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Hermannus Pfeiffer

Seemacht Deutschland

Hermannus Pfeiffer

Seemacht
Deutschland

Die Hanse, Kaiser Wilhelm II.
und der neue Maritime Komplex

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86284-270-4

Inhalt

Vorwort

Die Hanse – Netzwerk für Handel und Krieg

Welthandelszentrum Brügge

Geheimnisvolle Oosterlinge

Am Anfang waren neue Märkte

Ritterliche Kaufleute

Einfache Buchführung und das Hanse-Modell

Der Koggen

Reichtum dank Stapelrecht

Aufstieg zur Großmacht

Der Hanse-Komplex

Krieg und Frieden

Der Niedergang

PASSAGE 1 – EUROPÄISCHE SEEMÄCHTE

Flottenprogramm – Aufrüsten für den Krieg

Der amerikanische Clausewitz

Demokratische Flottenbegeisterung

Tirpitz’ Plan

»Deutschland AG«

Weltmarkt und Nation

Flottenpropaganda

Novemberrevolution

PASSAGE 2 – SCHIFFE UNTERM HAKENKREUZ

Der aktuelle Maritime Komplex – Auf zu neuen Ufern

Glänzender Horizont

Welthandel im Zeichen des Containers

Vernetzte Knotenpunkte

Ein Jahrhundertprojekt und viel Optimismus

Schröders Strategiewechsel

Merkels Masterplan

Bedrohte und begehrte Schatztruhe Meer

Energiereserven aus der Tiefsee

Bundesdeutsches Flottenprogramm

Politik im Kielwasser von Marine und Industrie

Globale Handlungsfelder

Wettrüsten zur See

Schaulaufen vor fremden Gestaden

Anhang

Literaturverzeichnis

Abbildungsnachweis

Zeittafel

Personenregister

Danksagung

Zum Autor

Vorwort

Seemacht ist politische Macht. Bereits zwei Mal in seiner Geschichte besaß Deutschland solche Seemacht: Beim ersten Mal prägte die Hanse scheinbar friedlich ein halbes Jahrtausend europäischer Geschichte, beim zweiten Mal endete das Flottenprogramm Kaiser Wilhelms II. und seines Admirals Tirpitz in der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Gegenwärtig schickt sich nun das wiedervereinte Deutschland zum dritten Mal an, als Seemacht auf der politischen Weltbühne eine Hauptrolle zu spielen.

Mit dem Amtsantritt von Kanzler Gerhard Schröder hat sich – von der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit nahezu unbemerkt – ein Maritimer Komplex herausgebildet, in dem Politik, Wirtschaft und Militär eng miteinander vernetzt sind. Seither haben die Berliner Regierungen Entscheidungen getroffen, die Deutschland politisch und geostrategisch in eine neue Position manövriert haben.

Innerhalb eines Jahrzehnts ist Deutschland zur führenden Handelsmacht auf den Weltmeeren aufgestiegen, schon gehört deutschen Eigentümern mehr als ein Drittel aller Containerschiffe. Diese Frachtriesen bewegen auch während der aktuellen Weltwirtschaftskrise die internationalen Warenströme rund um den Globus. Von der langen Aufschwungwelle haben nicht nur Reeder, Werften und Häfen profitiert, sondern beispielsweise auch Zulieferindustrie und Logistikunternehmen – quer durch die Republik. Bundesweit hängen mittlerweile die Arbeitsplätze von drei Millionen Menschen am maritimen Sektor.

Zeitgleich hat auch die Deutsche Marine neue Aufgaben übernommen. Am Morgen des 21. September 2006 meldete der Deutschlandfunk: »Die deutsche Marine ist zu ihrem Einsatz im Libanon aufgebrochen.« Für Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dieses erste Schaulaufen einer deutschen Flotte seit 1945 eine »historische Dimension«. Zu Recht, denn das Parlament rüstete den militärischen Friedenseinsatz mit einem »robustem Mandat« aus. Erstmals nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs darf von deutschen Kriegsschiffen wieder scharf geschossen werden. Damit die deutsche Freiheit nicht nur am Hindukusch, sondern auch am Horn von Afrika verteidigt werden kann, hat die Politik milliardenschwere Aufträge vergeben, um die Marine mit hochmodernen Korvetten und Fregatten aufzurüsten.

Während die einen den strategischen Politikwechsel als eine kluge Antwort auf die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts feiern, warnen andere vor der riskanten Neuausrichtung, welche die Bundesbürger nicht nur finanziell teuer zu stehen kommen könnte.

Um die Chancen und die Gefahren des aktuellen Maritimen Komplexes wirklich ermessen zu können, muss man zurückblicken auf die beiden bisherigen Maritimen Komplexe in Deutschland – in der wilhelminischen Ära und in der Zeit der Hanse, die heutige Politiker als Vorbild für die Europäische Union empfehlen.

Hermannus Pfeiffer
Hamburg, im Februar 2009

Die Hanse –
Netzwerk für Handel und Krieg

»Der Schatz der Schätze ist das Meer.«

Fernand Braudel

Welthandelszentrum Brügge

In düsteren Oktobertagen braust die vernichtende Sturmflut über das flache Land, über Flandern hinweg. Bauernhöfe und Wohnhäuser, Kirchen, Schlösser und ganze Dörfer versinken in den Wassermassen. Menschen ertrinken. Niemand zählt sie. Sie hatten dieses kostbare Land mühsam dem Wasser abgerungen, weil es fruchtbaren Boden verhieß. Das Meer kann jedoch unwiderstehlich zurückschlagen, und es holt sich dann zurück, was der Mensch ihm abgetrotzt hat: Land und Leben.

Als sich die herbstlichen Fluten des Jahres 1134 zurückziehen, bleibt der Zwin zurück, ein neuer breiter Meeresarm. Er reicht tief hinein ins Binnenland und beschert Brügge jählings eine Zufahrt zum Meer. In Zukunft werden die größten Frachter der Epoche, die Koggen, die wachsende Stadt anlaufen. Der überraschende Aufstieg des unscheinbaren Provinznestes zum Welthandelszentrum und zum strategischen Eckpunkt der Hanse beginnt.

In der Brügger Vlamingstraat steht rechterhand noch immer das uralte Haus der Familie Van der Beurse. Achtlos zieht der heutige Touristenstrom an dem vergleichsweise unauffälligen Giebelhaus vorbei, das im farbigen Meer historischer Herrenhäuser und Kaufmannspaläste untergeht. Hier bot Robert van der Beurse hundertfünfzig Jahre nach der Sturmflut erstmals Warenhändlern aus drei Kontinenten einen Treffpunkt, um ihre Geschäfte abzuwickeln und Geldkurse festzulegen. Hier ist einer der Ursprungsorte des modernen Kapitalismus.

