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Marie Rotkopfs Texte haben Widerhaken, man reibt sich daran und will lieber nichts wissen, aber leider hat sie recht: Nur in Europa wurden Roma, Sinti, Juden und »Asoziale« mit bürokratischer und industrialisierter Perfektion vernichtet, Europa hat seinen Wohlstand der Sklaverei außerhalb – und innerhalb – Europas zu verdanken. Aber alle finden, es sei jetzt genug und richten sich romantisch ein. Doch wenn Gerechtigkeit unentbehrlich sein soll, müssen die verschleiernden romantischen Widersprüche wie Heimat, Nation und Volksgemeinschaft endlich in Frage gestellt werden:

Rotkopf setzt sich mit un-pop-ulären Gedanken auseinander, mit Patriarchat, Krieg, Macht und Zensur. Sie hinterfragt die Begrenzungen und schreibt Poesie als Revolte. Ihr Antiromantisches Manifest ist ein Aufruf für das Fremdsein als einzig mögliche Lebensweise. Es ist ein spottender Akt des Widerstands, das Große Lachen.

Marie Rotkopf, geboren in Paris, ist Autorin, Künstlerin und Kulturkritikerin. 1990/91 Internatsbesuch in Westdeutschland, Studium der Kunstsoziologie an der Sorbonne, lebt in Hamburg. Sie war Leiterin der Kommunikation des ersten zeitgenössischen Kunstmuseums in der Pariser Banlieue. 2007 Gründung der deutsch-französischen Künstlergruppe Internationale Surplace mit Daniel Megerle. Beiträge in und für diverse Kunstzeitschriften, Ausstellungen und Performances.

MARIE ROTKOPF

ANTI

ROMANTISCHES

MANIFEST

EINE POETISCHE LÖSUNG

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Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus GmbH 2016

Originalveröffentlichung,

mit Ausnahme von Salz der Helden,

zuerst erschienen im Katalog unSICHTBAR,

widerständiges im salzkammergut,

Landesausstellungsbeitrag 2008 in Strobl,

Österreich; sowie

Warum ich ein homosexueller Mann bin,

zuerst erschienen in der Publikation der

BBK, POSITION. Mit Call:

Hat Feminismus in der Kunst politische Folgen?

Hamburg, 2015

Erstausgabe der vorliegenden Ausgabe

März 2017

Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

Porträtfoto Seite 2: Dirk Fellenberg

ePub ISBN 978-3-96054-045-8

Für
Catherine Raganeau
Richard Rotkopf

INHALT

Vor- und Nachwort

Was soll das sein, die Romantik

Romantik entschleiert

Natur und Geheul

Toleranz

Die Sprache meiner Freunde I

Antiromantisches Manifest

Die Sprache meiner Freunde II

Das gelobte Land

Tagebuch Worpsweder Frühling

Psychogeographie

Bunker

Die taube Gewalt des Christentums

Warum ich ein homosexueller Mann bin

Was heißt Underground

Salz der Helden

Das Fabelhafte

Liberté égalité enculé

Keine Versöhnung

Bildnachweise

Dank

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VOR- UND NACHWORT

Zu glauben, dass das Antiromantische Manifest eine Abrechnung sein könnte, mit Deutschland, mit der Männlichkeit – diese Vorstellung selbst bietet mehr als Ironie, und dies nicht im Sinne der ersten Romantiker:

Es ist Zynismus, deutscher Zynismus, in der Weise zynisch, wie die Deutschen vor siebzig Jahren die Kosten der Okkupation Griechenlands die Griechen selbst bezahlen ließen und wie Angela Merkel die Flüchtlingsfrage benutzte (und parallel alle Flughäfen Griechenlands verkaufen ließ), um sich eine Weile als Retterin des christlichen Europas zu krönen, oder wie damals Barack Hussein Obama sich mit dem Kampf für die Rechte der Schwarzen und der Armen in den USA schmücken wollte.

Sollen sie doch in das Paradies eingehen, um sich mit den 11 000 Jungfrauen zu vereinigen, neben der Heiligen Ursula von Köln.

Das Antiromantische Manifest ist ein Plädoyer für das Fremdsein als Freiheit, als einzig mögliche Lebensform.

Was soll das sein, die Romantik, oder romantisch zu sein, zeitgeschichtlich gesehen?

