Sophienlust 220 – Einsamkeit tut weh

Sophienlust –220–

Einsamkeit tut weh

Roman von Aliza Korten

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-379-3

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»Findest du das richtig, Denise?« Temperamentvoll schmetterte Ruth Angern ihre Frage über den Teetisch hinweg. »Es will mir nicht in den Kopf, dass die beiden Würmchen zu allem Unglück auch noch in getrennten Familien aufwachsen sollen. Geschwister gehören zusammen!«

Denise von Schoenecker sah ihre Freundin ruhig an. Ruth Angern war an diesem Sonntag eigens aus Stuttgart angereist, um mit ihr das Schicksal der Geschwister Brigitte und Johannes Friedrich zu besprechen.

»Wenn es eine Möglichkeit gibt, werde ich mich einschalten, Ruth«, erwiderte Denise. »Erzähle mir bitte alles, was du in Erfahrung gebracht hast.«

»Nikolaus hat es durch seinen Arzt erfahren, mit dem er persönlich befreundet ist. Einen Abend lang haben Niko und ich ernsthaft darüber beraten, ob wir die Kinder zu uns nehmen sollen. Aber das wäre unrealistisch. Nikos Zustand wird immer schlechter. Darüber geben wir uns keinen Illusionen hin. Zwei gesunde, lebhafte Kinder könnten eines Tages zu einer großen Belastung für uns werden. Vielleicht war es vom Schicksal weise eingerichtet, dass uns Kinder versagt blieben. Ein gelähmter Vater, nein, das ist wohl doch nicht gut. Es wäre auch finanziell für uns kaum tragbar …«

»Lieb von dir, dass du dich überhaupt für die Kinder so einsetzt, die du nicht einmal kennst.

Ruth Angern hob die Schultern.

»So etwas berührt mich halt. Der Vater war Kunsthistoriker und verunglückte vor einem guten Jahr auf seiner archäologischen Expedition tödlich. Es war ein tragischer Zufall, denn er war nur auf einem Felsen ausgerutscht, fiel jedoch so unglücklich, dass er einen schweren Schädelbasisbruch davontrug und noch auf dem Transport in die nächste Klinik starb. Zurück blieb die Mutter mit den Kindern. Ob sie sich den Tod ihres Mannes so zu Herzen genommen hat oder ob das Leiden schon in ihr steckte, wird man wohl nie herausfinden. Jedenfalls erkrankte sie und starb vor ein paar Wochen.«

»Schrecklich, Ruth. Wo befinden sich die Kinder im Augenblick?«

Ruth seufzte. »Man merkt sofort, dass du dich in diesen Dingen auskennst, Denise.«

»Jemand muss für die kleinen Waisen ja sorgen. Wenn man durch so viel Jahre hindurch mit Kinderleid zu tun gehabt hat wie ich, weiß man, dass oft sofort schlimme Probleme auftreten, wenn keine weiteren Angehörigen vorhanden sind, die sich der Kinder annehmen können.«

»Sie haben eine nette junge Tante, die sofort von Heidelberg anreiste und sich um die Geschwister kümmerte. Leider ist das nur eine Übergangslösung. Das Mädchen arbeitet in Heidelberg als medizinisch-technische Assistentin und hat zunächst seinen Jahresurlaub genommen. Doch nun muss die junge Tante in den nächsten Tagen an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.«

»Daraufhin traten die beiden anderen Familien auf den Plan?«

»Ja, wie ich schon sagte, Denise. Es sind zwei verheiratete Kusinen der verstorbenen Mutter unserer Sorgenkinder. Beide Familien sind kinderlos und wohnen angeblich so beengt, dass sie nur eins der Geschwister bei sich aufnehmen können. Die Einzelheiten sind mir entfallen. Nur so viel steht fest: Die Kinder müssten in weit voneinander entfernten Städten aufwachsen und würden jeden Kontakt miteinander verlieren. Unser guter Hausarzt regte sich darüber auf und hat mit Niko lange über die Sache gesprochen.«

Denise von Schoenecker lächelte. »Und jetzt regst du dich darüber auf und hast dich glücklicherweise an Sophienlust erinnert.«

»Zwangsläufig, Denise. Niko und ich haben die Entwicklung des Heims von Anfang an verfolgt. Ich betrachte es als Schicksalswink, dass wir durch den Arzt von dem Fall erfuhren.«

»Im Allgemeinen sehen es die Jugendämter nicht gern, wenn Geschwister auseinandergerissen werden. Ich hätte also durchaus Ansatzpunkte, Ruth. Aber versprechen kann ich natürlich nichts. Zuständig wäre jedenfalls Stuttgart, wie mir scheint.«

