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Christoph Dieckmann
Mein Abendland
Geschichten deutscher Herkunft

Christoph Dieckmann

Mein Abendland

Geschichten
deutscher Herkunft

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Meiner Gesprächspartnerin Anneliese Dieckmann-Wild,
geboren 1925 in Stettin – meiner Mutter

Das Buch erscheint auf Wunsch des Autors in nichtreformierter Rechtschreibung.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, Februar 2017

eISBN 978-3-86284-376-3

Inhalt

Mein Abendland

VORGESCHICHTEN

Luthers Satan, Gottes Knecht

Eine Suche nach dem endzeitlichen Propheten
Thomas Müntzer

Gottes Raubtier

Schwedens König Gustav II. Adolf, die »Lichtgestalt«
des Dreißigjährigen Kriegs

Immer waldeinwärts

Auf den Spuren der Brüder Grimm

Deutschlands Erwachen

Dreimal scheiterte 1848/49 die Revolution
in Baden

Hundert Jahre nach dem Tod

Zwei winterliche Reisen nach Verdun

»Und ob wir dann noch leben werden …«

Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin

Der König der DDR

Die Auferstehung Friedrichs II. von Preußen

Menschenfischers Heimathafen

Im Lübeck von Willy Brandt

Schießplatz der Supermächte

Im Land des Weltuntergangs

MORGENLAND

Der rollende Teppich

Per Eisenbahn von Istanbul nach Teheran

Tausendundeine Macht

Im Orient Usbekistan

»Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott«

Eine Predigt auf der Wartburg über das Buch Ruth

ANHANG

Quellenverzeichnis

Über den Autor

Mein Abendland

Bleibe bei uns;
denn es will Abend werden,
und der Tag hat sich geneigt.
Lukas 24,29

1

Nur von ferne kannte ich den Jungen und seinen kleinen Bruder, der nun verschwunden war. Der Junge ging in die Sechste, zwei Klassen unter mir. Dem Kleinen, Schulanfänger, hatte ich unlängst »König Drosselbart« erzählt, als er mit der ganzen Zwergenbande über den Dachboden tobte, statt Mittagsruhe zu halten. Wo blieb die Hortnerin? Kurzentschlossen schwänzte ich Chemie und kommandierte: Legt euch hin! Die Knirpse parierten, geschmeichelt, daß sich ein Großer mit ihnen befaßte. Da lagen sie auf ihren Pritschen, lauschten, kicherten und jammerten im Chor: Ich arme Jungfer zart, ach hätt ich genommen den König Drosselbart.

Und jetzt war der Kleine fort, entführt am hellichten Tag. Ich hörte in der Schule: Gestern in der Dämmerung kam der Bruder heim, verstört und abgehetzt. Er berichtete, was ihnen zugestoßen sei. Sie hätten Versteck gespielt, bei der Koppel am Schachtwald. Dickicht und Hecken boten dort reichlich Unterschlupf, doch um zu siegen, mußte der Versteckte sein Asyl unentdeckt verlassen, zum Koppelpfahl rennen und dort den Freischlag landen. Das unterließ der Kleine. Er blieb verborgen. Der Ältere rief. Er erklärte das Spiel für beendet und den Kleinen zum Sieger. Keine Antwort, nichts geschah. Der Junge suchte weiter. Da traten aus dem Unterholz zwei Männer und befahlen: Verschwinde! Wir haben deinen Bruder, der kommt mit uns.

Was für Männer?

Zwei Männer in schwarzen Ledermänteln, so erzählte es der Junge auch der Polizei. Die löste Fahndung aus. In der Hofpause besah ich den Jungen. Er hielt sich abseits, unscheinbar wie immer. Er aß sein Brot, er wirkte normal, doch umgab ihn etwas Unsichtbares: Schicksalsnähe. Am nächsten Tag erschien der Junge nicht zum Unterricht. Er kam nie wieder. Der Kleine war gefunden, getötet im brüderlichen Streit.

Die Schulleitung informierte – mit welchen Worten? Ich entsinne mich nur der allgemeinen Erleichterung, daß der Mörder, kaum enttarnt, nicht länger unter uns weilte. Ich spürte: Wer tötet, fällt aus der Welt. Die unsrige war nun vom Täter gesäubert. Aber blieb nicht der Tatort kontaminiert?

Die Koppel war im Winter ein wimmelnder Rodelberg, der Waldpfad zur Halde meine Langlauf-Loipe. Einsam schurrte ich bergan und dachte an die Ledermantel-Männer. Der Wald endete. Himmelhoch ragte die Kupferschiefer-Pyramide, schütter beschneit. Loren mit Taubgestein schwebten an stählerner Trosse zum Gipfel und schlugen dort um. Das Geröll kollerte zu Tal. Ein Brocken sprang bis in den Zaun, vor dem ich stand. Seit Urzeiten hatte diesen Stein das Erdinnere geborgen. Das war für immer vorbei. Und ewig würde dieser Flecken Heimat Mordort bleiben.

Ich war ein Kind der Provinz, noch unvertraut mit dem Zeitfluß, dem Wandel der Gefühle, den Putzmitteln der Ideologie. Frieden suchte ich innerlich und daheim, nicht im großen Ganzen der unheilbaren Welt. Deren Schrecknisse geschahen bislang anderswo – in Troja, Hitlerdeutschland, Dallas, Prag und Vietnam. Später, als Student, zog ich in die Mauerstadt Berlin mit ihren Brüchen und tagtäglichen Desastern. Auf einer Heimreise nach S. überfiel mich das Déjà vu. Im Zug saß ich zwei Männern gegenüber. Sie trugen keine Ledermäntel, sondern Grün: das sogenannte Ehrenkleid der Nationalen Volksarmee. Sie soffen. Trunkenheit war der Naturzustand reisender Soldaten in der DDR. Ständig drängten Uniformierte durch die überfüllte Deutsche Reichsbahn, um im MITROPA-Wagen Bier-Nachschub zu fassen. Diese beiden kübelten Klaren. Sie schwitzten, sie lallten mit rohen, roten Gesichtern. Sie waren Grenzer. Es gab was zu feiern. Einen »Hasen«, einen Flüchtling, hatten sie »von der Platte geputzt«. Solch trefflicher Schutz des Sozialismus wurde mit Sonderurlaub belohnt.

Hatten sie Bräute? Eltern, Kinder, Freunde? Wie empfing man sie daheim? Wie rühmten oder beichteten sie ihre Tat? Wie lebten sie damit weiter, und wie die Ihren, die es fortan wußten?

»Niemand kommt dem Damalsblut zu Hilfe, denn es ist schon geflossen«, schrieb die deutschkroatische Schriftstellerin Marica Bodrožić. »Es wundert mich nicht, schon als Kind wunderte es mich nicht, daß sie schießen, wenn sie schießen müssen. Sie üben das Sterben zuerst an sich selbst. Und wenn man so ein Toter ist, so ein Mensch, der längst an sich selbst gestorben ist, dann ist es einfach, im Grunde ein Spiel, ein schlichtes einfaches Spiel, einen anderen zu töten, damit auch er stirbt, so, wie man selbst längst gestorben ist. Sie denken nicht darüber nach. Und wenn, dann denken sie vielleicht, daß der andere auch nur an sich selbst stirbt. Und nicht an der Grenze, die sie hier beschützen und die es ohne sie nicht gäbe.«

Die es ohne sie nicht gäbe?