Romantik sieht das Leben wie einen Roman, und so ist auch die Etymologie. Elisabeth Décultot führt weiter aus: Romantik ist dazu da, »um die gefährliche Lust an der Chimäre im Gemüt aufzuwecken«1. Uns beschäftigt die deutschromantische Kulturbewegung in ihrer Spezifität und ihrer Dauer. Eckart Kleßmann resümiert wunderbar diese Besonderheiten, als er sie mit der englischen Romantik (und der Figur von Percy Bysshe Shelley) vergleicht.

»Die deutsche Romantik hatte sich nie mit realpolitischen Gegebenheiten befasst, sie schwärmte von einem am Modell des Mittelalters orientierten utopischen Ständestaat katholischer Prägung und verlor sich in spekulativer Gesinnung; Shelley hingegen ging von den sozialen Tatbeständen seines Landes aus und versuchte politisch aktiv zu werden, was einem deutschen Romantiker nie in den Sinn gekommen wäre. [… Shelley] wurde unterstützt von Journalisten, Publizisten und Studenten, von denen ein Zeitgenosse sagte: »Sie versäumten die Kollegs, achteten die Gesundheit des Körpers gering und träumten nur von der Erneuerung der Gesellschaft und von dem Marsch des Geistes. […] Die deutschen Studenten jener Jahre aber träumten nur von der Wiederherstellung eines einigen deutschen Kaiserreichs, gerade die Erneuerung der Gesellschaft interessierte sie nicht.«2

Romantik besteht aus drei Geschichten, drei Kreisen, die ineinander rotieren. Romantik beginnt mit Friedrich Schlegels Diktum: »Ironie ist klares Bewußtseyn der ewigen Agilität, des unendlich vollen Chaos«. Die Frühromantiker aus den 1790er Jahren wie Friedrich Schlegel, Ludwig Tieck oder Novalis sind beeinflusst von philosophischen Ideen der Aufklärung und des frühen Deutschen Idealismus.

Die Entwicklung der Literatur und der Aussagesysteme lenkt den Blick auf das Dunkel und die Rückseite des rationalen Diskurses; auf Melancholie, Kreatürlichkeit, Wahnsinn, Schrecken, ausgeschmückt mit Geschichtsphilosophie und überhöhten Elementen einer religiös durchdrungenen Natur. Diese sind klar, unter anderen, bei E.T.A. Hoffmann oder Caspar David Friedrich zu erkennen. »Die Aufgabe der romantischen Modernität besteht nicht im Sagen der Dinge, sondern im (sich selbst) Sagen«, sagte Maurice Blanchot.

Durch die romantische Kunst entsteht eine neue Mythologie, der Mythos wird rehabilitiert. Es fing mit Sammlungen von Mythen und Märchen an und ging bis zu kitschigen Umformungen von Volksliedern. Dies ist ausschlaggebend.

Denn diese neue Symbolik, »diese mythischen Restitutionsversuche [waren] zwar intellektuell weniger aufregend, dafür aber erheblich breitenwirksamer […] als all das, was zu Beginn des 19. Jahrhunderts als neue ästhetische Mythologie entworfen wurde«.3

Dieser Aspekt ist nicht harmlos: Romantik hat im Grunde genommen politische Absichten. Die Deutschromantik verstand sich bald als Reaktion auf die Französische Revolution (und vor allem gegen Napoleon!) und als nationale Identitätssuche, und dies im Vergleich zur französischen und englischen Romantik am längsten und extremsten. Vor dem Hintergrund des noch-nicht-vereinten Deutschlands und der Existenz einer besonderen inneren deutschen Mentalität.

Dem Gefühl des Fremdseins – das einsame Subjekt, das keinen Bezug zur »Gesellschaft« findet, und mit den unendlichen Möglichkeiten der persönlichen Selbstentfaltung vollkommen überfordert scheint –, das einem so romantisch vorkommt, kann man durch die Suche nach Heimat entkommen.

Das ist wirklich romantisch.

Auch die Erfindung der romantischen Liebe hat zu einem politisch folgenschweren Bild der Frau beigetragen: die Frau als Gefahr, die die Integrität des Mannes bedroht, bis zum Fall der Zivilisation. Das misogyne Bild der Frauen wurde bei den Dandys später noch radikaler ästhetisiert. Der Tod ist ein Dandy. Alle Dandys des Fin de Siècle, Villiers de l’Isle-Adam, Barbey d’Aurevilly, Baudelaire oder Wilde sehnten sich nach einer aristokratischen Überlegenheit und verbanden sich durch eine furchtbare und hysterische Angst vor den Frauen: »Wenn ich Gott wäre, würde ich tun, was Neptun für eine Nymphe gemacht hat, ich würde die Frau in einen Mann verwandeln«, schrieb schon Kierkegaard am Ende seines Tagebuch des Verführers.