Ruth Angern nahm aus ihrer Handtasche ein Blatt, auf dem sie die erforderlichen Angaben notiert hatte. »Hier, Denise, ich habe mir das Nötige von unserem Arzt sagen lassen. Welche Behörde infrage käme, weiß ich allerdings nicht.«

»In dieser Beziehung kenne ich mich aus, Ruth. Ist dir zufällig mitgeteilt worden, warum diese junge Tante die Kinder nicht für dauernd zu sich nehmen kann?«

»Das liegt auf der Hand, Denise. Sie soll ungefähr zwanzig sein. Mutmaßlich bewohnt sie ein eigenes Zimmer und ist als Arzthelferin von früh bis spät fest eingebunden. Das wäre sicherlich den Kindern nicht zu wünschen, denn sie müssten dann in einen Hort.«

»Ja, das sehe ich ein. Immerhin scheint die junge Dame sich mit ihren kleinen Verwandten verbunden zu fühlen. Wer opfert schon so ohne Weiteres den gesamten Jahresurlaub? Heutzutage ist so viel Hilfsbereitschaft ziemlich rar geworden.«

»Unser Arzt spricht sehr anerkennend von dem Mädchen. Leider ist mir der Name entfallen. Ich fand ihn unwichtig, weil die Tante ja doch nicht infra­ge kommt. Angeblich haben sich die beiden Kusinen der Mutter nicht gerade aus Zuneigung bereit erklärt, eins der Geschwister zu übernehmen. Vielmehr spielen da recht äußerliche Gründe mit. Es solle nicht heißen, sie hätten nichts für die Verwandtschaft übrig. Man möge ihnen keine Vorwürfe machen, sie täten, was sie könnten.«

»So etwas ist mir häufig begegnet. Im Grunde basieren derartige Hilfsangebote nur auf der Sorge, was die lieben Mitmenschen sagen könnten. Ob den betroffenen Kindern mit derartigen Motiven gedient ist, muss man leider bezweifeln.«

»Das ist auch unsere Meinung, Denise. Ich wäre schon gestern gekommen, aber ich hatte Dienst. So blieb mir nur der Sonntag.«

Denise von Schoenecker nickte ihrer etwas blassen Besucherin zu. »Du opferst also deinen einzigen freien Tag in der Woche, und der arme Niko sitzt sogar heute allein zu Hause.«

Ruth Angern hob die Schultern. »Niko hat mich regelrecht gedrängt, zu dir zu fahren, Denise. Nun weiß ich, dass du die Sache in die Hand nehmen wirst.«

Denise von Schoenecker schwieg. Sie dachte über Ruth Angern nach, die gewiss kein leichtes Schicksal hatte. Der gelähmte Mann und dazu die harte Notwendigkeit, Geld zu verdienen. Nein, Ruth und Nikolaus Angern hätten die verwaisten Geschwister gewiss nicht bei sich aufnehmen können. Wahrscheinlich wäre die Behörde mit einer solchen Regelung auch gar nicht einverstanden gewesen.

»Du müsstest dich gleich morgen früh mit dem zuständigen Amt in Stuttgart in Verbindung setzen, Denise«, drängte die Freundin. »Soviel ich verstanden habe, sollen die Kinder Ende dieser Woche zu ihren jeweiligen Pflegeeltern gebracht werden.«

»Du hast mein Wort, dass ich mich um die Angelegenheit kümmern und keine Zeit verlieren werde, Ruth. Hast du noch Zeit? Alexander würde es bedauern, dich verfehlt zu haben. Er ist mit Nick und Henrik ausgeritten. Eigentlich müssten sie längst zurück sein.«

Ruth sah auf die Uhr. »Ich will lieber heimfahren, Denise. Grüße deinen Mann und die Buben. Nick muss dir allmählich über den Kopf wachsen. Ich habe ihn lange nicht zu Gesicht bekommen.«

»Nun ja, aus Kindern werden Leute, Ruth. Sogar unser kleiner Henrik ist ziemlich groß geworden. Daran merken wir, dass wir älter werden.«

Ruth ergriff Denises Hand. »Du siehst immer noch ganz jung aus, Denise. Wie du das machst, bleibt mir ein Rätsel.«

»Die Erklärung ist recht einfach, Ruth. Ich bin glücklich, und finde in meiner Tätigkeit für die Sophienluster Kinder täglich neue Befriedigung. Irgendwie bleibt zum Altwerden kein Spielraum. Kinder und junge Menschen haben eine Menge zu verschenken – unsichtbare, aber wertvolle Gaben.«

»Dabei rackerst du dich von morgens bis abends ab. Sophienlust, deiner eigenen Familie, Schoeneich. Es ist mir unbegreiflich, wie du dieses Pensum Tag für Tag meisterst.«

»Die Dinge fügen sich ineinander, Ruth. Alexander hat Verständnis für alle Probleme und hilft mir immer. Ich fürchte, ich würde mich entsetzlich langweilen, wenn ich plötzlich nichts mehr zu tun hätte.« Denise lachte.