2

Am 13. November 2013 begegnete ich Helmut Schmidt zum letzten Mal. Das Hauptstadt-Büro der »Zeit« hatte etliche neue Mitarbeiter, der greise Herausgeber wünschte sie kennenzulernen. Unverändert kam er regelmäßig aus Hamburg und nutzte jenes Bundestagsbüro, das ihm als Altkanzler zustand. Im Vorzimmer empfing uns eine Photo-Galerie des Schmidtschen Jahrhunderts: Helmut Schmidt mit Hosni Mubarak, mit Moshe Dayan, mit Rosalyn Carter samt Hund. Josip Broz Tito schmunzelte vom Widmungsbild, zugeeignet »Gospodinu Helmut Schmidt«. Volksführerisch lächelten König Hussein II. von Jordanien, Assad senior und Anwar el Sadat. Liberal blickten Bruno Kreisky und Gustav Heinemann, erheitert Willy Brandt und Walter Scheel. Immanuel Kant posierte als weiße Marmorbüste, den Schreibtisch überschaute August Bebel, in Öl. Auch Thomas Mann schmückte die Wand, gezeichnet von Armin Müller-Stahl: ein Geschenk zu Helmut Schmidts 85. Geburtstag.

Der lag nun fast zehn Jahre zurück. Der Gastgeber begrüßte im Rollstuhl. Er reichte jedem seine große, glatte, kalte Hand. Er entzündete die erste von vielen Menthol-Zigaretten der Marke Rynio. Er sprach: Ich lebe im luftleeren Raum. Ich treffe keine Spitzenpolitiker. Ich bin kein Parteimensch, sondern über meine Partei hinausgewachsen. Mein verehrter Mentor war Fritz Erler, Jean Monnet hat mich zum Europäer gemacht. Seit wann sind Sie bei der »Zeit«?

Seit 1991, sagte ich. Damals wollte die Zeitung einen Redakteur aus Ostdeutschland.

Und wie wurden Sie aufgenommen?

Einprägsam. Sie haben mich angeschnauzt, gleich in der ersten Konferenz.

Oh!, rief Schmidt erfreut. Warum das?

Es ging um die Mauerschützen. Der erste Prozeß stand an. Sie meinten, man solle, statt die kleinen Muschkoten zu belangen, die Kommandeure anklagen, also die Spitze der Befehlskette.

Ja, sagte Schmidt. Und?

Ich verwahrte mich gegen das Gerede von den armen kleinen Mauerschützen. Niemand wurde in der DDR zum Grenzdienst gezwungen, es sei denn vom Wunsch nach Karriere. Und jeder Mensch, sofern er Mensch ist, weiß, daß man nicht auf andere Menschen schießen darf. Jeder muß seine Humanität dort bewähren, wo ihn der Herrgott hingestellt hat.

Schmidt erzeugte Rauch und sprach: Ich nehme stark an, daß Sie Ihre Meinung nicht geändert haben.

So ist es.

Ich meine auch nicht. Haben Sie gedient?

Nein, ich war Vikar. Manfred Stolpe hat mich vor der Nationalen Volksarmee bewahrt.

Wie denken Sie über Stolpe?, fragte Schmidt. Ich sagte: Er hat als Kirchenmann etliche Grenzen überschritten, aber wohl nicht die Grenze zwischen Kirche und SED-Staat. Diese wägende Würdigung stellte Schmidt zufrieden. Dann resümierte er: Ihnen allen fehlt eine Erfahrung. Der Krieg. Diese Scheiße. Was man da für Angst gehabt hat.

Der Krieg blieb über alle Zeiten der Bordun-Ton im Leben Helmut Schmidts. Der gewesene Wehrmacht-Leutnant fluchte der Menschheitskatastrophe, doch der Hamburger Innensenator und Sturmflut-Bekämpfer, der Bundeswehrminister, der Kanzler und »Macher« Schmidt kokettierte in puncto Disziplin und operativer Entschlossenheit durchaus mit militärischem Zack. Nicht ohne Genugtuung konstatierte er im sogenannten Deutschen Herbst 1977, die Terroristen der RAF hätten die Exoffiziere auf Seiten des Staates unterschätzt. Im Bundestagswahlkampf 1980 erledigte der Kanzler seinen barocken Herausforderer Franz-Josef Strauß durch die schneidige Durchsage ans Wahlvolk, als alter Soldat brauche er nur vier Stunden Schlaf, in Zeiten der Bewährung gar keinen. Jetzt pries er Willy Brandt, der sich den Russen angenähert habe, gegen den Instinkt der Amerikaner. Freilich, mit Europa gehe es abwärts: 28 Länder, früher sechs, und der Euro ersetze keine gemeinsame Finanzpolitik. Wir Deutschen haben einen weltgeschichtlich einmaligen Außenhandelsüberschuß, sagte Schmidt. Das werden uns die anderen Länder nicht durchgehen lassen. Unsere Beliebtheit in der Welt ist nur eine deutsche Illusion.

Gibt es eine unverlierbare europäische Errungenschaft?

Ein großer Krieg wird von Europa nicht mehr ausgehen, sagte Schmidt. Die Völker sind erschöpft. Zur Reproduktion brauchen sie pro Frau zwei bis drei Geburten, in Deutschland sind es heute 1,4.

Das ist eine statistische Antwort. Aber moralisch? Rührt die deutsche Unbeliebtheit wirklich aus unserer Wirtschaftsstärke? Oder aus der deutschen Geschichte?

Schmidt sagte: Das ist eine philosophische Frage, darüber muß ich nachdenken.

Er lehrte noch manches: daß Kohl zu preisen sei für den Zehn-Punkte-Plan von 1989, aber die Einheit verstümpert habe. Daß Europas Zukunft ungesichert sei – ebenso, ob Rußland immerfort bis zur Behringstraße reiche. Daß dem Internet wohl noch eine Frist verbleibe; dann aber werde die Kommunikation wieder neue Medien erfinden … Mit enkelfrommer Andacht lauschten wir dem Orakel als Juniorkabinett und deutsches Volk en miniature. Ich sehe zwanzig bis dreißig Jahre in die Zukunft, sagte Schmidt. In die Vergangenheit ein paar Jahrhunderte. Was Deutschland betrifft: tausend Jahre.

Nun schwieg er und schaute in die Runde. Marc Brost, unser Bürochef, verstand. Er dankte in aller Namen und sagte: Wir haben einen Wunsch, wir würden gern wiederkommen. Der Hausherr sog am ewigen Menthol, ließ Glut knistern und atmete rauschend aus. Es dauerte, bis dieser Lokomotive sämtlicher Rauch entwich. Dann lächelte Schmidt und sagte: Müssen Sie sich beeilen.

3

Der 22. Juni 1941 »war ein strahlender Tag mit tiefblauem Himmel, der Flieder stand in voller Blüte, es würde heiß werden«. An jenem Leningrader Sonntag verliebte sich der junge Ingenieur Daniil Granin in ein Mädchen namens Rimma. Das Paar fuhr ins Umland und verlustierte sich in der Natur. »Gegen Abend kehrten wir beide zurück in die Stadt. Der Zug war überfüllt. Wir standen aneinandergeschmiegt auf der Plattform und freuten uns. Um uns herum sprach man über Krieg und Bombenangriffe.« Hitlerdeutschland hatte die Sowjetunion überfallen.

