Tausend
Kilometer
Süden

Walter Jungwirth, Jahrgang 1962, ist im Erstberuf Übersetzer für Französisch. Er lebt im Breisgau, wo er Ende der neunziger Jahre mit dem Radsport begann. 2003 machte er seine ersten Erfahrungen auf der Langstrecke, seither hat er zahllose Brevets absolviert. Er arbeitet heute in einer Psychiatrischen Klinik. In der Vergangenheit veröffentlichte er Geschichten übers Radfahren auf der Website www.viavelo.de. »Tausend Kilometer Süden« ist sein erstes Buch.

Walter Jungwirth

TAUSEND
KILOMETER
SÜDEN

Eine Erzählung vom Radfahren in den Bergen

Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken.

Karl Marx

Inhalt

Tag 0, Dienstag – Prolog

Tag 1, Mittwoch – Provence

Tag 1, Mittwoch – Ligurien

Tag 2, Donnerstag – Piemont

Tag 3, Freitag – Haute Provence

Wie komme ich eigentlich hierher?

Tag 3, Freitag – Haute Provence

Tag 4, Samstag – Epilog

Danksagung

Tag 0, Dienstag
Prolog

 

Wir werden ja sehen, so reden wir, altgediente Routiniers der Landstraße, und natürlich lassen wir alles auf uns zukommen, was da beim Mille du Sud auf uns zukommen wird, und manche werden uns um unsere Zuversicht beneiden, aber bloß mit der Beschwörung unseres stoischen Gleichmuts wäre ein ganzer Nachmittag im Café nicht erfolgreich zu bestreiten. Zudem verlangt die neue Strecke nach fachkundigen Kommentaren, allein schon die Tatsache, dass von den tausend Kilometern vierhundert durch Italien führen: was für ein interessantes und diskussionswürdiges Novum! Der Randonneur liebt es grundsätzlich, Landschaften zu preisen, die er bereist hat oder bereisen möchte, und nicht selten gibt er dazu passend – oder im Zweifelsfall weit ausholend – gleich wundersame Geschichten zum Besten, die vorwiegend den Gleichgesinnten ein Wiehern oder Kopfschütteln abringen, während andere Zeitgenossen den Kontakt mit solchen Geschichtenerzählern nach Möglichkeit meiden, weil sie ihnen nicht geheuer sind. Aber hier in Carcès, am Vortag des Starts, sind wir unter uns und entfesselt, befeuert vom regionalen Angebot an Kaltgetränken, und die in diesem Zuge einsetzende Legendenbildung ist in vollem Gange. Da ist manches, was man noch nicht gehört hat oder nur zu gerne ein zweites oder drittes Mal hört, und den Randonneur möchte man sehen, der sich nicht davon mitreißen ließe. Auch ich bin da keine Ausnahme.

Zwischen den anderen sitzt auch Rufus mit an dem kleinen, runden Tisch auf seinem knarzenden Korbstuhl. Jedenfalls knarzt er dann, wenn mein alter Weggefährte zu einer seiner Anekdoten ausholt, und davon kennt er eine Menge, und seine Erzählungen reißen ihn auch heute wieder so mit, als steckte er noch mittendrin in einer dieser Affären, die er in die Runde wirft. Seine Beine zucken, als wäre er noch immer am Pedalieren, und seine Arme rudern umher, dass jeder sofort sieht, dass hinter diesen Geschichten eine Leidenschaft steckt, wie sie einigen Radfahrern eigen ist – besonders dann, wenn sie das eine oder andere Abenteuer erfolgreich bestanden haben. Und das hat er, Rufus, das kann ich bezeugen und von Glück sagen, dass ich hie und da mit von der Partie war und er insofern auch unsere gemeinsame Geschichte erzählt, so wie ich es nie erzählen könnte.

Und endlich ranken sich die Wortbeiträge um den Col Agnel, einen der höchsten asphaltierten Übergänge, welche die Alpen zu bieten haben. Dieser Pass soll einzigartig sein und Frankreich von Italien wie eine Messerklinge teilen. Und manches Beeindruckende findet zudem noch Erwähnung, auch wenn ich hinterher nicht mehr genau weiß, was es denn mit ihm darüber hinaus noch auf sich hat, aber er sei ein Muss sozusagen. Allein die Nennung seines Namens vermag in diesem Kreis die Fantasien ungeheuer zu beflügeln, so dass selbst ich, dem besagter Col bloß ein vager Begriff war, am Ende zur Überzeugung komme, dass es insgeheim ein lang gehegter Traum von mir war, diesen legendären Pass mit dem Rad zu überqueren. In meiner Vorstellung wird es eine grandiose Auffahrt werden, wenn wir uns nach sechshundert Kilometern entweder im Abendrot des zweiten Tages oder unter dem zauberhaften Sternenzelt der zweiten Nacht von Osten her zum Pass hochschrauben bis auf 2744 Meter – daran kann es überhaupt keinen Zweifel geben. Und angesichts so viel berauschender Schönheit wirkt es angezeigt, gleich nochmals vom berauschenden Angebot an regionalen Kaltgetränken Gebrauch zu machen, was der Angelegenheit weiteren Schwung verleiht.