In dem Haus Ter Beurse wurden schon um 1280 Wertpapiere in Umlauf gebracht. Es waren Wechsel, die ein italienischer Händler, der Gewürze und Gold nach Brügge gebracht hatte, in Venedig gegen Geld einlösen konnte oder die ein Lübecker Kaufmann für seine Lieferung norwegischen Stockfisches als Bezahlung akzeptierte. Belgische Historiker haben für Van der Beurses Arbeit den anheimelnden Begriff »Hotelier-Makler« geprägt.

Von diesem Gasthaus aus begann der moderne Finanzkapitalismus seinen Siegeszug um die Welt. Flämisch wird der Familienname der Hotelier-Makler »Böhrse« ausgesprochen, und so wurde dieser multinationale Treffpunkt im Zentrum des mittelalterlichen Brügge später zum Vorbild und Namensgeber für die Börsen in Frankfurt, London, an der Wall Street und in Shanghai. Um 1400 – zur Hochzeit der Hanse – galt das »Brügger Modell« (André Vandewalle) als führendes Bank- und Handelszentrum in Europa, als Drehscheibe zwischen den Warenströmen aus dem Süden und aus dem Norden.

Vor dem Börsengebäude stehend, schaut der Reisende des 21. Jahrhunderts auf den quirligen Marktplatz einer phantastischen Stadt der fernen Vergangenheit, und unweigerlich bleibt sein Blick an einem gewaltigen und doch eleganten Bau hängen: dem Belfort. 366 Stufen hoch, umschlungen von der mächtigen Lakenhalle, einem Tuchhandelszentrum der Hansezeit, beherrscht der Turm mit seinem Glockenspiel das mittelalterliche Stadtbild aus langen Kanälen, bunten Schaugiebeln und engen Brandgassen. Wenige Schritte neben dem Belfort liefen früher die Handelschiffe in die monumentale 35 Meter hohe Waterhalle ein, dem überdachten Hafenbecken im Zentrum der Stadt, deren Wappen die Farben der Hanse trägt: Silber und Rot bzw. Weiß und Rot.

Majestätisch – eigentlich bürgerlich – überschattet der wuchtige Belfort die prächtigen Adelspaläste, Klöster und Kirchen Brügges. Der herausragende, ansonsten nahezu funktionslose Belfort repräsentiert die Freiheit der Stadt, die Unabhängigkeit gegenüber Aristokratie und Klerus sowie die selbstbewusste ökonomische und politische Macht der Bürger des flachen Polderlandes. Reiche Patrizier hatten diesen Belfort schon zu Zeiten des Robert van der Beurse erbauen lassen.

Dreißig belgische Belforts wurden 1999 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt. Diese städtischen Glockentürme (dt. Belfried) sind eine flandrische Spezialität und stehen, wie die imposante Backsteingotik entlang der Ostseeküste, für die Befreiung der Städte von der feudalen Herrschaft, für die Macht der Fernhändler und Bürger – Symbol des Selbstbewusstseins der Patrizier. Zwei Dutzend Belforts stehen auch im flandrisch geprägten Nordfrankreich und ein einziger in den Niederlanden, in Sluis. Die Stadt mit den Hansefarben Weiß und Rot im Wappen wurde infolge der Flutkatastrophe von 1134 zum wichtigen Vorhafen Brügges.

Woher kam der Wohlstand der legendären Van der Beurses und der Reichtum der aus Genua zugewanderten Familie Adornes, die sich nach einer Pilgerreise bis Palästina eine eigene Jerusalemkirche in Brügge bauen ließ? Woher stammte das Vermögen der anderen Makler, Kaufleute und Bankiers, die Maler wie Pieter Pourbus, Hans Memling oder Jan van Eyck meisterlich porträtierten?

Der Wohlstand der Patrizier beruhte auf der günstigen Lage der Stadt, dem Geschick der Kaufleute, aber vor allem auf der Arbeit anderer: Mit den kunstvollen Teppichen der Knüpfer aus der Region dekorierten reiche Bürger, betuchte Adelige und Geistliche in ganz Europa die Wände ihrer herrschaftlichen Wohnräume, und die zierlichen Spitzen der Klöpplerinnen verschönten wohlhabende Damen. Das umsatzstärkste Produkt waren jedoch die feinen bunten Tuche, die im Umland von Heimarbeitern und von Arbeitern beiderlei Geschlechts in frühindustriellen Manufakturen gesponnen, gewebt und gefärbt wurden. In Brügge und seinem Umland – die Wappenschilder der Vorhäfen Sluis und Damme sowie von zwei Dutzend weiteren »subalternen Städten« sind am Brügger Rathaus angebracht – entstanden die herrlichen Stoffe für die Moden der Mondänen und Reichen.

Nirgends habe diese erste Industrie einen so stürmischen Aufschwung wie im mittelalterlichen Flandern genommen, notierte der belgische Wirtschaftshistoriker Henri Pirenne. Später hat ein englischer König flandrische Weber und Walker abgeworben, um die Tuchindustrie in Yorkshire zu entwickeln. Er sollte damit die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts vorbereiten. Doch bis dahin deckten die groben Webereiprodukte aus England lediglich die geringe Nachfrage der Krämer und Schuster, der armen Tagelöhner und lehnspflichtigen Bauern in vieler Herren Länder. Dem Bauern erlaubten aristokratische Kleidervorschriften nur schwarze und graue Gewänder aus derbem Gewebe.

Brügge profitierte dagegen von der modernen ritterlichen Kultur in Europa, die auf ein exklusives Erscheinungsbild Wert legte. Brügges Aufstieg zu einer »europäischen Stadt«, so ein belgischer Buchtitel, gründete auf der Verbindung einer speziellen heimischen Produktion, für die in Europa ein neuer Markt entstand, mit dem Fernhandel. Diese Verbindung von Produktion und Handel war typisch für erfolgreiche Hansestädte.