Unverzüglich meldet sich Granin zur Volkswehr. Ernst nimmt er den Krieg nicht. »Mir bot sich eine günstige Gelegenheit, durch Deutschland zu spazieren und den Faschisten eine Lektion zu erteilen.« Es kommt anders. Rasch rückt die Wehrmacht auf Leningrad vor. Granins Trupp gerät schon auf dem Transport in einen Angriff deutscher Sturzkampfflieger. Binnen Sekunden schrumpft der hochgemute Held zur panischen Kreatur, die Stoßgebete wimmert: »Herrgott, erbarme dich meiner!«

Die durchschnittliche Überlebensdauer für Rotarmisten betrug 1941 an der Front vier Tage. Die Wehrmacht siegte anfangs nach Belieben, mit unerhörtem Raumgewinn. Hitlers Blitzkrieg-Strategie schien aufzugehen, sein gestriger Spießgesell und jetziger Todfeind paralysiert. Trotz begründeter Warnungen hatte Stalin auf den Nichtangriffspakt mit Deutschland vertraut. Nun flohen seine Truppen, miserabel ausgerüstet, an allen Fronten. Der Sommerkrieger Hitler wähnte sich bereits in Moskau. Leningrad zu erkämpfen hatte er nicht vor. Altrußlands Prunkstadt sollte ausgehungert werden. Es starben 1,1 Millionen Einwohner, bevor im Januar 1944, nach fast 900 Tagen, die Rote Armee den deutschen Belagerungsring brach.

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Wandmalerei im Festspielhaus Dresden-Hellerau, zur DDR-Zeit Lazarett und Kaserne der sowjetischen Armee (24. September 2012)

Das Erstarken der Roten Armee ist auch die Geschichte des Soldaten Granin. »Mein Leutnant« hat er seinen späten »Roman« genannt, geschrieben mit 92 Jahren. Dieser Leutnant ist niemand anders als Granin selbst – vor sieben Jahrzehnten. »Schreiben Sie über sich?« – »Ach wo, diesen Menschen gibt es schon lange nicht mehr.« Doch, dieser Mensch überlebte durch hundertfaches Glück. Dieser Mensch tötete und nennt seine Taten Mord. »Als wir von Hitlers Plan zur Vernichtung der Slawen erfuhren, ging der Krieg in einen Mordfeldzug über. (…) Deutsche Soldaten wurden für mich zu beweglichen Zielscheiben. (…) Unsere Toten hingegen waren Menschen.«

Die Wende des Zweiten Weltkriegs läßt sich militärisch erklären, als Folge der alliierten Ressourcen oder mit der unermeßlichen russischen Landmasse. Das moralische Recht der Sowjetunion nutzte Stalin zur Ideologie vom Großen Vaterländischen Krieg. Er erklärte Hitler zum Wiedergänger Napoleons und den Kampf gegen die deutschen Faschisten zum Remake des Vaterländischen Kriegs von 1812. Sieg war, Sieg würde werden – größer denn je. Die Wandlung des Diktators zum Haupt des nationalen Freiheitskampfes war von zynischer Ambivalenz. Soeben, in den Jahren 1937/38, hatte der Massenmörder Stalin sein eigenes Reich mit dem Großen Terror überzogen. Notgedrungen gelang nun die Symbiose von Vaterlandsführer und Sowjetvolk.

Nicht für den Kommunismus wollte Granin kämpfen, sondern für sein Land und seine Stadt.

Mühsam fand er heim – ins zivile Leben, zur einzelmenschlichen Dimension, zu Rimma, seiner Frau. »Etwas hatte ihm der Vater mitgegeben – die Güte, den Triumph der Güte, den Vorteil der Güte.« Der greise Granin bezichtigt eine Armeeführung, die ihre Soldaten nur als Masse kalkulierte: stupide Rückzugsverbote, Abschreckungsexekutionen, chaotische Sturmangriffe, befohlen von Kommandeuren, die den Krieg als »Fleischwolf« betrieben. »Wie viele von diesen Fleischern gab es unter unseren ruhmreichen Generälen! (….) unser Krieg war (…) blutig, stümperhaft, Menschenleben wurden sinnlos geopfert (…) Selbst als wir gegen Ende des Krieges gelernt hatten, wie man Krieg führt, fuhren wir fort, unsere Leute ohne Ende zu verheizen. Gut kämpft nur einer, der wenig Blut vergießt, aber es zählte nicht, oben zählte es nicht, und das setzte sich nach unten fort. (…) Warum sind sie so mit uns umgegangen, und warum tun sie es bis heute? Weil es von uns immer genug gegeben hat. (…) Nicht mit Menschen muß man sparsam umgehen, sondern mit Munition.«

Am 27. Januar 2014, dem 70. Jahrestag der Befreiung Leningrads, redete Daniil Granin vor dem Deutschen Bundestag. Er sprach über das Grauen in der verhungernden Stadt (unvergeßlich beschrieben in Lidia Ginsburgs »Aufzeichnungen eines Blockademenschen«). Unheilbar sehnte sich Granin nach seinen Kameraden, die den Sieg nicht erlebten. »Wissen Sie«, schloß er, »es gibt wahrscheinlich einen sakralen Raum, wo dem Menschen Mitgefühl und Spiritualität zurückgegeben werden, ebenso wie das Wunder des Sieges, und wo Gerechtigkeit, die Liebe zum Leben und auch zum Menschen höchste Bedeutung haben.« In »Mein Leutnant« liest man: »Liebe – das ist der direkteste und kürzeste Weg zu Gott.«

Und das Wunder des Sieges? Uns Deutschen geht es heute weitaus besser als den Siegern von einst. Granins Lebensbuch vorangestellt ist das Vorwort eines deutschen Leutnants, der bei Leningrad sein Feind war: Helmut Schmidt. Es endet mit dem schillernden Satz: »Ohne Rußland kann es in Europa keinen Frieden geben.« Rußland krankt – woran? An seiner geschwundenen Größe? An Wladimir Putins neoimperialer Renaissance? An Einhegung durch »den Westen«? Die Ostdeutschen haben nicht vergessen, daß ihre DDR das Faustpfand des sowjetischen Sieges war. 1989/90 gab Michail Gorbatschow dieses Faustpfand frei.

Granin zitiert eine Churchill-Rede vom 22. Juni 1941: »Wenn wir Vergangenheit und Gegenwart entzweien, verlieren wir die Zukunft.« Möge Rußland allzeit erfahren, daß wir ihm seinen Sieg als unsere Befreiung danken.

4

1994 bewohnte das Berliner »Zeit«-Büro zwei Hinterhaus-Etagen der Französischen Straße 47. Am Vormittag des 8. Juli klingelte es an der Tür. Ich öffnete. Im Dämmer des versifften Treppenhauses standen drei Bürger und begehrten Einlaß. Marion Gräfin Dönhoff, Helmut Schmidt und Richard von Weizsäcker wollten im Sitzungsraum über den 20. Juli 1944 reden. Die Hamburger »Zeit«-Zentrale hatte Berlin nicht informiert. Betrüblicherweise mangelte uns Zubehör gepflegter Gastlichkeit. Ich fand immerhin ein Päckchen Kekse unbestimmten Alters. Klaus Hartung reaktivierte die frühindustrielle Kaffeemaschine. Sie fauchte und tropfte schwarz.

