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Frank Hellmich, Eva Blumberg (Hrsg.)

Inklusiver Unterricht in der Grundschule

Verlag W. Kohlhammer

 

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1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-025999-7

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-026000-9

epub:    ISBN 978-3-17-026001-6

mobi:    ISBN 978-3-17-026002-3

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Inhalt

 

 

  1. Vorwort
  2. I Inklusives Lernen aus grundschul- und förderpädagogischer Perspektive
  3. Eckpunkte für die Entwicklung inklusiven Unterrichts
  4. Ursula Carle
  5. Wie inklusiv kann Schule sein – und werden? Anmerkungen zu einer ideologieanfälligen Debatte
  6. Joachim Kahlert und Anne Frey
  7. Formatives Assessment im inklusiven Unterricht – Forschungsstand und erste Befunde
  8. Christin Schmidt und Katrin Liebers
  9. Kooperatives Lernen und soziale Akzeptanz?! – Wie das Konzept des kooperativen Lernens durch die Kontakthypothese geschärft werden könnte
  10. Tanja-Maria Ewald und Christian Huber
  11. Schüler – Risiko und Potenzial für die Verhaltensentwicklung in der inklusiven Schule
  12. Marie-Luise Gehrmann und Christian Huber
  13. Einstellungen von Kindern gegenüber Peers mit sonderpädagogischem Förderbedarf als Bedingungen der sozialen Partizipation im inklusiven Unterricht der Grundschule
  14. Frank Hellmich, Marwin Felix Löper, Gamze Görel und Rebecca Pfahl
  15. II Inklusives Lernen in der Grundschule – Perspektiven für das Unterrichtsfach Deutsch
  16. Sprachliche Bildung und Förderung im Kontext von Inklusion
  17. Timm Albers
  18. Förderdiagnostische Kompetenzen von Grundschullehrkräften und Möglichkeiten der Diagnostik und Förderung im inklusiven Rechtschreibunterricht
  19. Katja Siekmann
  20. Gemeinsames Lernen im Sprachunterricht: Wie können Lernaufgaben sprachlich variiert werden?
  21. Benjamin Uhl und Elvira Topalović
  22. III Inklusives Lernen in der Grundschule – Perspektiven für das Unterrichtsfach Mathematik
  23. Diagnostik und Förderung mathematischer Kompetenzen in inklusiven Schulsettings
  24. Annemarie Fritz, Antje Ehlert und Alexander Müller
  25. Gemeinsames Lernen oder Einzelförderung? – Grenzen und Möglichkeiten eines inklusiven Mathematikunterrichts
  26. Petra Scherer
  27. Produktives Fördern im inklusiven Mathematikunterricht – Möglichkeiten einer mathematisch ausgerichteten Diagnose und individuellen Förderung
  28. Uta Häsel-Weide und Marcus Nührenbörger
  29. IV Inklusives Lernen in der Grundschule – Perspektiven für den Sachunterricht
  30. Sachunterrichtsdidaktik und Inklusion
  31. René Schroeder und Susanne Miller
  32. Zum Umgang mit Heterogenität im naturwissenschaftlichen Sachunterricht: Gegenseitige Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlichen Lernausgangslagen beim tutoriellen Lernen
  33. Katja Adl-Amini und Ilonca Hardy
  34. Inklusives Lernen im naturwissenschaftlichen Sachunterricht. Vom guten Unterricht in heterogenen Lerngruppen
  35. Kim Lange-Schubert und Tobias Tretter
  36. Potenzielle Gelingensbedingungen für inklusives Lernen im naturwissenschaftlich-technischen Sachunterricht der Grundschule – auf dem Weg zu empirischen Evidenzen
  37. Eva Blumberg und Theresa Mester
  38. Inklusion im Sachunterricht – Unterricht planen und durchführen
  39. Astrid Rank und Markus Scholz
  40. Autorinnen und Autoren

 

Vorwort

 

 