Um mit etwa 50 000 Einwohnern zu einer der größten Städte im damaligen Europa zu wachsen – die bevölkerungsreichste »deutsche« Metropole, die Hansestadt Köln, soll im Hochmittelalter 35 000 Menschen beherbergt haben –, bedurfte es daher noch eines (un-)glücklichen Zufalls, einer Katastrophe: Erst die verheerende Sturmflut von 1134 schuf die geographischen Bedingungen, um den einst unscheinbaren Ort im Binnenland während des 13. Jahrhunderts zu einem wereldhandelscentrum, wie Marc Ryckaert und André Vandewalle schreiben, aufsteigen zu lassen. Als wereldhandelscentrum (Welthandelszentrum) verband Brügge den Westen mit dem Osten, den Süden mit dem Norden. Romantische Wandgemälde im Gotischen Saal im ersten Stock des Rathauses feiern noch immer den Abschluss von Verträgen mit der Hanse und den internationalen Jahrmarkt, der ab etwa 1200 in Brügge stattfand und den offenbar schon Afrikaner und Asiaten besuchten.


»Im späten Mittelalter gibt es in Nordwest-Europa keine Stadt, die kosmopolitischer ist und eine internationalere Ausstrahlung hat als Brügge«, stellt Elviera Velghe vom Groeningemuseum fest. Im »Stapel der Christenheit« trafen sich die beiden großen Handelsgebiete, nämlich die europäische Hanse und die Handelsmetropolen Italiens: Florenz, Genua und Venedig. Die »Fremden« brachten Brügge neben Wohlstand, Wissen und kulturellen Neuheiten auch Handelswaren und Luxusgüter aus dem Süden.

Aus Kastilien und Katalonien kamen köstliches Mandelöl und Pelze, aus Portugal Eibenholz und später aus Afrika Elfenbein und aus den amerikanischen Kolonien Zucker, den in Afrika gekaufte Sklaven anbauten. Das marokkanische Fez lieferte kunstvolle Lederwaren und Edelhölzer vom Ahornbaum. Aus Sijilmassa in der Sahara stammten Datteln und aus dem noch christlichen Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, Alaun zum Färben in der Tuchproduktion. Aus Jerusalem brachten die Schiffe Rotholz nach Brügge, Gewürze aus Armenien und Perlen aus dem Königreich der Tartaren, Bimsstein aus Tunesien und Bougie, dem Handelshafen in Algerien, sie transportierten Reis von der Insel Mallorca sowie Felle aus Sardinien. Diese und viele andere internationale Handelswaren waren bereits um das Jahr 1300 in Brügge erhältlich.

Fernhändler wurden die Einheimischen trotzdem nicht. Von den einheimischen Bruggelingen sollen nur wenige ein europäisches Netzwerk unterhalten haben, wie es die ursprünglich aus Genua stammenden Adornes taten. In die weite Welt hinauszuziehen hatten jene auch gar nicht nötig, denn die Welt kam zu ihnen, und die Patrizier Brügges profitierten davon als Makler des Welthandels, denn bei Geschäften zwischen Fremden musste immer ein ortsansässiger Makler wie die Van der Beurses hinzugezogen werden.

Der Ausdruck »Nation« bezeichnete im internationalen, staatenlosen Mittelalter Menschen mit gleicher Sprache. In Brügge sollen zeitweilig 34 »Nationen« Niederlassungen in der Hafenstadt unterhalten haben, darunter Engländer, Schotten, Spanier sowie Kaufleute-Bankiers aus den italienischen Metropolen, darunter auch die Medicis. Die wohl wichtigste und mächtigste Niederlassung unterhielten jedoch die Oosterlinge, wie hier weit im Westen die befreundeten Kaufleute der Hanse hießen, die sich in Dokumenten gern auf das Heilige Römische Reich und dessen römisch-deutschen Kaiser bezogen. Ihren Palast hat Pieter Claeissens der Ältere in einem Gemälde als eines der »Sieben Wunder von Brügge« festgehalten.

Wer waren diese Oosterlinge und was die Hanse? Und wie konnten sie in diesem Welthandelszentrum zu einer solchen dominierenden Macht gelangen und über Privilegien verfügen wie die Befreiung vom Zoll, die laufend fortgeschrieben wurden und die den hansischen Kaufleuten nahezu eine Monopolstellung verschafften?

Geheimnisvolle Oosterlinge

Gemeinhin wird heute unter »Hanse« ein Bündnis aus einigen deutschen Küstenstädten verstanden, das zwischen dem 12. und 17. Jahrhundert eine Zeit lang vorrangig den Ostseehandel dominierte. Als Hauptstadt der Hanse wird meist Lübeck genannt. Seine Gründung im Jahr 1143 wird als offiziöses Gründungsdatum der Hanse angesehen und der 1230 geschlossene Freundschaftsvertrag mit dem kleineren Nachbarn Hamburg, dem danach auch andere Städte beitreten, als Beginn der sogenannten Städtehanse. Solche Vorstellungen werden der europäischen Großmacht Hanse nicht gerecht, und sie werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten.

Die meisten Oosterlinge in Brügge kamen sicherlich nicht von der Küste. Ohnehin ist es falsch, die Hanse als einen Bund von Seestädten zu begreifen: Köln, Dortmund, Münster oder Berlin gehörten ebenso dazu wie Hamburg, Danzig oder Riga. Und auch die Bezeichnung »deutsch« ist missverständlich, denn einen deutschen Staat gab es noch nicht. Der frühe Hansekaufmann handelte in einem Raum, der sich von Flandern über das niederrheinische Tiefland, die Kölner Bucht und die norddeutsche Tiefebene in einem breiten Streifen an den Küsten der Ostsee weiter bis Nowgorod und in die Fernen Russlands hineinzog. Ein Großteil der Menschen in diesem Raum sprach zur Hansezeit eine gemeinsame Sprache, das Niederdeutsche. Der Begriff »deutsch« grenzte seit etwa dem 10. Jahrhundert die Volkssprache des Nordens gegenüber dem Romanischen des Südens ab. Unter den Fernkaufleuten der Hanse-Epoche spielte die niederdeutsche Sprache eine Rolle wie in der Gegenwart das Englische.

Und auch über die Zahl der Hansestädte herrscht keine Klarheit. Dabei wuchs sie seit 1150 real und auch in der Rückschau späterer Generationen: Die ehrwürdige »Oeconomische Encyclopädie« des Johann Georg Krünitz, die zwischen 1773 und 1858 in 242 Bänden erschien, zählt noch Quellen auf, die der Hanse nur 72 oder 85 Städte zuschlagen; seit dem unlängst verstorbenen Klassiker der Hanseforschung, dem französischen Historiker Philippe Dollinger, hat sich schließlich die Zahl 200 mit gewissen Abweichungen eingebürgert.