Oh, sagte die Gräfin, das ist ja Mokka. Das ist mir zu stark.

Es war kein Mokka, es war Teer.

Dann debattierten die drei Ikonen der bundesrepublikanischen Geschichte über Stauffenbergs Putsch – vermutlich nicht zum ersten Mal. Die Rollen ihrer Zeitzeugenschaft waren längst verteilt. Helmut Schmidt verkörperte jene Deutschen, die »durch die Scheiße gegangen« und gleichsam von unten zur Erkenntnis des nationalsozialistischen Verbrecherregimes gelangt waren. Die Vertriebene Marion Gräfin Dönhoff akzeptierte und rechtfertigte bereits in der frühen, restaurativen BRD den Verlust der deutschen Ostgebiete. Sie schrieb Bücher wie »Kindheit in Ostpreußen«, »Ritt durch Masuren«, »Namen, die keiner mehr nennt«, sie prägte die antirevanchistische Heimatformel »lieben, ohne zu besitzen«, sie stützte die Entspannungspolitik des Kanzlers Willy Brandt. Richard von Weizsäcker schließlich war soeben nach zehn Jahren im höchsten Staatsamt als Bundespräsident verabschiedet worden. Seine vermittelnde, dennoch entschiedene Rhetorik hatte ihm Deutungshoheit über die Nachkriegsgeschichte verschafft. Seine gesamtdeutsche Verehrung begann mit der programmatischen Rede zum 40. Jahrestag der hitlerdeutschen Kapitulation.

»Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung«, so sprach von Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag. »Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.« Aber: »Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen. (…) wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. (…) Wer konnte arglos bleiben nach den Bränden der Synagogen, den Plünderungen, der Stigmatisierung mit dem Judenstern, dem Rechtsentzug, der unaufhörlichen Schändung der menschlichen Würde? Wer seine Augen und Ohren aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, daß Deportationszüge rollten. Die Phantasie der Menschen mochte für Art und Ausmaß der Vernichtung nicht ausreichen. Aber in Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler, auch in meiner Generation, die wir jung und an der Planung und Ausführung der Ereignisse unbeteiligt waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah.«

Nun, 1994, nahte das runde Erinnern an Claus Graf Schenk von Stauffenbergs gescheiterten Versuch, Adolf Hitler zu töten. Von Weizsäcker besetzte sofort weiteres Terrain. Der Widerstand sei weder auf den 20. Juli 1944 zu verengen noch eine kohärente Verschwörerbewegung gewesen, schon gar nicht, was die Visionen vom künftigen Deutschland betraf. Verbunden habe alle – die Weiße Rose, die Rote Kapelle wie Hans Falladas Arbeiter Otto Quangel – das Bestreben, der Lüge, dem Verbrechen, dem unsäglichen Morden des Kriegs ein Ende zu machen, komme danach, was wolle.

Helmut Schmidt mißfiel der heutige Ruf der Wehrmacht als nationalsozialistische Einrichtung. Er sei 1937 eingezogen worden und bis 1945 Soldat gewesen. Nie habe ein militärischer Vorgesetzter versucht, ihm Naziideologie einzuträufeln. Das sei passiver Widerstand gewesen.

Ich weiß nicht, ob man das als Widerstand bezeichnen kann, sagte die Gräfin. Wo hätte das hingeführt ohne die anderen? Nirgends hin. Ihre Vorgesetzten haben keine Ideologie betrieben, aber das Handwerk, das Hitler ihnen vorgeschrieben hatte.

Von Weizsäcker verfügte: Widerstand ist mehr als nur der eigenen inneren Stimme des Anstands im Tageslauf so gut wie möglich folgen.

Als ich zur Flak-Artillerie nach Bremen eingezogen wurde, sagte Schmidt, hatten wir auf unserer Rekrutenstube neun Abiturienten und einen Gefreiten. Und wir zehn Leute waren der Meinung: Gott sei Dank, jetzt sind wir endlich im einzigen anständigen Verein im Dritten Reich gelandet. Wir fühlten uns in einem Refugium. Wir hatten keine Ahnung von den Deportationszügen. Jemand, der der gesellschaftlichen Oberschicht angehörte, konnte sehr viel mehr wissen als ein einfacher kleiner Muschkote wie ich. Wir haben nicht einmal die »Reichskristallnacht« mitgekriegt.

Na ja, sagte von Weizsäcker und unterlegte seiner Stimme etwas Adel.

Das glauben Sie nicht, aber so war es.

Natürlich glaube ich es Ihnen, da Sie es so schildern. Aber der Judenstern wurde ja sichtbar getragen, auf Befehl. Und den 9. November 1938 habe ich nun wirklich persönlich in Berlin erlebt, rund um die Gedächtniskirche, in voller Öffentlichkeit.

Ja, Sie haben’s erlebt.

Ein unauslöschlicher Eindruck. Die zerstörten Scheiben, den Ladendiebstahl und natürlich auch das Kleinlaute der Bevölkerung.

Ich insistiere, sagte Schmidt. Sonst entsteht der Eindruck, daß alle anständigen Deutschen wissen konnten, was passierte. Daß Unrecht geschah, allerdings. Mein Vater war Halbjude und Lehrer. Er hat seine Abstammung durch Manipulation verheimlichen können. Seine Angst war nur, daß er aus dem Dienst geschmissen würde. Er wußte nichts von der Vernichtung von Juden, bis zum Kriegsende nicht.

Das Wort Auschwitz habe ich zum ersten Mal nach dem Krieg gehört, sagte die Gräfin. Ich glaube, man muß sich vor Augen halten, daß man nicht das Wissen hatte, was wir heute haben. Der Diktator kam doch in den Augen der Massen sozusagen als Befreier. Er hat die sechs Millionen Arbeitslosen innerhalb von vier Jahren von der Straße geholt, er hat die Entmilitarisierung des Rheinlands beendet, er hat Österreich angeschlossen, das Sudetenland ohne Krieg zurückgewonnen und so weiter. Man sah ihn doch damals nicht als jemanden, den man umbringen mußte. Deutlich war die Kombination von Terror und Erfolg. Das hat einen Teil der Bevölkerung wegschauen lassen, aus Angst. Die anderen haben ihn bewundert.

Die Masse der Soldaten, erklärte Schmidt, befand sich, je länger der Krieg dauerte, um so mehr in einem vielfältigen psychologischen und moralischen Konflikt. Eine große Rolle spielte die Angst. Dann die anerzogene Vorstellung, daß man seine Pflichten zu erfüllen hat. Auch die Stauffenbergs haben ja ihre Orden nicht gekriegt, weil sie ihre militärischen Pflichten etwa nicht erfüllt hätten, sondern umgekehrt: Sie waren aktive Soldaten gewesen und haben bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ihre militärischen, soldatischen Pflichten erfüllt. Dann sind sie langsam in diesen Gewissenskonflikt hineingeraten.