Ruth stand auf und reichte ihr die Hand. »Nun, über Mangel an Arbeit kann ich auch nicht klagen. Trotzdem meine ich, dass auf deinen Schultern mehr lastet als auf mir.«

»Du hast die ständige Sorge um Nikolaus, Ruth. Grüße ihn bitte herzlich. Hoffentlich könnt ihr es einrichten, uns im Herbst für die Zeit deines Urlaubs zu besuchen. Wir richten für Nikolaus ein Zimmer im Erdgeschoss, damit er mit seinem Rollstuhl leicht in den Park gelangen kann.«

»Wir freuen uns schon auf diesen Urlaub, Denise. Wird es dir auch wirklich nicht zu viel?«

»Gar nicht. Sowohl hier in Schoeneich als auch drüben in Sophienlust haben wir große Haushaltungen. Auf zwei Personen mehr kommt es nicht an. Euch beide will ich hier in Schoeneich haben. Oder möchtest du lieber im Kinderheim hausen?«

»Niko hat es hier bei euch etwas ruhiger, Denise. Deshalb wäre ich gern einverstanden, hier zu wohnen.«

»Dann ist das bei dieser Gelegenheit endgültig abgemacht, Ruth. Du hast nur noch die Pflicht, uns das Datum eurer Ankunft mitzuteilen.«

»Ja, Denise. Sowie bei uns im Betrieb die Urlaubszeiten fest eingeteilt sind, gebe ich Bescheid. Rufst du mich einmal an und berichtest mir, was mit Brigitte und Johannes geworden ist?«

»Selbstverständlich halte ich euch auf dem Laufenden. Möglicherweise fahre ich schon morgen oder übermorgen nach Stuttgart. Falls es meine Zeit erlaubt, schaue ich bei Nikolaus vorbei. Dich trifft man ja unter der Woche leider nicht zu Hause an.«

Denise begleitete die Besucherin bis vor das Gutshaus von Schoeneich und winkte deren Wagen lange nach. Dann kehrte sie in die weitläufige Halle zurück, wo das Blatt auf dem Tisch lag, das Ruth Angern ihr übergeben hatte.

Brigitte und Johannes Friedrich, fünf und drei Jahre alt … Warum wurde so kleinen hilflosen Kindern durch ein unbegreifliches grausames Geschick Elternliebe und Geborgenheit genommen? Wieder einmal empfand Denise es als ein segensreiches Geschenk, dass Sophie von Wellentin ihrem Sohn aus erster Ehe, Dominik, Sophienlust hinterlassen hatte. Im Testament der alten Dame, die Nicks Urgroßmutter gewesen war, hatte die Auflage gestanden, dass aus dem Herrenhaus eine Zufluchtsstätte für in Not geratene Kinder werden sollte.

Nick war damals erst fünf Jahre alt gewesen und hatte die Größe und den Wert der ihm zugefallenen Erbschaft in keiner Weise ermessen können. Auch war er nicht in der Lage gewesen, den letzten Willen seiner Urgroßmutter zu verwirklichen. So war diese Aufgabe ihr, der Mutter, zugefallen.

Mit dem Namen Sophienlust war für Denise das Glück ihres Lebens verbunden. Als junge Witwe hatte sie dort Einzug gehalten und bald den Gutsnachbarn Alexander von Schoenecker kennen- und lieben gelernt, der damals ebenfalls verwitwet gewesen war. Nick hatte auf diese Weise zwei Geschwister erhalten, die Kinder aus Alexanders erster Ehe – Sascha und Andrea, damals noch Gymnasiasten. Inzwischen studierte Sascha in Heidelberg, während Andrea schon verheiratet war.

Nick war ein lang aufgeschossener Gymnasiast geworden, doch der kleine Henrik, der neuen Ehe entsprossen, sorgte dafür, dass seine Eltern jung blieben.