Eine verbindliche Zahl gibt es aber bis heute nicht. Im Großen und Ganzen dürften die Historiker mit der Zahl 200 richtig liegen, denn zum 28. Internationalen Hansetag der Neuzeit reisten im vergangenen Jahr neben Bundespräsident Horst Köhler auch Vertreter von weit mehr als 100 früheren Hansestädten nach Salzwedel, um sich mit kulinarischen und kulturellen Spezialitäten zu präsentieren und Kontakte zu vertiefen. Insgesamt 170 Städte aus 15 Ländern will der 1980 als Wirtschaftskooperation mit politischen Zielen wiederauferstandene Hansetag mittlerweile zählen.

Und selbst die Assoziation von Hanse mit Hansestädten führt in die Irre. Denn das Wort »Hanse« bedeutet, folgen wir Philippe Dollinger, ursprünglich eine »bewaffnete Schar«. Fernhandel war Abenteuer in gefährlichen Zeiten. Kaufleute waren darum bewaffnet. Im 12. und 13. Jahrhundert taucht der Begriff zwischen Seine und Elbe für diverse Genossenschaften auf, aber 1343 wendet sich der König von Norwegen und Schweden an das universos mercatores de hansa Theutonicorum, also die Gemeinschaft der deutschen Kaufleute. Nach »dem Verschwinden ihrer unbedeutenden Vorgängerinnen«, so Dollinger, wurde aus der Hanse im eigentliche Sinne »die Hanse«.

Das größte Rätsel jedoch geben die geheimnisvollen, weil weitgehend zwanglosen Strukturen der Hanse auf. Europa war im hohen Mittelalter dünn besiedelt. Die Zentralgewalt des Kaisers und der Könige war schwach, und die Herrschaft der regionalen, adeligen Lehnsherren wurde von den entstehenden und wachsenden Städten zurückgedrängt. Pestzüge um 1350, in denen ein Drittel der Einwohner Europas starb, und Judenpogrome, Hungersnöte und später Staatsbankrotte, fürstliche Fehden und Feldzüge, Bauernkriege und Reformation destabilisierten viele Regionen. Angesichts des politischen Flickenteppichs in Deutschland und Europa hätte ein festes Bündnis von zweihundert freien Städten, so gewollt, die Großmacht schlechthin auf dem Kontinent werden können.

Die Hanse war aber kein festes Bündnis, sondern eine nahezu virtuelle Organisation ohne Mitgliedschaft, ohne bürokratische Struktur, ohne Hierarchie und ohne ein manifestes Zentrum, selbst wenn Lübeck sich gerne als Hauptort sieht. Die zweihundert See- und Binnenstädte bildeten Knoten in einem Netz, das sich über eine Länge von 1500 Kilometer spannte. Wie das eingangs geschilderte Beispiel Brügge mit seinen Vorhäfen und »subalternen Städten« im Umland zeigt, wurde der Raum zwischen den Knoten durch lokale Verbindungen intensiv mit Leben ausgefüllt. Lediglich zu wenigen regionalen und überregionalen Tagfahrten, erstmals 1356 im Lübecker Rathaus, trafen Vertreter der Städte zusammen, um gemeinsam zu beratschlagen. Verbindliche Beschlüsse gab es auf diesen Hansetagen, zwischen denen meist mehrere Jahre liegen, nicht. Trotzdem brachte dieses lose Netzwerk seinen Akteuren erhebliche Vorteile.

Münster und Venedig

In Münster wartet auf heutige Hansereisende eine weitere Überraschung. Münster hatte im Mittelalter zunächst als Hansestadt, ab 1494 als Vorort der westfälischen Hanse nationale Bedeutung erlangt. In der Stadt findet sich ein dezenter Hinweis auf Venedig, selbst die Mittelmeermetropole des Mittelalters fühlte sich der Hanse auffallend verbunden. Im Pflaster der alten Salzstraße sind in Bronze gefasste »Hanse-Steine« eingelassen, die befreundete Hansestädte anlässlich der 13. Hansetage der Neuzeit übergeben hatten, darunter auch einer mit der Aufschrift »Venedig«.

Nur die Deutschen, so Pirenne, hatten eine eigene Niederlassung in Venedig, keine andere Nation. Der Fondaco dei Tedeschi wurde nicht, wie gemeinhin angenommen, nur von oberdeutschen Kaufleuten genutzt, sondern auch von Hanseaten. Dies zeigt die Korrespondenz des Lübecker Hildebrand Veckinchusen, eines der ältesten erhaltenen Dokumente über das Handelsgeschäft.

Über ihre dortige Niederlassung dürften die Hanseaten Mandeln und Rohrzucker kennengelernt haben. Lübecker Kaufleute, die ihren salzigen Matjeshering bis nach Venedig brachten, nahmen auf dem Rückweg eine arabische Süßigkeit mit, marci panis, das Markusbrot, benannt nach dem Stadtheiligen Venedigs.

Der Einfluss der Hanse reichte über den unmittelbaren »hansischen Raum« (Heinz Stoob) hinaus: mittelbar über dreißig eigene Kontore im »Ausland« und vor allem über ihre mächtigen Außenhandelszentralen, die Großkontore in Brügge, Bergen, London und Nowgorod. Beispielsweise trafen am hansischen Peterhof im russischen Nowgorod die Handelswege aus Sibirien, Schwarzem Meer und Zentralasien zusammen. Daneben gab es direkte Kontakte der Hanse bis nach Island im Norden und bis weit ins Mittelmeer. »Endlich wurde derselbe (Hansebund) so stark, daß die vornehmsten Handelsstädte es mit ihnen hielten«, beklagte die »Oeconomische Encyclopädie«, die der Hanse nicht wohl gesonnen war, und nannte unter anderem Bordeaux, Lissabon, Marseille, Barcelona sowie Neapel.

Für fast drei Jahrhunderte triumphierten die hansischen Kaufleute über die Konkurrenten, die sie im Ostseeraum und in der Nordsee hatten; mehr als fünfhundert Jahre lang hielt dieses einzigartige Netz. Der virtuelle Halbstaat Hanse war in Europa lange eine wirtschaftliche und zugleich eine politische Macht und galt der Epoche mit ihren Maßstäben zeitweise als Weltmacht, die Könige krönte und stürzte und Reiche wie England besiegte. »Die Hanse«, fasst Ulrich Fischer, Mediävist am Historischen Archiv der Stadt Köln, das geschichtliche Mosaik zusammen, »war eine Großmacht, die es verfasst nicht gab« – und die gerade deshalb das Interesse von Wirtschaftssoziologen, Institutionenökonomen und Politologen geweckt hat.