Leute unseres Schlages werden von denen, die sich bereits mit dem Phänomen des Radwanderns befasst haben, bisweilen respektvoll, bisweilen aber auch geringschätzig, Randonneure genannt – dem französischen Wort für Wanderer entlehnt. Doch nur die Eingeweihten wissen darum, so dass es fraglich ist, ob etwa der Wirtin, die uns hier nun seit Jahren immer in der ersten Septemberwoche verpflegt, diese Bezeichnung geläufig ist. Aber sie kennt uns und weiß auf jeden Fall, dass es immer ein großes Durcheinander gibt, nachdem die Ersten ihre Räder an die ockerfarbene Hauswand neben dem Café gelehnt haben, oder gegenüber, an die im Abendschatten zum Rosa tendierende Kirche, die mit ihrem ohrenbetäubenden Geläut immer zur Unzeit unsere Gespräche unterbricht.

Nach all den Jahren grüßt uns diese Frau mit einer Herzlichkeit, die ein Wiedererkennen nahelegt, auch wenn ihr das ausgelassene Stimmengewirr schon zu schaffen gemacht hat: diese Kakophonie, die nicht so sehr auf die verschiedenen Sprachen zurückzuführen ist, sondern darauf, dass sich jeder nach seinem Gutdünken in unseren Kreis setzt, indem er einen dieser geflochtenen Stühle von den Nachbartischen heranzieht, und kaum, dass er dem Verlauf der Unterhaltung folgen kann, steht der Nächste wieder auf, weil er noch Dinge zu erledigen hat am Vortag des Starts, was in Verbindung mit den Rufen nach Getränken und Speisen ein ewiges Hin und Her ergibt, ein kaum zu durchschauendes Wirrwarr. Aber die Wirtin, die mit Sicherheit viel Volk gewohnt ist, schert sich nicht drum und vertraut wohl darauf, dass sie auf ihre Kosten kommen wird.

Auch der Engländer, der sich schon vor Jahren dem Mille du Sud verschrieben hat, redet vom Randonneur. Beim Sprechen fällt seine Betonung in eigentümlicher Weise auf die erste Silbe, was dem Wort mit dem breiten »R« einen leicht ironischen Beigeschmack gibt. Aber es mag sein, dass der Engländer, der hier in der Provence schon viel durchlebt hat, gar nicht mehr anders von uns sprechen kann als in diesem ironischen Tonfall, gepaart mit einem rauen und herzhaften Lachen, bei dem er den Kopf nach hinten wirft, was zur Gegenrede herausfordert. Dann legt er den Kopf schief, um den Entgegnungen besser folgen zu können – vielleicht, weil er auf einem Ohr schlechter hört, vielleicht ist es aber auch nur eine Angewohnheit. Er ist ja nicht mehr der Jüngste, und wer weiß, was sich in seinen Jahren schon alles ereignet hat und bei ihm zu dieser seltsamen Haltung geführt hat. Gleichwohl sieht er wie immer kräftig aus, und sein Gesicht ist gerötet, was daran liegen mag, dass er als Nordeuropäer die Sonne nicht verträgt, und in diesem Sommer gab es viel davon, wohl auch in England. Womöglich liegt es aber auch ein wenig daran, dass er es schätzt, sich am Vortag noch etwas Mut anzutrinken, und da geht es ihm nicht anders als den anderen am Tisch. Deren Gesichtsfarbe jedoch geht ins Braun, abgesehen von den Nasen, die stets auch einen Schimmer von Rot in sich tragen, denn sie sind viel im Freien unterwegs und der Sonne stärker ausgesetzt als der Rest des Gesichts – ganz zu schweigen vom Rumpf, der, würde man den Anwesenden die Trikots und T-Shirts vom Leibe ziehen, in seiner erschreckenden Farblosigkeit an Maden erinnert, die jahrein, jahraus in Dunkelheit leben.

Alle, wie sie hier sitzen, haben ihre Wahl getroffen, und nun gibt es keinen Ausweg mehr, und das hat auch sein Gutes, denn so kann man sich mitreißen lassen auf dem Strom des Bevorstehenden – mögen die Abenteuer kommen! Und noch einmal heben wir die Gläser zur Feier dieses denkwürdigen Tages, vielleicht auch zu Ehren der Berge, die uns erwarten; das alles muss gar nicht mehr unterschieden werden. Die Vorboten des Glücks sitzen zwischen uns und alles Verlangen hat im milden Spätsommerlicht schon jetzt eine gewisse Sättigung erfahren. Wenn nun Gesangbücher mit Psalmen zu jedem berüchtigten Alpenpass auf dem Tisch lägen, würde uns nichts hindern, in die Liturgie einzustimmen, und unser Singen würde durch ganz Carcès ertönen, bis hinunter zum Fluss, wo ein paar von uns im Anschluss ein Bad nehmen, ja, vielleicht bis hinauf zur Mehrzweckhalle, wo sich alle einundvierzig Teilnehmer des Mille du Sud am selben Abend zum gemeinsamen Mahl treffen und der kleine, bärtige Papou hinter den großen Kochtöpfen alle Mäuler aufs Vorzüglichste stopft. Und bei alledem weiß ich plötzlich nicht mehr, ob mir überhaupt danach ist, morgen loszufahren, wo es uns hier, unter dem lichten Grün der Platanen des Cafés Le Centre, doch an nichts fehlt. Aber dann ist es wiederum doch so, dass unsere Erzählungen nach neuer Nahrung verlangen, immer und immer wieder, und außerdem ist es ausgemachte Sache, dass man ja sehen will, was auf einen zukommt.