Romantizismus gleich Narzissmus.

Die Spätromantik schließlich entfaltet sich am Übergang zum Biedermeier, mit ihrem Hang zur Innerlichkeit und dem Rückzug ins Private, in der Zeit nach dem Wiener Kongress (1814/1815) unter Metternich bis zur »Revolution« von 1848, als Europa neu geordnet wurde. Dies ging einher mit der Errichtung eines Polizei- und Spitzelstaates mitsamt Pressezensur und der Forderung nach Aufrechterhaltung der konservativen Werte Familie, Kirche, Staat.

Aus dieser Rückzugshaltung und den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen jener Epoche heraus ergibt sich eine romantische Entpolitisierung, die, wie wir wissen, nie unpolitisch ist.

Bei anderen Romantikern herrschte gar eine offene antiliberale, erzreaktionäre Haltung, die zur »Deutschen Tischgesellschaft« führt. 1811 in Berlin von Achim von Arnim und dem Staatstheoretiker Adam Heinrich Müller gegründet, bestand sie bis 1834. Voraussetzung für die Aufnahme war, dass man männlich und getauft war. Die Mitglieder kamen aus dem Umkreis der preußischen Reformer (Adel und Bürgertum), und zu den bekanntesten Mitgliedern zählten Carl von Clausewitz, Johann Gottlieb Fichte, Clemens Brentano …

Unbestrittene, von allen geteilte Grundhaltungen waren Antisemitismus, antifranzösischer Nationalismus und Monarchismus. Zu den berühmten sogenannten Tischreden zählten die »Philisterrede« von Clemens Brentano und Achim von Arnims »Über die Kennzeichen des Judentums«.

In dieser Rede greift er die antijüdischen Vorurteile auf, welche jahrhundertelang von den christlichen Kirchen stark verbreitet wurden, und vermengt diese durch eine radikale biologisch-rassistische Terminologie mit einem modernen Antisemitismus.

Heinrich Heine hatte es längst und zu Recht bemerkt, inwiefern Romantik Protofaschismus ist, aber leider musste er nach Paris flüchten. Ach! Hätten ihm die Deutschen doch nur genauer zugehört, dann wäre die dritte Geschichte der Romantik wohl anders verlaufen.

Mit ihm endet diese Epoche der Romantik. Wäre er noch am Leben, würde er nur halb überrascht feststellen, dass Europa in den 2000er Jahren durch die magische Zauberraute zu Deutschland geworden ist.

Heute, glauben wir, befinden wir uns weit weg von all dem. Der Mythos ist schon verwirklicht, die Philosophie hat im Übrigen mit Heidegger beziehungsweise Bernard-Henri Lévy aufgehört – oder war es mit Theresienstadt?

Heute, bei allen neoliberalen Ökogrünen und der allergefährlichsten AfD, bleibt die Welt romantisch.

Genau das beschäftigt uns: Wie die Deutschromantik die Welt angesteckt hat.

1In L’Europe romantique, revue Critique n° 745-746, Paris, 2009

2In Die Welt der Romantik, Max Hueber Verlag, München, 1977

3Detlef Kremer, Prosa der Romantik, Verlag J. B. Metzler, Stuttgart/Weimar, 1997

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ROMANTIK ENTSCHLEIERT

Zur komplexen und romantischen Vision
unserer Weltanschauung

»Erinnert euch: Was immer auch passiert, die Sonne wird jeden Morgen aufgehen und Amerika wird immer die größte Nation auf Erden bleiben.«

Barack Hussein Obama, Friedensnobelpreisträger und ehemaliger Präsident der USA, am 9/11/2016 nach dem Sieg von Donald Trump

Mit diesem romantischen Satz fangen wir an.

Wir fangen mit der unverzichtbaren Nation an, wir fangen mit dem Wesentlichen an, wir fangen mit dem Ursprung an, wir fangen mit der Gewalt der Macht und der Lüge an.

Mit der Realität.

Wir fangen mit dem weißen Obama an, auch wenn der schwarze Donald Trump gewählt worden ist, und wir werden mit den Europäern weitermachen.