Am Anfang waren neue Märkte

Die Anfänge der Hanse liefern einen Fragenkatalog für Archäologen, die sich weitgehend ohne schriftliche Funde auf der Basis von Ausgrabungen ein schemenhaftes Bild machen müssen, während die spätere Phase der Hanse, als der Handel verschriftlicht worden war, den Historikern leichtere Beute beschert, auch wenn diese Schriften nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit widerspiegeln. Dennoch lohnt ein Blick zurück auf den Urknall aller deutschen Maritimen Komplexe.

Ägypten und Syrien, Athen und Rom – seit der Antike bilden das Mittelmeer und seine Anrainer das ökonomische Zentrum der alten Welt. Meer, Schifffahrt und Handel verbanden Orient und Okzident, Morgenland und Abendland. Der Niedergang Roms, das Vordringen germanischer Völker nach Süden und die Ausbreitung einer jungen Religion im 7. Jahrhundert, des Islam, schufen jedoch eine andere geostrategische Situation. Das vermittelnde Meer wurde zu einer trennenden Schranke, Schifffahrt und Handel erlahmten. Der Gegensatz der zwei Religionen, politische und ökonomische Spannungen, Piraten und Kreuzzügler führten zu einem »fortwährenden Kriegszustand« in Europa, konstatiert Henri Pirenne. Dieser fortwährende Kriegszustand belastete die Wirtschaft am Mittelmeer jahrhundertelang, trotz Venedigs Aufstieg zur Seemacht des nordöstlichen Mittelmeeres und trotz der christlichen Millionenstadt Konstantinopel.

Die Gesellschaften im westlichen Europa fielen unterdessen mit dem Ende Roms auf die Stufe der Agrarkultur zurück. Daran änderte auch die Ära Karls des Großen, Charlemagne nennen ihn die Franzosen, wenig. Sein Frankenreich blieb eine Landmacht, die selbst gegen die flotten Einfälle der zersplitterten Nordmänner hilflos war. Und doch einte Karl einen großen Teil Europas, zentralisierte diesen ansatzweise und begann im Norden an der Elbe mit der militärischen Ostexpansion gegen die Slawen. Die Folgen sind noch heute zu spüren: Der Schwerpunkt der Entwicklung der alten Welt verschob sich seit Karl dem Großen vom Süden in den Norden, dort, wo sich mit der Hanse-Ära erst in Flandern, später in England, kapitalistische Züge zeigten.

Handel und Städte waren seit der Antike fast verschwunden. Was blieb, war der Großgrundbesitz; eine kleine Minderheit kirchlicher und weltlicher Herren teilte sich das Eigentum. Dieses System funktionierte als sich selbst genügende Hauswirtschaft. Das westliche und nördliche Europa war ab dem 9. Jahrhundert im Wesentlichen bäuerlich, der Warenaustausch befand sich auf niedrigster Stufe, der berufliche Kaufmannsstand war nahezu verschwunden, es gab lediglich einen geringen Fernhandel mit Luxusgütern. Warenhandel galt im christlichen Milieu als moralisch verwerflich, ebenso wie Geldgeschäfte und Zinsen.

Um 1100 – wenige Jahrzehnte vor der Flutkatastrophe, die Brügge zu einem Seehafen verhalf – drehte sich jedoch der Wind. Irgendwo in den Weiten der norddeutschen Marschen oder in den Flusstälern Westfalens und Niedersachsens begann die Frühphase der Hanse.

Zwar hatten nach der Antike weiterhin Wege den Kontinent durchkreuzt, und das Geschäft mit Gewürzen, Wein, Pelzen und anderen Luxusgütern aus fernen Ländern war wohl nie vollständig zum Erliegen gekommen, aber der Landtransport über längere Distanzen war zeitraubend, beschwerlich und gefährlich. Straßenräuber, Raubritter – die schon seit dem 9. Jahrhundert ihr Unwesen trieben – und ein ausuferndes Fehdewesen gefährdeten jeden Handel. Gefahren bedeuteten zudem Unwetter in menschenleeren Gebieten ohne Unterschlupf oder kaum passierbare Wegstrecken durch das Moor, und spätestens wenn ein Reisender den Rechtsbereich seines Herrn verließ, war er oft vogelfrei. Größere Lasten ließen sich auf holprigen, ungepflegten Wegen ohnehin nicht bewegen.

Es war eine Zeit, in der das Land teilte – nur Flüsse und Meere verbanden. Die Alternative war daher das Schiff. Schifffahrt ist bis heute die Basis für Fernhandel, sie ermöglicht ihn überhaupt erst. Selbst kleine Flüsschen boten eine natürliche blaue Straße für Boote und Kähne, die schwerere Lasten als träge Ochsenkarren auf einer Landstraße transportieren konnten – schnell, kostengünstig und vergleichsweise sicher. Erst recht galt dies für Schiffe, die auf Rhein, Ems oder Elbe, also den breiten Flüssen, oder entlang der Küsten fahren konnten. Die Vorteile des Schiffes waren den Menschen durchaus seit langem bekannt gewesen. So sollen die in Flandern gewebten Tuche auch nach dem Ende Roms von friesischen Seeleuten auf den Flüssen der Niederlande transportiert worden sein. Es bedurfte jedoch weit mehr als blauer Straßen und einfacher Schiffe, um die Meere zu erobern.

Ein elementarer Faktor, der es ermöglichte, die Stagnation der hauswirtschaftlichen Agrarwirtschaft zu überwinden und den minimalen Luxushandel für Adel und Klerus in einen üppigen Fernhandel mit Massenkonsumgütern zu verwandeln, stellte der Klimawandel dar. Nach der kühlen Witterung im frühen Mittelalter lag seit dem späten 10. Jahrhundert die Temperatur bis in die Hochphase der Hanse im 15. Jahrhundert deutlich über der Zeit davor und auch der Zeit danach, denn für etwa das 16. bis Mitte des 19. Jahrhunderts vermerkt die »Wetternachhersage«, so der Schweizer Klimahistoriker Christian Pfister, eine »Kleine Eiszeit«.

