Ausbruch – östlich von Rising Star, Texas

 

Marcus wischte Sylvia den Schweiß von der Stirn. Sie lag halb ohnmächtig im Bett. Ihr Zustand verschlechterte sich genauso rapide, wie es zuvor bei ihrem Sohn der Fall gewesen war.

Sie atmete flach und schnell wie ein hechelnder Hund. Ihr Auswurf war dick vor Schleim und Eiter aus ihrer Lunge, der während der letzten Stunden wegen des untergemischten Blutes einen hellroten Farbton angenommen hatte.

Seit ihrer Auseinandersetzung in der Küche konnte Marcus nicht mehr schlafen. Zwischendurch war er für eine bis zwei Minuten auf dem Stuhl neben dem Bett eingenickt, aber nicht länger. Er konnte nicht riskieren, dass sie starb, während er schlief.

»Ich liebe dich, Sylvia.« Das hatte er im Laufe seiner Wache über sie in regelmäßigen Abständen wiederholt. Jetzt hielt er ihre Hand und sprach leise zu ihr.

Am ersten Tag, als sie bereits schwach und bettlägerig geworden war, hatte sie ihm, wenn er redete, in die Augen geschaut und sich gelegentlich ein leises Lächeln abgetrotzt.

»Ich weiß noch, wie es war, als ich dich zum ersten Mal sah«, hatte er erzählt. »Bei der Abschlussfeier. Der Schlechteste unseres Jahrgangs war gerade auf die Bühne getreten, um sein Geld entgegenzunehmen. Wir haben laut für ihn gejubelt. Ich habe in den Zuschauerraum des Michie Stadium geschaut, da ist mir dieses reizende gelbe Sommerkleid an einer noch reizenderen Frau aufgefallen. Du hast meinen Blick erwidert. Nach der Feier habe ich in der Menge nach deinem Kleid gesucht. Ich fand es … immer noch an dir.« Er hatte leise gelacht. »Wie sich herausstellte, war der Kerl mit dem miesesten Abschluss dein Bruder. Voll witzig. Ich tat so, als sei ich gekommen, um ihn zu beglückwünschen. Dabei stellte ich mich deiner Mom vor, und dein Bruder stellte mich dir vor.«

Sylvia hatte seine Schilderungen mit einem heftigen Hustenanfall unterbrochen. Marcus hatte ihr auf den Rücken geklopft und Schleim von ihrem Kinn gewischt. Sobald sie wieder in den Kissenberg gesunken war, hatte er ihre Hand erneut in seine genommen.