Draußen erklangen jetzt Stimmen. Denise legte das Blatt weg und ging zur Eingangstür, um ihre Lieben zu begrüßen. Sie sahen schmuck aus, ihre drei Reitersmänner. Alexander umarmte und küsste sie. Nick ließ sich nur die Hand schütteln. Er war in dem Alter, in dem Jungen Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit nicht mögen. Henrik dagegen ließ sich küssen und schlang dabei beide Arme um den Hals seiner geliebten Mutti.

»Hat jemand Lust auf Tee und Kuchen?«, erkundigte sich Denise munter.

*

Natalie Jordan empfing Denise in einer großen Küchenschürze. Sie hatte eben gemeinsam mit den beiden Kindern einen Apfelstrudel vorbereitet. Dabei war es offenbar heiß hergegangen, denn nicht nur die Schürze trug Spuren von Mehl, sondern sogar ihr weiches braunes Haar.

Zu beiden Seiten lugten hinter der Schürze die Kinder hervor. Es waren süße blonde Kerlchen, die Fremden gegenüber offenbar scheu waren.

»Bei uns ist allerhand los, Frau von Schoenecker. Biggi und Jan wollten unbedingt etwas backen. Es war ziemlich aufregend. Jetzt kleben wir alle drei. Wenn Sie sich fünf Minuten gedulden wollen, bringe ich uns in einen menschenwürdigen Zustand.«

Denise betrat das Wohnzimmer. Sie erhaschte noch einen Blick auf die beiden Kinder, die von oben bis unten mit Mehl und Teig beschmiert waren.

Es dauerte etwas länger als fünf Minuten. Dann erschien Natalie Jordan und sah tadellos aus. Sie war eine schlanke junge Frau von zwanzig Jahren, mit großen braunen Augen, einem schön gezeichneten Mund und sanften Bewegungen. Eine Frau, der Denise sofort von Herzen zugetan war.

»Ein Weilchen werden die Kinder allein spielen, Frau von Schoenecker. Zuerst sind sie immer recht schüchtern. Aber nachher kommen sie schon. Inzwischen können wir miteinander reden. Ich bin unheimlich froh, dass Biggi und Jan nun beisammenbleiben können. Als ich gestern vom Jugendamt angerufen wurde, habe ich beinahe geweint vor Freude.«

»Eine gute Freundin hier aus Stuttgart hat mich auf den Fall aufmerksam gemacht, Frau Jordan. Bisher waren mir die Kinder nur unter ihren Taufnamen Brigitte und Johannes bekannt. Gut, dass ich von Ihnen erfahren habe, wie sie gerufen werden. Biggi und Jan, das klingt viel lustiger. Sie haben Ihre Nichte und Ihren Neffen gern?«

Natalie Jordan nickte. »Ich habe sie von ganzem Herzen lieb und bin traurig, dass ich sie nicht zu mir nehmen kann. Aber es geht einfach nicht, obgleich ich es ernsthaft in Erwägung gezogen habe. Irgendwie schäme ich mich bei der Vorstellung, dass ich Biggi und Jan im Stich lasse. Meine Schwester hätte sicherlich von mir erwartet, dass ich mich um ihre Kinder kümmere.«

»Vielleicht findet sich später eine Möglichkeit, Frau Jordan. Zunächst will ich versuchen, Biggi und Jan in Sophienlust eine glückliche Zeit zu schenken. Wir haben viele Kinder bei uns, die in ähnlich trauriger Situation sind wie Ihre kleinen Verwandten. Trotzdem geht es bei uns lustig zu. Kinder brauchen Fröhlichkeit. Sie müssen lachen und singen. Wie ich sehe, haben Sie sich auch nicht hingesetzt, um mit den beiden Kleinen zu trauern.«

Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Nein, das hielte ich für ein Verbrechen. Sie vermissen ihre Mutter und fragen immer wieder nach ihr. An den Vater können sie sich nicht mehr erinnern. Das ist traurig und tröstlich zugleich. Ich habe ihnen erzählt, dass ihre Mutti im Himmel und dort sehr, sehr glücklich ist. Trotzdem weinen die Kinder manchmal am Abend.« In Natalies braunen Augen schimmerten ein paar Tränen.

Denise fühlte selbst ein Brennen in der Kehle. »Werden Sie die Kinder häufig besuchen in Sophienlust, Frau Jordan?«, fragte sie leise.

»Ist das erlaubt? Man hört immer, dass in Kinderheimen ziemlich strenge Vorschriften bestehen. Damit sich die Kinder besser einleben, heißt es.«