Der wirtschaftliche Aufschwung wurde durch das sogenannte Mittelalterliche Klimaoptimum angetrieben. Die im Schnitt ein oder zwei Grad höheren Temperaturen erlaubten satte Ernten: In den Mittelgebirgen konnte bis in Höhenlagen Getreide angebaut werden, die Vegetationsperiode im Osten wurde länger, der Weinanbau florierte am Niederrhein ebenso wie in Schottland, und weite Küstenabschnitte Grönlands waren eisfrei. Wikinger fanden dort grüne Weiden vor und gaben der Insel ihren Namen: Grünes Land.

Doch zur Agrarrevolution – eine urwüchsige Akkumulation, die lange vor der von Karl Marx beschriebenen »ursprünglichen Akkumulation« einsetzte – trug nicht allein das Klima bei, sondern auch »subjektive« Faktoren wie der Erfindungsreichtum einzelner Bauern und Lehnsherren. Die gebräuchlichen Pflüge waren bisher von schweren Ochsen gezogen worden und hatten die Erdkruste nur notdürftig aufreißen können. Mit dem neuartigen Wendepflug war es fortan möglich, Unkraut, Getreidestoppeln und Dünger – eine weitere Neuerung – unterzupflügen. Dank einem neuem Geschirr, dem Kummet, konnten die wirtschaftlicheren Pferde als Zugtiere eingesetzt werden. Die Einführung der Dreifelderwirtschaft verhinderte, dass die Erde auslaugte, und der Anbau von Bohnen und Erbsen behob den Eiweißmangel in der Ernährung der meisten Menschen.

Größere und bessere Ernten genügten, um mehr als den persönlichen Bedarf der Hausgemeinschaft zu decken. Trotz zeitweiliger und regionaler Missernten und Hungersnöte blieb den Bauern und Lehnsherren nun im Regelfall ein Überschuss, ohne den kein freier Handel möglich gewesen wäre. In der Folge begünstigten der Handel und der damit entstehende Markt wiederum die Landwirtschaft. Bislang hatte die Hauswirtschaft als Selbstversorger alle Lebensmittel selbst anbauen und alle handwerklichen Produkte selbst herstellen müssen. Nun konnten beispielsweise Fleisch oder Wein zugekauft werden. Es folgten ab dem Jahr 1100 berufliche Spezialisierungen und daraus noch höhere Erträge. So wurde beispielsweise im Bordelais in Südwestfrankreich der Weinanbau kultiviert, während sich im späteren Polen und Preußen die Landwirtschaft auf den Getreideanbau konzentrierte. Damit waren Bedingungen gegeben, um den geringen Luxushandel, mit dem sich Europa während des frühen Mittelalters begnügt hatte, zu einem Massenhandel anschwellen zu lassen. Zugleich wuchs die notwendige Zahl an Kunden heran, die ein Kaufmann benötigte, denn auch die Bevölkerung nahm rasant zu. Im wörtlichsten Sinne entstanden neue Märkte, Jahrmärkte wie in Brügge, die von Bauern aus der Umgebung, Händlern von Nah und Fern bedient wurden.

Die Bevölkerung des Regnum Teutonicum wuchs zwischen den Jahren 1000 und 1300 von etwa 3,5 auf 13 bis 14,5 Millionen Einwohner an, schätzt Hanseforscher Rolf Hammel-Kiesow. Andere Autoren gehen von einem ähnlich imposanten Bevölkerungswachstum aus, so auch der italienische Historiker Carlo Cipolla: in Deutschland und Skandinavien von 4 auf 12 Millionen, in Italien von 5 auf 10 Millionen, in Spanien von 7 auf 9 Millionen, in Frankreich von 5 auf 15 Millionen und auf den britischen Inseln von 2 auf 5 Millionen. Alles in allem wuchs die Einwohnerschaft im westlichen Europa von 25 auf 50 Millionen – wobei der humorige Cipolla allerdings zu bedenken gibt, wie solche Statistiken zu bewerten sind: »Die einzigen zuverlässigen Zahlen sind die Jahreszahlen.«

Neben Klima, Technik und Demographie begünstigten auch politische Faktoren das Entstehen neuer Märkte. So wurden die blutigen Einfälle der Nordmänner und Ungarn selten. Die relativ friedlichen Zeiten brachten einen weiteren Nutzen mit sich: Der Adel wurde gewissermaßen arbeitslos. In der Ständeordnung oblag ihm der Schutz des Gemeinwesens. Seine kriegerischen Energien konzentrierte er seit dem ersten Kreuzzug im Jahre 1095 in Richtung Mittelmeer und »Heiliges Land«. Damit verschaffte er der Ökonomie in Deutschland im Wortsinne Freiraum, denn bislang hatte der Adel an vielen Stellen des Reiches, das noch keines war, die Ökonomie schmarotzend und räubernd gebremst.

Die daraufhin bald spürbare finanzielle Schwäche der adeligen Lehnsherren in den deutschen Provinzen und die kaum wirksame Zentralgewalt des Kaisers begünstigten den Aufstieg der Städte. Sie wurden zu Märkten und Knotenpunkten in einem wirtschaftlichen Netz, ohne die weder internationaler Großhandel noch die Hanse möglich geworden wären.

Bis dahin hatte urbanes Leben nur in wenigen alten Römerstädten wie Köln oder Trier stattgefunden. Dann löste der allgemeine wirtschaftliche Aufschwung eine Welle von Stadtgründungen aus: Um das Jahr 1150 gab es zwischen Brügge und Wien, Schleswig und Genf knapp 200 Städte, ein halbes Jahrhundert später waren es schon 500 und nochmals ein halbes Jahrhundert danach bereits über 1500 Städte, ermittelte Stefan Weinfurter von der Universität Heidelberg.

Zunächst war die Gründung einer Stadt für den adeligen Stadtherren eine willkommene Einkommensquelle aufgrund von Steuern und Abgaben, die etwa ein Müller für die Erlaubnis, eine Mühle betreiben zu dürfen, bezahlen musste. Aber binnen kurzem wuchsen die Städte mit ihren bürgerlichen Freiheiten dem Adel und Klerus über den Kopf. Mit der steigenden Bevölkerungszahl nahmen der Konsum und die Arbeitsteilung vor allem im Gewerbe zu. Fortschritte in der für die städtische Wirtschaftsweise grundlegenden Metallverarbeitung sorgten für ähnlich große Produktivitätssprünge wie in der Landwirtschaft. Mit dem sie umgebenden Land ging die Stadt eine symbiotische Arbeitsteilung ein, von der trotz Landflucht beide Seiten profitieren.