1941/42, »im ersten Rußlandwinter«, rang der Leutnant Helmut Schmidt mit seiner moralischen Erkenntnis. Er dachte an Napoleons Hybris 1812 und hielt das folgende Debakel des Eroberers auch für die Zukunft der Wehrmacht. Er bekannte seine Zweifel einem jungen Unteroffizier. Der war Theologe und verarztete ihn mit dem Römerbrief des Apostels Paulus: Seid untertan der Obrigkeit, denn wo Obrigkeit ist, die ist von Gott. Das, sagte Schmidt, hat mich damals vorübergehend beruhigt.

Von Weizsäcker bemerkte: Die Beteiligung von Paulus an diesem Gespräch wäre sehr interessant.

Ein Unbehagen befiel den Tischgast des Trialogs. Ich hatte es bereits 1985 empfunden, bei von Weizsäckers großer Rede, erschrokken staunend, daß sie »im Westen« nötig war. Meine östlichen Ohren vernahmen damals eine höchst verspätete Anerkennung von Selbstverständlichkeiten in gediegenem Ton. Der SED-Staat DDR ruhte, nach eigener Deklaration, auf zwei Säulen: Antikapitalismus und Antifaschismus. Letzterer erlaubte beispielsweise keinerlei Relativierung der Deutschen Wehrmacht; sie galt ausschließlich als Exekutivorgan des hitlerschen Verbrecherregimes und seiner imperialistischen Barbarei. Die dritte, die tragende Säule des SED-Staats bildete natürlich die Sowjethörigkeit. Daß Stalin vom August 1939 bis zum Beginn des Großen Vaterländischen Krieges mit Hitler paktierte, daß er nach dessen Überfall auf Polen geheimvertragsgemäß das östliche Landesdrittel einsackte, war in der DDR tabu. Stauffenberg wurde nicht verschwiegen. Sein Mut, sehr spät zur Tat gereift, verdiente Respekt, sein Scheitern war katastrophal. In den zehn Monaten vom Attentat bis zu Deutschlands Höllenfahrt starben mehr Menschen als in den fünf Kriegsjahren zuvor. Den siegenden Hitler allerdings hatte Stauffenberg nicht töten wollen.

Was wir Geschichte nennen, ist oft weniger das Ereignis als dessen Rezeption. In der Bundesrepublik diente und dient der Stauffenberg-Putsch als idealischer Markenkern der Bundeswehr. Die Heroentat vom 20. Juli 1944 schob sich vor den kommunistischen Widerstand, dessen wiederum die DDR fast ausschließlich gedachte. Sein antifaschistischer Mythos weihte den SED-Staat, der sich der »revanchistischen« BRD moralisch weit überlegen fühlte. Es stimmte ja: Die großen Kriegsverbrecher hatten sich 1945 gen Westen abgesetzt. In der bundesrepublikanischen Gründerzeit bevölkerte nazideutsches Personal Justiz, Bildungswesen, Geheimdienst und die neue Armee; die kriegsgewinnlerische Industrie wurde nicht enteignet. Doch auch die erste DDR-Bevölkerung bestand aus Hitlers mitgelaufenen Deutschen. Die nun regierenden Kommunisten waren Remigranten oder Überlebende der Konzentrationslager. Ihr Staatsvolk, das wußten sie allzu gut, hätte sie noch kürzlich ans Messer geliefert. Ihr Volksmißtrauen heilte nie, was tragisch war und sich begreifen läßt.

Beim Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 zerstob auch die Illusion von der klassenbewußten Progressivität des Proletariats. Der 13. August 1961 betonierte dann die »Einsicht in die Notwendigkeit« der geschlossenen Gesellschaft. Sie währte bis zum 9. November 1989. Sie endete im Jubel des Ostvolks über den Untergang des sozialistischen Staats, den es nicht als eigenen empfand.

Aber noch heute empfinde ich West-Defizite bei der Entnazifizierung. Gruftluft weht mich an vor Wehrmacht-Kriegermalen und reaktionären Straßen- und Kasernennamen, angesichts von Nico-Hofmann-Fernseh-Melodramen über Hitlers leidgeprüftes Volk oder wenn eine fränkische ZDF-Moderatorin ein ihr erfreuliches Sportergebnis »innerer Reichsparteitag« nennt. Wie entlarvend behandelte die Bundesrepublik die Wehrmacht-Deserteure – Helden, die, juristisch wie im westdeutschen Volksgefühl, jahrzehntelang als Verräter galten. Erst 1997 verfügte der Deutsche Bundestag: »Der Zweite Weltkrieg war ein Angriffs- und Vernichtungskrieg, ein vom nationalsozialistischen Deutschland verschuldetes Verbrechen.« Und erst 2009 wurden die Deserteure endgültig rehabilitiert – fast alle postum, nach 30 000 Todesurteilen der Wehrmachtjustiz, 20 000 Hinrichtungen und 64 Jahren bockiger Ignoranz.

Eilends jedoch enttarnte man westseits den »verordneten Antifaschismus« der DDR: psychologisch eine klassische Projektion. Kommunisten wurden rückwirkend aus dem NS-Widerstand verstoßen, da sie ja, falls überlebend, nach 1945 die »Diktatur des Proletariats« installiert hatten. Fragwürdig war am DDR-Antifaschismus nicht dessen Existenz, sondern daß es ihn pauschal gab und in autoritärer Form. Was sich der Westen im Streit der Generationen zivilgesellschaftlich erkämpfte, regierte im Osten als stalinistische Staatsdoktrin. Dieser Antifaschismus kam mit der Roten Armee ins Land und wurde von der SED-Macht als Parteibesitz behandelt. Die »Sieger der Geschichte« verkannten, welche Braunfäule auch in der eigenen Gesellschaft überdauerte und gärte und neu entstand. Dies hinderte nicht daran, daß Millionen Ostdeutsche ehrlichen Herzens antifaschistisch fühlten. Helmut Kohl, ideologisch versiegelt, denunzierte diese humane Potenz des Ostvolks als SED-Propaganda und rotlackierten Faschismus. So schredderte er den wertvollsten Konsens der deutschen Einheit.

Die Disputation im »Zeit«-Büro schwang aus. Abschließend mißfiel Gräfin Dönhoff die Gleichsetzung von Preußen und Militarismus. Unter Hitlers zehn engsten Paladinen seien keine Preußen gewesen, unter den Männern des 20. Juli hingegen 75 Prozent.

Ich fragte: Kann das geeinte Deutschland die NS-Widerstände nicht würdigend verbinden, inklusive des kommunistischen? Schweigen. Dann erklärte Helmut Schmidt: Wenn man mit vollem Recht sagt, der 20. Juli 1944 ist ein ganz bedeutendes moralisches Datum in der deutschen Geschichte, dann muß man sich hüten, jemanden, der auch Widerstand geleistet hat, deswegen totzuschweigen, weil er Kommunist war. Das ist widerlich.

Sodann erhob sich die Trinität. Wir hätten doch Herrn Hartungs Mokka trinken sollen, sagte die Gräfin. Dann wäre unser Gespräch temperamentvoller geworden.

Kurz darauf spendierte Hamburg eine neue Kaffeemaschine.