Infolge des Beschlusses des Sekretariats der Ständigen Konferenz der Kultusminister in der Bundesrepublik Deutschland (2011) zur »Inklusive[n] Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen« sind Grundschullehrkräfte vor erweiterte besondere Aufgaben und gesteigerte Herausforderungen gestellt: Im Grundschulunterricht gilt es, Lehr-Lernsituationen zu gestalten, die den Bildungsansprüchen aller Kinder gerecht werden und damit Kompetenzerwerbsprozesse sowohl der Kinder mit als auch derjenigen ohne sonderpädagogischem/n Förderbedarf ermöglichen. Hierfür sind – so wird in dem aktuellen Beschluss der Kultusministerkonferenz gefordert – »didaktisch-methodische Vorgehensweisen und Unterrichtskonzepte« bereitzustellen, »um für alle Lernenden Aktivität und Teilnahme in einem barrierefreien Unterricht zu gewährleisten« (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Bundesrepublik Deutschland, 2011, S. 9). Das Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister in der Bundesrepublik Deutschland folgt damit den internationalen Forderungen der von Deutschland im Jahr 2009 ratifizierten UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen:

»Vorrang hat nunmehr die Gestaltung eines inklusiven Bildungssystems auf allen Ebenen, wie es in Artikel 24 der UN-Konvention gefordert wird. Die Konvention fungiert nach der Ratifizierung im Range eines Bundesgesetzes. Insofern ergibt sich eine rechtliche Verpflichtung in der BRD, die Ziele der Konvention politisch umzusetzen« (Heimlich, 2011, S. 44).

Gegenwärtig ist jedoch – blickt man auf diese bildungspolitischen Novellierungen – noch weitgehend ungeklärt, wie und auf welche Weise Formen des gemeinsamen Unterrichts für Kinder mit und ohne sonderpädagogischem/n Förderbedarf in der Grundschule realisiert werden können – und wie im Detail Bildungsansprüchen aller Kinder Rechnung getragen werden kann. An dieser Stelle setzt der vorliegende Herausgeberband an, dessen Ziel es ist, aktuelle Sichtweisen zu Möglichkeiten der Gestaltung von Lehr-Lernumgebungen in der inklusiven Grundschule fachübergreifend und aus den Blickwinkeln der Kernfächer der Grundschule – Deutsch, Mathematik und Sachunterricht – zu präsentieren. Dabei wird der inklusive Unterricht in der Grundschule sowohl aus grundschulpädagogischer, pädagogisch-psychologischer und fachdidaktischer als auch aus förderpädagogischer Perspektive in den Blick genommen.

Der vorliegende Herausgeberband ist in verschiedene Teile untergliedert: Während im ersten Teil inklusiver Grundschulunterricht aus grundschulpädagogischer, pädagogisch-psychologischer und förderpädagogischer Perspektive ›unter die Lupe‹ genommen wird, sind in den darauffolgenden Teilen konkrete Implikationen zur Diagnostik, Förderung und Gestaltung von Lehr-Lernumgebungen im inklusiven Grundschulunterricht aus fachdidaktischem Blickwinkel zu finden. Hierbei stehen die Unterrichtsfächer Deutsch, Mathematik und der (naturwissenschaftliche) Sachunterricht im Vordergrund des Interesses. Die einzelnen Autorinnen und Autoren präsentieren zum einen Möglichkeiten der individuellen Diagnostik und Förderung, zum anderen formulieren sie auf der Grundlage von Befunden aus der empirischen Lehr-Lernforschung didaktisch-methodische Schlussfolgerungen für die Gestaltung von Lernprozessen bei Schülerinnen und Schülern mit sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen.