»Auf dieser Grundlage konnten die Kaufleute ihren Handel intensivieren und in großräumig organisierten Zusammenschlüssen Netzwerke mit Handelsstützpunkten aufbauen«, fasst Stefan Weinfurter die Entwicklung zusammen. Ähnlich den Stadtstaaten in Oberitalien waren auch die späteren Hansestädte im Mittelalter führend bei Neuerungen, und sie profitierten von der relativen Rückständigkeit der sie umgebenden Territorien, deren Zersplitterung, von der Schwäche der Kaiser, der bröckelnden Kirchenmacht und von der vorherrschenden traditionellen feudalen Wirtschaftsweise.

Alles in allem erscheint das Mittelalter weit weniger »finster«, als häufig behauptet. »Die erste industrielle Revolution datiert auf das Mittelalter«, schrieb Jean Gimpel in »La Revolution Industrielle Du Moyen Age« in den siebziger Jahren: »Das 11., 12. und 13. Jahrhundert haben eine Technologie geschaffen, auf die sich die industrielle Revolution des 18. Jahrhunderts stützt, um ihren Aufschwung zu nehmen.« Gimpel denkt an Kompass und Schiffstechnik, an Silber- und Kupferbergbau, an die erste Papiermühle in Spanien, den keltischen Kirchenbau, die Nutzung von Wind und Wasser zur Energieerzeugung, die Brille und den Sankt-Gotthard-Pass, an klösterliche Fabriken und arbeitsteilige Produktion. Und er denkt an die Gutenberg-Galaxis, in welcher der maschinelle Buchdruck die handgeschriebene Kopie ablöste und die Möglichkeit schuf, dass Lesen und Schreiben populär wurden – eine kulturelle Revolution.

Dadurch konnten zwei Bücher, die heute noch manche Kindheit schmücken, zu hansischen Bestsellern aufsteigen: »Reynke de vos«, die Geschichte des schlauen, sozialkritischen Fuchses, wurde 1498 erstmals in niederdeutscher Sprache in Lübeck gedruckt, und Hermann Botes Gesellschaftssatire »Till Eulenspiegel«. Eine Figur, die später der Brügger Autor Charles de Coster als antispanisches Befreiungsepos für Flandern und die Niederlande fortschrieb.

Gleichwohl streiten heutige Historiker über den beschriebenen Zeitraum. Während Jacques LeGoff den ökonomischen Wandel und das Wachstum der Städte betont, verweigert sich Robert Fossier, der wie sein Kollege aus der Schule der »Annales« erwuchs, einer Periodisierung des »Mittelalters«. Der französische Historiker malt stattdessen in seinem jüngsten Werk ein lebendiges Bild der alltäglichen Verhältnisse, vom Menschen und seiner Gesellschaft, und herauskommen Zeitgenossen, die »gar nicht so anders sind als wir«. Die Lebenswelt mag sich verändern, nicht aber der lebenswirkliche Kern des Alltags. Auch andere Historiker stellen in Frage, ob man von einer frühen industriellen Revolution sprechen sollte. Schließlich lebten achtzig oder neunzig Prozent der Menschen auf dem Land und bekamen kaum etwas von den Entwicklungen in den wenigen Städten mit.

Dennoch kann bezweifelt werden, dass sich technologische, gesellschaftliche Brüche (LeGoff), lebenswirkliche Kontinuität (Fossier) und »Pfad in die Moderne« widersprechen müssen. Von einem »finsteren« Mittelalter zeugen jedenfalls viele der bekannten Spuren nicht. Allein die Erfindung des Buchdrucks genügt, um dem sogenannten Mittelalter in der Kulturgeschichte des Abendlandes einen Platz erster Ordnung zuzuweisen.

Jean Gimpel in den siebziger und der Literaturwissenschaftler Michael Nerlich in den neunziger Jahren eckten mit der These eines modernen Mittelalters in einer Zunft an, die sich lange lieber an punktuellen Ereignissen wie »1492« oder charismatischen Persönlichkeiten wie Columbus orientierte als an Zyklen des Klimas, der Landwirtschaft oder der Technik. Dabei macht die traditionelle Hanseforschung keine Ausnahme. Und doch ist der Blick auf die longue durée, die lange Dauer, ergiebig: Im Mittelalter wurde von der Hanse ein Kurs eingeschlagen, der zum tirpitzschen Flottenprogramm um 1900 und zum heutigen Maritimen Komplex führen sollte. Doch davon später.

Ritterliche Kaufleute

Die Bezeichnung Aventure umschreibt die ritterliche Abenteuerreise, mit der sich der junge Knappe zum edlen Ritter adelt. Turniere hoch zu Ross, der Zweikampf mit Lanzen und spielerische Massengefechte, König Artus und der Heilige Gral sind in der Gegenwart als literarische, musikalische und filmische Motive vertraut, wie der englische Comic »Prinz Eisenherz«, Cervantes’ »Don Quijote«, die Geschichte des Ritters von der traurigen, aber neugierigen Gestalt, oder Wolfram von Eschenbachs »Parzival«.

Den kühnen Recken aus den genannten Abenteuern glich der mutige Fernhandelskaufmann in der Frühphase der Hanse. Auch der grenzüberschreitende Handlungsreisende – es dürfte meist ein junger Mann gewesen sein – suchte die Aventure. Jugendliche Abenteuerlust und das Streben nach Gewinn und Macht ließen ihn hinauseilen in die fremde, teilweise unbekannte Welt.

Fernkaufleute galten in ihrer Zeit als homines duri, als harte Männer, die das Schwert zu führen wussten. Fernkaufleute und Ritter pflegten einen ähnlichen Lebensstil, auch weil sie häufig der gleichen sozialen (Ober-)Schicht entstammten. Dem ritterlichen Kaufmann gab schon im 13. Jahrhundert der Schriftsteller Rudolf von Ems in »Der guote Gêrhart« eine literarische Gestalt.

Nun mögen auch vorhansische Generationen junger Männer die Lust auf Seeabenteuer und Gewinn verspürt haben. Folgen konnten sie ihrer Lust nicht. Handel und Seefahrt kamen nach der Römerzeit nur langsam in Gang. Dem römischen Offizier und Gelehrten Gajus Plinius Secundus, der um 45 u. Z. durch Teile Germaniens geritten war, beschrieb das karge Leben, wie es sich ein Jahrtausend lang an den Küsten zwischen Flandern und Jütland abgespielt haben mag. »In gewaltiger Strömung ergießt sich dort der Ozean zweimal bei Tage und bei Nacht auf ein ungeheures Gebiet, von dem man im Zweifel sein kann, ob es zum Lande gehört oder ein Teil des Meeres ist.« Dort lebe ein »elendes Völkchen« in Hütten auf aufgeschütteten Hügeln knapp oberhalb der Flutkante. Die Bewohner dieser Warften – Friesen und Dithmarscher – glichen bei Flut Segelnden im Meer und bei Ebbe Schiffbrüchigen an Land.