5

Sommer 2014. In Potsdam tobt der nationale Kirchenkampf. Die Garnisonkirche soll auferstehen, ein Schmuckstück des norddeutschen Barocks, 1732 errichtet vom »Soldatenkönig« Friedrich Wilhelm I. gemäß seinem Leitwort: »So ich nun baue Stadt und Land und mache nicht Christen, ist alles nichts nütze.« – Finger weg!, rufen die Widersacher. Erstehen soll der Kriegstempel der Hohenzollern, zwecks neomilitaristischer Erneuerung Preußens. Dessen altböser Geist würde unweigerlich auch in die neue Hülle fahren.

Wer hat recht? Fragen wir den berühmtesten Potsdamer. Freilich gilt er als Preußenfan. Längst ist Manfred Stolpe Pensionär, doch der Kirchenkampf ergriff auch ihn. Der alte Stolpe entsinnt sich des jungen Kirchenjuristen: wie er 1959 nach Potsdam kam und die Lange Brücke überquerte. Vor ihm lag die Schloßruine, links dahinter wuchtete der Torso eines Turms. Das, erfuhr er, sei der Rest der Garnisonkirche, die am 14. April 1945 im Feuersturm der Lancaster- und Halifax-Bomber verbrannt war. Danach hatte das Hauptquartier der Royal Airforce gemeldet: Potsdam existiert nicht mehr.

Aber der Turmstumpf stand, vier Geschosse hoch. Die Heilig-Kreuz-Gemeinde baute ihn zur Kapelle aus, mit Genehmigung der Stadt, die für dieses Antikriegsmahnmal sogar eine Aussichtsplattform plante. Dann erschien Walter Ulbricht zur Visite. Am 22. Juni 1967 sprach der SED-Chef sein gewaltiges Wort: Das Ding muß weg! Ins einstige Zentrum der Preußenkönige gehöre sozialistische Architektur. Kirchlicher Einspruch verfing nicht. Am 23. Juni 1968, einem Sonntag, wurde gesprengt, zur Gottesdienstzeit. Erst fiel nur der halbe Turm, im zweiten Versuch der Rest. Das dokumentiert ein Spreng-Lehrfilm der DDR, unterlegt mit flottem Bigband-Sound. Hell und licht – unserer Städte Gesicht!

Die Sprengung des Gotteshauses einer lebendigen Gemeinde ist wirklich ein Verbrechen gewesen, sagt Manfred Stolpe. Meine Motivation für den Wiederaufbau hängt mit der tiefen Demütigung zusammen, die wir hier erfahren haben.

Aber muß man die Kirche des Soldatenkönigs kopieren?

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Weitreichende Pläne der Garnisonkirchgegner (Potsdam, 25. Mai 2014)

Keine Militärkirche, sagt Stolpe. Keine totale Rekonstruktion, sondern erst mal den Turm. Beim Gesamtbau muß das Thema Frieden und Versöhnung erkennbar sein.

Wie denken die Potsdamer? Nur 14 Prozent gehören der evangelischen Kirche an.

Ein Viertel pro, ein Viertel contra, schätzt Stolpe. Die Hälfte ist indifferent. Dieser Anteil wächst und tendiert zur Gegnerschaft.

Warum?

Die Mehrheit der Potsdamer hat das Gefühl, sie würde verdrängt. Die Innenstadt ist für sie unbezahlbar geworden und wird umgestaltet, in deutlicher Abkehr von dem, was die Hiesigen erlebt haben. Zugereiste geben den Ton an.

Wir begeben uns zum Streitort, vom Bahnhof kommend wie 1959 Manfred Stolpe. Das barocke Stadtschloß ist jüngst als Fassadenkopie zurückgekehrt und birgt den Landtag. Vis-à-vis ragt das Hotel-Hochhaus, eine Dominante Ulbrichtscher Urban-Ästhetik, doch passabel. Auch die DDR-moderne Fachhochschule ließe sich renovieren, freilich kaum innerhalb des retropreußischen Stadtplans »Mitteschön«, der »das richtige Potsdam zurückgewinnen« will. Aufkleber mahnen: »Die Stadt ist kein Museum«. Ein Plakat zeigt den Garnisonkirchtum als Rakete, vermutlich auf dem Weg zum Mond.

Die Breite Straße: Neubauten, Dauerverkehr. Am Platz der Garnisonkirche steht Ulbrichts Ersatzbau, ein fünfstöckiges Rechenzentrum mit dem umlaufendem Mosaik-Fries »Der Mensch bezwingt den Kosmos«. Daneben klafft eine Baugrube vor dem hölzernen Flachbau der »Versöhnungskapelle«. Garnisonkirchfreunde haben sie 2011 errichtet. Sie enthält gerettete Relikte und eine Ausstellung zur Kirchgeschichte.

Die Garnisonkirche war, laut dem Historiker Martin Sabrow, das preußische Walhalla. Philipp Gerlachs mächtiger Bau diente von Anbeginn der staatschristlichen Zurüstung des Militärs. 2800 Soldaten andächtigten auf Bänken ohne Rückenlehne. Der Turm ragte 88 Meter auf. Sein Glockenspiel läutete zur vollen Stunde Nun danket alle Gott, zur halben Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab, und weiche keinen Fingerbreit von Gottes Wegen ab. Ungezählte führte dieser Weg ins Grab. Der »Soldatenkönig« baute Preußens Armee. Sein Sprößling Friedrich II. ließ sie von der Kette, verheerte Europa und produzierte Leichenberge, weshalb er auch »der Große« heißt. Die Garnisonkirche wurde zum Trophäenschrein, ihre Krypta zur Grablege für Vater und Sohn und am 4. November 1803 zur weltgeschichtlichen Bühne. Nacht war’s, als »bey der Asche dieses Unsterblichen« Preußens friedsinniger König Friedrich Wilhelm III., Gattin Louise und Rußlands Zar Alexander einander Beistand gegen das Korsenmonster Napoleon gelobten. Preußen fiel, Alexander lief über. Der unsterbliche Altfritz bekam am 25. Oktober 1806 abermals Besuch, nun von Napoleon, welcher sic transit gloria mundi sprach und, auf Französisch: Wenn du noch lebtest, stünde ich nicht hier.

Das berühmteste Garnisonkirchdatum heißt bis heute »Tag von Potsdam«. Am 21. März 1933 wurde hier der neue Reichstag eröffnet, weil das Berliner Reichstagsgebäude drei Wochen zuvor ausgebrannt war. Potsdam feierte mit Glockengeläut, paradierender SA, Heil!-Gebrüll und unüberschaubaren Massen jauchzenden Volks. Ein berühmtes Photo bündelt, was vor der Kirche geschah. Reichskanzler Adolf Hitler, ausnahmsweise zivil befrackt, schüttelt die Hand des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Der »Tag von Potsdam« verschmolz das bürgerlich-konservative Deutschland mit Hitlers »nationaler Erhebung« und entmächtigte die Demokratie, wobei der greise Reichspräsident demonstrieren wollte, daß die Zentralgewalt bei ihm verbliebe. Hindenburg starb 1934, der Kanzler wurde endgültig zum »Führer«. In der Garnisonkirche hatte er georgelt: »Möge uns dann auch die Vorsehung verleihen jenen Mut und jene Beharrlichkeit, die wir in diesem für jeden Deutschen geheiligten Raum um uns spüren als um unseres Volkes Freiheit und Größe ringende Menschen an der Bahre seines größten Königs.« Und die Gemeinde sang: Nun lob mein Seel den Herren.