Im ersten Teil des vorliegenden Herausgeberbandes werden inklusive Lernprozesse von Kindern von grundschul- sowie förderpädagogischem Standpunkt thematisiert. Ursula Carle stellt in ihrem Beitrag Eckpunkte für die Entwicklung des inklusiven Unterrichts in der Grundschule dar. Auf der Grundlage von vier verschiedenen Perspektiven für das ›Gemeinsame Lernen‹ aller Kinder im Grundschulunterricht (»kooperativ gemeinsame Ziele erreichen und geteilte Verantwortung tragen«, eine »gute Ordnung aufbauen und inklusive Möglichkeiten erweitern«, »Kompetenzen im Lehrerinnen- und Lehrerteam systematisch entwickeln«, »das didaktische Konzept verfeinern«) lotet Ursula Carle Desiderate für die Entwicklung des inklusiven Grundschulunterrichts aus und verweist in diesem Zusammenhang auf zukünftige Forschungsperspektiven. Joachim Kahlert und Anne Frey diskutieren in ihrem Aufsatz die Frage, wie inklusiv (Grund-)Schulen zurzeit gestaltet werden können. Dabei richten die Autorin und der Autor den Blick einerseits auf bildungspolitische Forderungen und gegenwärtige Entwicklungen in der Schul- und Unterrichtsforschung sowie andererseits auf Realisierungsmöglichkeiten in der Schul- und Unterrichtspraxis. Als eine Möglichkeit der Gestaltung von inklusiven Lernprozessen in der Grundschule schlagen Joachim Kahlert und Anne Frey inklusionsdidaktische Netze vor, anhand derer Unterricht für alle Kinder in der Schulklasse in einer systematischen Weise an einem gemeinsamen Lerngegenstand geplant werden kann. Christin Schmidt und Katrin Liebers berichten in ihrem Beitrag über Möglichkeiten der Diagnostik im inklusiven Unterricht der Grundschule. Die beiden Autorinnen erörtern dabei formatives im Unterschied zu summativem Assessment. Christin Schmidt und Katrin Liebers stellen in diesem Zusammenhang im zweiten Teil ihres Buchkapitels erste Befunde aus dem Forschungsprojekt ERINA (»Erprobung von Ansätzen inklusiver Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Modellregionen«) vor. Tanja-Maria Ewald und Christian Huber erläutern in ihrem Beitrag, ob und inwiefern die soziale Inklusion von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf durch Formen des kooperativen Lernens in der Grundschule gelingen kann. Die Autorin und der Autor gehen dabei davon aus, dass sich ein enger Kontakt sowie gemeinsames Lernen von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischem/n Förderbedarf auf ihre Einstellungen auswirken und zu einer Abschwächung von Vorurteilen führen. Das Ergebnis der Überlegungen von Tanja-Maria Ewald und Christian Huber sind Kriterien, unter denen kooperatives Lernen im (Grundschul-)Unterricht besonders wirksam im Hinblick auf die soziale Inklusion von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf gelingen kann. Marie-Luise Gehrmann und Christian Huber stellen in ihrem Beitrag Möglichkeiten der Inklusion von Kindern mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf in der sozial-emotionalen Entwicklung dar. Als einen Ausgangspunkt für ihre Überlegungen nehmen Marie-Luise Gehrmann und Christian Huber an, dass angemessene Peer-Peer-Beziehungen wichtige Gelingensbedingungen für einen erfolgreichen inklusiven Unterricht darstellen. Sie beschreiben vor diesem Hintergrund Risiken und Potenziale sozialer Peer-Beziehungen und formulieren Implikationen für den inklusiven Unterricht. Frank Hellmich, Marwin Felix Löper, Gamze Görel und Rebecca Pfahl referieren in ihrem Beitrag über Einstellungen von Kindern gegenüber Peers mit sonderpädagogischem Förderbedarf als Bedingungen der sozialen Partizipation im inklusiven Unterricht der Grundschule. In diesem Zusammenhang berichten die Autorinnen und Autoren über Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt, im Rahmen dessen Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf zu ihren Einstellungen gegenüber Peers mit sonderpädagogischem Förderbedarf und deren Bedingungen befragt worden sind.

Im zweiten Teil des vorliegenden Herausgeberbandes wird die Gestaltung des inklusiven Deutschunterrichts im Rahmen von insgesamt drei Beiträgen in den Blick genommen. Timm Albers erläutert in seinem Beitrag »Sprachliche Bildung und Förderung im Kontext von Inklusion« die Bedeutung sprachlicher Bildung und Förderung im inklusiven Unterricht der Grundschule, indem er Erwachsenen-Kind-Interaktionen für den Erwerb sprachlicher Kompetenzen von Kindern sowie Interaktionen unter Kindern im inklusiven Klassenzimmer beschreibt. Das Ergebnis seines Beitrags stellen diskursive Sprachlehrstrategien von Grundschullehrkräften in Interaktionen mit Schülerinnen und Schülern im Grundschulalter dar. Katja Siekmann beschreibt in ihrem Aufsatz förderdiagnostische Kompetenzen von Grundschullehrkräften und Möglichkeiten der Diagnostik sowie Förderung von Kindern im inklusiven Rechtschreibunterricht der Grundschule. Im Detail geht sie dabei auf die erfolgreiche Entwicklung förderdiagnostischer Kompetenzen von Grundschullehrkräften ein und bespricht den Einsatz diagnostischer Inventare für die Ermittlung von schriftsprachlichen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern sowie Möglichkeiten ihrer Förderung im inklusiven Rechtschreibunterricht der Grundschule. Benjamin Uhl und Elvira Topalović besprechen in ihrem Beitrag Möglichkeiten des gemeinsamen Lernens von Kindern im Sprachunterricht der Grundschule. Im Fokus ihres Beitrags stehen dabei Überlegungen, wie Lernaufgaben im inklusiven Sprachunterricht der Grundschule angemessen sprachlich variiert und den Schülerinnen und Schülern im Grundschulunterricht präsentiert werden können.