Ganz so elendiglich, wie es dem vom Luxus verwöhnten Römer erschien, haben aber die Menschen weder zu dieser Zeit noch in den folgenden Jahrhunderten auf wasserumtosten Warften und Halligen (Inseln im Wattenmeer) nicht gelebt. Der junge Marschboden war im Gegensatz zum hoch gelegenen und sicheren Geestland außerordentlich fruchtbar. Ackerbau und Viehzucht, Fischfang, die Salzgewinnung aus getrocknetem Torf und im Winter das Schneidern fester Wollmäntel warfen bald bescheidene Überschüsse ab.

Um den Überschuss zu realisieren, musste gehandelt werden. Junge Männer verkauften gesalzene Heringe ins Inland oder fuhren nach Fernhandelsplätzen wie Ribe in Dänemark oder dem in der Schleswiger Enge zwischen Nord- und Ostsee gelegenen Haithabu, wo Seide oder Pfeffer – Gewürze waren überaus kostbare Handelsgüter – bei arabischen Händlern eingekauft wurden. Andere sollen wie die Wikinger – Piraterie stand ebenfalls am Beginn des Handels – über Gotland in der Ostsee, Nowgorod und die russischen Flüsse bis nach Byzanz (Konstantinopel) gelangt sein.

Fraglos bedurfte es Kühnheit und körperlicher Fitness, um in kleinen »Nussschalen« über Meer und Flüsse zu den wenigen, weit entfernten internationalen Handelsplätzen zu reisen, wie ins genannte Haithabu oder auf die ebenso legendären Märkte in der Champagne, etwa nach Troyes, oder ins englische Winchester, nach Köln oder Brügge. Ein Dutzend solcher »Messen« strukturierten den überregionalen Handel des 12. und 13. Jahrhunderts. Zeitlich teilweise aufeinander abgestimmt, sorgten sie übers Jahr für einen »permanenten Jahrmarkt« (Franz Irsigler) für Tuche, Leder und Pelze, Gewürze und Finanzgeschäfte.

Einzelne werden dieses Abenteuer der Kauffahrtei gesucht und gefunden haben. Doch für die Entwicklung der Hanse bedurfte es, an der See wie im Binnenland, einer kritischen Masse an Produktüberschuss und Bevölkerungszuwachs, um dauerhaft regelmäßige Handelsströme zu erzeugen.

Zulauf erhielt dieser Handelsstrom an den Küsten durch die Gewinnung und Kultivierung weiter Marschgebiete an der Nordsee und an den Mündungen großer Flüsse wie Rhein, Schelde, Ems oder Elbe. Zur Hochzeit der Messen wurden größere Orte und bald ganze Marschlande eingedeicht und mit modernsten Mitteln kultiviert. So benutzten Dithmarscher offensichtlich lange vor den Bauern im Binnenland den revolutionären Wendepflug und düngten mit kalkhaltigem Mergel, den sie aus dem Meeresboden ausgruben. Dithmarschen entwickelte sich später zu einer adelsfreien (Groß-)Bauernrepublik, die neben dem Deutschen Orden als einzige nichtstädtische Institutionen der Hanse angehörte.

Zurück zum handelnden Jungmannen: Fritz Rörig, der vor, während und nach der Nazizeit am Steuerrad der deutschen Hanseforschung stand, und dem später sein Biograph ein »nationales Wertesystem« und eine »demokratische Grundgesinnung« nachsagte, schwärmte wiederholt vom »echten, wagenden Unternehmertum«, aus dem die Hanse hervorgestiegen sei. Eine Idee, die Joseph Schumpeter in die moderne, neoliberale Ökonomie und Wirtschaftssoziologie als »schöpferischen Unternehmer« einführte. Tatsächlich war der frühe Angebots-Fernhändler an der Küste ein wagender Akteur, aber nicht weniger der ökonomisch verwandte ländliche Bauernhändler, der mit seinem überschüssigen Dinkel über Land reiste und das Mehrprodukt seiner Arbeit in benachbarten Dörfern anbot, oder der städtische Gürtelmacher oder Kannengießer.

Ging die erste Reise gut, entstanden Informationskanäle und Kontakte. Ein Vertrauensverhältnis bildete sich, ohne das nachhaltiges Handeln unmöglich ist. Aus Vertrauen – heute eine wirtschaftssoziologische Kategorie – erwuchsen Regeln, aus Regeln Gesetze, und aus dem erworbenen Vertrauen ergaben sich wiederum neue Kontakte. So wurden die Reisen länger, und die losen »Netzwerke« wurden aktiv ausgedehnt.

Massenhafter Fernverkehr bedurfte jedoch umfänglicherer Lösungen als sporadische Kontakte Einzelner, zumal der Handel, insbesondere der Seehandel, auch um 1100 abenteuerlich blieb. Männer und Schiffe wurden von Stürmen, Untiefen und Piraten bedroht. Um den Gefahren des Meers und den feudalen Gewalten zu trotzen – und auch um genügend Kapital aufzubringen –, fanden sich einzelne Kaufleute zusammen; sie bildeten eine Gruppe oder – niederdeutsch – eine »Hanse«. Um dies zu verdeutlichen, stelle man sich Folgendes vor: Ein angehender Profi-Kaufmann in Hamburg suchte sich ein oder zwei Gleichgesinnte. Die Drei warfen Arbeit und Kapital ins selbe Boot und gründeten für ihr kommerzielles Abenteuer eine Genossenschaft, die »Partenreederei« war geboren. Die drei Männer ließen sich nun ein »Schiff« zimmern – damalige Boote überdauerten nur wenige Fahrten –, luden es voll mit schmackhaftem Bier und fuhren allein die Elbe hoch bis zu den Orten im Mündungsgebiet. Seeleute, die man anheuern konnte, gab es noch nicht. Spätere Fahrten, vielleicht schon im kleinen Konvoi, führten sie bis nach Brügge. Denn je weiter entfernt ein Ziel lag, desto größer konnte der Gewinn ausfallen.