Warum soll diese gotteslästerliche Bude auferstehen?

Zur Stadtgesundung, sagen Potsdams Klassizisten und schwärmen vom Dreikirchenblick: dem Langen Kerl der Garnisonkirche, dem Campanile der Friedenskirche, der Kuppel von St. Nikolai. Kirchlicherseits lautet das Aufbau-Motiv: Friede und Versöhnung. Aber mit wem?

Die Wiederaufbau-Geschichte begann 1984, in Iserlohn. Dort gründete der Bundeswehr-Fallschirmjägerkommandant Max Klaar die Traditionsgemeinschaft Potsdamer Glockenspiel. Der rechtskonservative Sohn einer Spandauer Kriegerwitwe träumte vom gotteszüchtigen Preußen und seinem Zentralheiligtum zu Potsdam. Er sammelte Millionen. Vorerst finanzierte er das Glockenspiel. Das klöppelte zu Mauerzeiten in Iserlohn und wurde 1993 von Klaar nach Potsdam verbracht. Die Stadtoberen stellten es in der Plantage auf und entfernten Inschriften wie »Schlesien«, »Ostpreußen«, »Königsberg«. Spendensammler Klaar verlangte von der Landeskirche schenkungsvertragliche Garantien, daß im wiedererrichteten Gotteshaus bibelfremde Greuel unterblieben, beispielsweise die Beratung von Kriegsdienstgegnern, die Segnung homosexueller Paare, feministische Theologie à la »Jesa Christa«. Die Kirche begriff, daß sie den künftigen Bau in eigene Obhut nehmen müßte. Klaars Ansinnen wurde zurückgewiesen. Er reagierte wie ein Fallschirmjäger und sprang ab.

Nun erging der »Ruf aus Potsdam«. Eine Fördergemeinschaft aus evangelischer Kirche, Stadt, Land und Bürgertum dekretierte am 15. Januar 2004: »Unser Aufruf protestiert gegen die ideologisch motivierte Zerstörung Potsdams in der Vergangenheit und bringt zum Ausdruck, daß Menschen gegen Krieg und Gewalt, gegen Diktatur und Zerstörung zusammenstehen. (…) Wer Zukunft gestalten will, muß die Geschichte kennen. In Kontinuität und Bruch stellen wir uns der Vergangenheit in ihrer ganzen Zwiespältigkeit. (…) Die wieder aufgebaute Kirche soll zu einem Zentrum für Frieden und Versöhnung werden.«

Deshalb Versöhnungskapelle. Davor prunkt, schier zehn Meter hoch, ein Käfig aus Edelstahl. Drinnen gluckt auf einer Stange ein monströses Kupferhuhn: der preußische Adler. Er äugt in die güldene Sonne, der er nicht weichen wird. Reichsapfel, Krone und Kanonenkugel komplettieren die alte, neugeschaffene Wetterfahne. Eigentlich sollte den Turm statt dieser Macht-Ikone das Nagelkreuz von Coventry krönen. Doch die Kirche ergab sich den Traditionalisten. Wir besuchen deren Wortführer. Oberst a. D. Burkhart Franck steht der Fördergesellschaft vor. Er sagt: Wir wollen das hundertprozentig originalgetreue Gebäude. Ein Hybrid entfaltet keine Wirkung.

Franck ist ein hochgewachsener Unruheständler, zivil in Ton und Gebaren. Er stammt aus Schleswig-Holstein und bewundert Preußen, besonders des »Soldatenkönigs« sparsame Vernunft. Als Soldat habe man Potsdam in sich getragen und bei der Bundeswehr davon gesungen. Kennen Sie das? fragt Franck. Zu Sanssouci am Mühlenberg, da steht ein kleines Haus, / da schauen schon des Morgens früh zwei Mägdelein heraus. / Die eine heißt Veronika, die andre heißt Marie. / Zwei Mägdelein wie Milch und Blut, der Stolz der Kompanie.

Herr Franck, wie begegnete Ihnen das reale Potsdam?

Alles war irgendwie noch da, natürlich heruntergekommen. Es fehlten nur Stadtschloß, Kanal und Garnisonkirche. Wissen Sie, die Menschen, die uns unterstützen, haben sich ein Bild von der früheren Schönheit bewahrt, im Unterschied zum sibiriakischen Nirwana, das durch Bombenangriff, DDR-Plattenbau und Postmoderne entstanden ist.

Verstehen Sie Ihre Gegner? Die Angst vor dem aggressiven Geist?

Der wohnte eher in der Dresdner Frauenkirche, dem Dom der Deutschen Christen. Dort lag »Mein Kampf« neben der Bibel auf dem Altar. Die Gebäude können aber nichts dafür, was in ihnen geschieht. Die Menschen müssen sich ändern. Wie Bischof Huber sagt: Wir bauen die Garnisonkirche nicht trotz, sondern wegen ihrer Geschichte. Um daraus zu lernen.

Bischof Huber hat auch angeregt, in der Garnisonkirche gefallener deutscher Soldaten zu gedenken.

Das, sagt Franck, halte er für unzweckmäßig. Die heutige Soldatenschaft sei größtenteils unkonfessionell, Potsdam überdies nicht mehr Garnison.

(Freilich sitzt im nahen Geltow der Auslands-Führungsstab der Bundeswehr.)

Bischof i. R. Wolfgang Huber, mit seiner Idee konfrontiert, ruft energisch: Das habe ich so nie gesagt!

(Freilich gibt es eine Tonaufnahme.)

Die größte Einzelspende für den Wiederaufbau stammt von der Militärseelsorge. Allein der Turm soll 38 Millionen Euro kosten. Den Gesamtbau veranschlagt man mit 100 Millionen, aufzubringen von privaten Spendern, Mäzenaten und der öffentlichen Hand. Letztere, die Stadt Potsdam, hat der Kirche bereits das Grundstück geschenkt und sitzt im Kuratorium, als gälte in Deutschland nicht Trennung von Kirche und Staat. Allerdings tröpfeln die Zuwendungen nur, anders als einst in Dresden für die Frauenkirche. Großspender? Da gibt es Gespräche, sagt Manfred Stolpe, bedauerlicherweise kommen solche Leute in der Regel aus Familien, wo die Großväter unter Hitler das Geld gemacht haben. Die haben Angst, vorgeführt zu werden als Sponsoren einer Nazikirche.

Zur historischen Apologie der Aufbau-Freunde gehört der 20. Juli 1944. Im künftigen Gotteshaus soll auch der Hitlerattentäter gedacht werden. Mehrere von ihnen hätten garnisonskirchliche Bindungen gehabt, besonders Henning von Tresckow. Empfing er hier gar seinen Mut zur Tat? Martin Sabrow nennt dies einen liebenswürdigen, aber untauglichen Versuch der geschichtspolitischen Reinigung. Und sehr lange, findet Manfred Stolpe, hätten die Putschisten bei Hitler mitgemacht. Er zitiert Helmut Schmidt: Alles hochnäsige Adlige und Antisemiten.