Wir fangen mit dem Mythos an, weil wir alle Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe gelesen haben, obwohl wir immer noch nicht wissen, welches von den beiden Ländern die Welt beherrscht, Deutschland oder die USA?

Gleichzeitig ist uns bekannt, dass ein geeintes Europa von den USA leidenschaftlich gewünscht wurde, um es später schwächen zu können.

Jede Perspektive kann heterogen sein, es gibt nur eine einzige Realität und sie ist aus zwei Elementen zusammengesetzt: Gewalt und Krieg und deren Machtverhältnis.

Romantisierung schließt die Pyramide.

Darüber schwebend, unausweichlich, betrachtet uns Romantik wie das amerikanische dritte Auge Gottes, des protestantischen Christus.

Das dreckige Dreieck, das unseren Sadomasochismus verdeckt.

Die Romantisierung hält uns davon ab, die Heuchelei zu erblicken.

Sie immunisiert uns vor der Realität.

Romantisch sein schützt uns vor der gelben Gefahr und vor den Russen.

ROMANTISCH SEIN SCHÜTZT UNS GEGEN DIE VERSCHWÖRUNG.

Wir sind nicht empört, wir sind fertig mit dem Idealismus.

Wir verweigern die westliche Propaganda.

Wir verdammen die europäische und amerikanische Kommunikation.

Die Verdrehung des Geschichtsverständnisses,

die Obszönität der Diskurse verabscheuen wir.

Unser sehr tiefes Gefühl der Feindschaft ist zuerst einmal die Energie der Luzidität.

Wir wollen aber weder psychoanalysieren, noch eine Kommune coachen, und wir lehnen die buddhistische Gleichgültigkeit ab.

Aus dieser rettenden Asymmetrie in uns, dieser Opposition, werden wir dann an der antiromantischen Zerstörung arbeiten.

Wir = Wolfgang Schäuble:
Wir leben in widersprüchlichen Zeiten.
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Es gibt nur einen Hass.

Er ist Teil der Romantisierung unserer Gesellschaft:

der Hass der Superreichen gegenüber den Menschen, die arbeiten müssen.

Saudi-Arabien als Vorsitzender des UN-Menschenrechtsrats ist Hass.

Die Privatisierung von staatlicher Entwicklungshilfe: Hass.

Hass: Frank-Walter Steinmeier und Heckler und Koch.

Hass mit einer Pointe von Missachtung. Aber immer demokratischer Hass, in zeitgenössischem farbigen Neon. Von einem arabischen jungen Künstler aus der Pariser Banlieue gemacht oder von einer Frau, die lieber das Wort auf Stoff näht.

Sie näht den Satz »Befreit die afghanischen Frauen der Taliban«. Das war 2001, und selbst wenn einige Feministinnen sich gegen die Vereinnahmung der Sache der Frauen aufgelehnt haben, gehen die afghanischen Frauen dem Westen am Arsch vorbei.

Was ist romantisch heute?

Sich von seinen Gefühlen fortschwemmen zu lassen? Romantisch ist, in Wirklichkeit: der ursprünglichen Frage auszuweichen.

Romantisch ist, nicht über die Ursache zu reden.

Die Ausnutzung, die bewusste, öffentliche Manipulation des Volkes – oder des Menschen – im Privaten, für das Endziel: Das ist romantisch.

Romantik hat sich auf der Nostalgie für die Stände, das mittelalterliche Christentum aufgebaut, wo alles seine Ordnung haben muss, seinen Platz hat.

Romantik hat eine Chimäre erschaffen, um die Knechtung der Menschen zu begründen.

Das sind die fünf Säulen unserer romantischen Gesellschaft, die Werte des 19. Jahrhunderts, die wir pflegen, in allen Bereichen unseres Lebens:

Die Erfindung der sozialen Geschlechter und ihrer Unterwerfung, die Verherrlichung der Männlichkeit durch Zusammengehörigkeit (was uns als nützlich verkauft wird, obwohl es Verblödung und soziale Ausgrenzung ist, wie die Fußballindustrie) oder als einzigartiges Genie in der Kunst.

Das Nationalgefühl durch eine Nationalerzählung umformen (das, was die Franzosen im Moment so schön récit national nennen), was immer zu Imperialismus und Kolonialismus führt (nicht mit dem Populismus zu verwechseln, der für die Medien geeignet ist).