Potsdam wirkt sozial gespalten. Es scheint, diese atheistische Stadt werde durch westlichen Finanz-Zuzug auch sakralbürgerlich aufgeforstet. Wir besuchen den Gottesdienst der kleinen Heilig-Kreuz-Gemeinde, die nach der Sprengung des Turmstumpfs im Gemeindehaus Kiezstraße unterkam. Die Predigt handelt vom ungläubigen Gottesvolk, das seinen Götzen, das goldene Kalb, umtanzt. Im Nachgespräch wird gefragt: Ist nicht auch dieser Prunkbau ein goldenes Kalb? Brauchen wir Christen solch Nationalheiligtum? Beten wir Steine an? Verfallen nicht im Lande Brandenburg Dutzende Kirchen, für deren Erhaltung das Geld fehlt? Bleiben nicht schon Potsdams vorhandene Kirchen reichlich leer? Würde die Garnisonkirche nicht in den übrigen Gemeinden räubern?

Wir sind weder glühende Befürworter noch Hasser, erklärt Bernd Lechler. Vielleicht kann man mit den touristischen Einnahmen dringende kirchliche Dinge finanzieren.

Garnisonkirchbau ist Arbeit am Grabstein der Kirche!, ruft Björn Rugenstein. Potsdam hat keinen Mangel an Touristen, sondern an Glauben. Dieses Problem lösen wir nicht mit hohen Türmen.

Ich spiele oft in Kirchen, sagt die Musikerin. Ich erlebe so viel Glauben, da bricht mir das Herz. Und ich hoffe zuversichtlich, daß mit der Garnisonkirche ein Versöhnungszentrum entsteht.

Eine Militärkirche gehört nicht zur Versöhnungsgeschichte des Evangeliums, sagt der Gast. Sie zählt zur Mißbrauchsgeschichte, durch Sakralisierung von Nation und Krieg. Ich fürchte die schleichende Remilitarisierung, nach dem Motto: Die Kirche schenkt der Bundeswehr ein Gotteshaus.

Die Musikerin steht auf und geht, empört: Demagogie!

Volksbefragung am Käfig mit der Wetterfahne: Drei Viertel der Studenten sind gegen den Wiederaufbau, erklärt die evangelische Studentin. Diese Disneyland-Rekonstruktion der Innenstadt vertreibt uns. Und kirchliches Geld gehört in Ökumene, Diakonie und soziale Projekte.

Konservative Macht plus faschistische Ideologie, das geht gar nicht, verkündet der militante Atheist. Es ist unerträglich, daß in einem modernen Deutschland Kirchen gebaut werden.

Is mir ejal, spricht der proletarische Herr. Jibt schlümmere Themen wie ’ne Kürche. Die Gefährtin nickt, der Hund will weiter.

Wiederaufbau, aus architektonischen Gründen, sagt der junge Flaneur. Bißchen auch als Wiedergutmachung, wegen der SED-Sprengung. Aber bitte keine Steuergelder.

Und die Militärgeschichte der Kirche?

Militärstadt war ganz Potsdam. Dann müßte man jedes zweite Haus abreißen.

Ich hätte Angst, daß fehlgesteuerte Menschen dies als ihre nationalsozialistische Kirche ansehen, sagt der Senior aus dem bayerischen Dingolfing.

Letztlich bin ich contra, sagt der silberbebrillte Mann. Ist mir ein bißchen zuviel Puppenstube für den zugereisten Mittelstand aus dem Westen, der hier sein Potsdam-Bild abrunden will.

Aufbauen!, verlangt die resolute Person. Paßt zum Stadtschloß! Ihre bedächtige Begleiterin: Überlassen wir diese Baulücke künftigen Generationen zur Gestaltung.

Das wird schwerlich geschehen. Die Kirche macht Nägel mit Köpfen – beziehungsweise Nagelkreuze. Der internationale Verbund der Nagelkreuz-Gemeinden hat sein Zentrum im englischen Coventry, dessen Kathedrale die Deutschen 1940 mitsamt der Stadt »coventrierten«. Im Trümmerschutt fanden sich mittelalterliche Dachnägel. Man fügte sie zum Friedenskreuz. Diesen Geist beanspruchen die Garnisonkirchfreunde a priori. In der Versöhnungskapelle erleben wir die Einführung der Pfarrerin Cornelia Radeke-Engst. Kulturprotestantisches Gepränge, glaubensfroher Gesang, Gäste von Heinrich XI. Prinz Reuss bis Brigadegeneral a. D. Speidel. »Dem Aufbau der neuen äußeren Kirche geht der Bau der inneren Kirche voraus«, so predigt die neue Pastorin. »Im Zeichen des Nagelkreuzes sind wir dem Dienst der Versöhnung verpflichtet. Wir bauen nicht den Festungsbau von 1732.« Auch die Andersdenkenden seien »Menschen mit Herzensanliegen«, zum Beispiel jene, »für die das alte, bewahrenswerte Potsdam das mit der Architektur aus der DDR-Zeit ist«.

Das klingt offen und warm. Aber Potsdam liegt im Streit. Ein Bürgerbegehren gegen den Wiederaufbau der Garnisonkirche haben bereits 14 000 Menschen unterschrieben. Wir besuchen die Initiatoren, den Ingenieur Sandro Szilleweit von der linksalternativen Stadtratsfraktion »die andere« und den Studenten Simon Wohlfahrt. Der beklagt den herablassenden Ton der elitären Kontrahenten: als ob das Nein zur Garnisonkirche Mangel an Bildung und Kultur bezeuge. Wohlfahrt wünscht schlicht keinen restaurativen Bau aus der Backform des preußischen Militarismus. Sonst fließe der alte Zweck in die Form zurück, zum neuerlichen Bündnis von Staat, Kirche und Militär. Stadt ist Prozeß, sagt Wohlfahrt. Stadtarchitektur müsse auch die Brüche der Geschichte ausdrükken. Er vertraue darauf, daß Architekten die historische Gestalt der Garnisonkirche mit der NS-Geschichte und der Kirchenfeindschaft der DDR verbinden könnten. Und er möge nicht glauben, daß die Kirche gegen den Willen der Bevölkerung baut.

Sandro Szilleweit sagt: Wenn man eine Versöhnungskirche haben will, dann soll man eine bauen, die auch so aussieht.

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Ich bin ein Nachkriegskind vom Jahrgang 1956. Mein Vater, 1920 geboren, war Pfarrer. Ein Bewahrter, so begriff er sich. Den spätberufenen Theologen der Heimkehrer-Generation blieb ihre Vorgeschichte Lebenswarnung. An die Stelle volksideologischer Rassenmoral trat der eigenverantwortliche Mensch. Als verwerflich galt nun jedwede Idee, die sich Gottes Platz anmaßte. Vater verfocht Luthers Zwei-Reiche-Lehre: der Obrigkeit zu geben, was ihr gebührt, aber Gott das Seine. Im Konfliktfall müsse das Gewissen entscheiden, insbesondere gegen die Doktrin vom gerechten Krieg. Du sollst nicht töten – das stand und steht als Gottes oberstes Gebot.

In meiner Kindheit war das Konsens. Im Dorf kursierte der Spruch: Dem Deutschen, der je wieder ein Gewehr ergreift, möge die Hand abfallen. Auf den Anrichten der Bauernstuben standen Photos junger Männer in Wehrmachtuniform, geziert von einem Trauerflor. Viele Frauen gingen in Schwarz, jahrein, jahraus.