Im Vordergrund des dritten Teils des vorliegenden Herausgeberbandes stehen Überlegungen zu der Diagnostik, der Förderung sowie der Gestaltung des inklusiven Mathematikunterrichts in der Grundschule. In dem Beitrag von Annemarie Fritz, Antje Ehlert und Alexander Müller werden Möglichkeiten der diagnostischen Erfassung und Förderung mathematischer Kompetenzen bei Kindern mit sehr verschiedenen Lernausgangslagen geschildert. In diesem Zusammenhang gehen die Autorinnen und der Autor auf Einflussfaktoren des Kompetenzerwerbs im Unterrichtsfach Mathematik ein und berichten vor diesem Hintergrund über adaptive Lernumgebungen für den inklusiven Mathematikunterricht in der Grundschule. Petra Scherer thematisiert in ihrem Beitrag die Frage, ob und inwiefern gemeinsames Lernen von Kindern mit und ohne sonderpädagogischem/n Förderbedarf an einem Unterrichtsgegenstand im Lernbereich Mathematik ermöglicht werden kann und wie Phasen der Einzelförderung im inklusiven Mathematikunterricht der Grundschule gestaltet werden können. Die Autorin veranschaulicht dies an verschiedenen Praxisbeispielen, die für die Gestaltung eines differenzierenden inklusiven Mathematikunterrichts in der Grundschule dienlich sein können. Der Beitrag von Uta Häsel-Weide und Marcus Nührenbörger beschreibt das produktive Fördern von Schülerinnen und Schülern im inklusiven Mathematikunterricht der Grundschule. Die Autorin und der Autor stellen in diesem Zusammenhang Möglichkeiten der Diagnose mathematischer Fähigkeiten und Fertigkeiten dar und präsentieren Ansätze zur Gestaltung individueller Förderphasen im Mathematikunterricht der Grundschule.

Im vierten Teil des Herausgeberbandes werden Überlegungen zu Konzeptionen eines inklusiv ausgerichteten naturwissenschaftlichen Sachunterrichts präsentiert. René Schroeder und Susanne Miller stellen in ihrem Aufsatz »Sachunterrichtsdidaktik und Inklusion« Prinzipien für einen inklusiven Sachunterricht in der Grundschule dar. Die Autorin und der Autor nehmen dabei die bildungstheoretische Didaktik als einen Ausgangspunkt für ihre Überlegungen für eine inklusive Sachunterrichtsdidaktik in der Grundschule und reflektieren über inklusiven Sachunterricht im Spannungsfeld von gemeinsamem und individuellem Lernen. Den Abschluss des Beitrags von René Schroeder und Susanne Miller bilden schließlich Überlegungen in Hinblick auf Möglichkeiten und Chancen eines an den Fragen der Kinder ausgerichteten Sachunterrichts. Katja Adl-Amini und Ilonca Hardy präsentieren Möglichkeiten des Umgangs mit heterogenen Lernausgangslagen von Schülerinnen und Schülern im inklusiv ausgerichteten naturwissenschaftlichen Sachunterricht. Als eine Möglichkeit gegenseitiger Unterstützungsprozesse von Kindern mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen stellen sie dabei das tutorielle Lernen dar. Die beiden Autorinnen berichten in diesem Zusammenhang über eine Evaluationsstudie zu den Möglichkeiten des tutoriellen Lernens im naturwissenschaftlichen Sachunterricht. Kim Lange-Schubert und Tobias Tretter erläutern und diskutieren in ihrem Aufsatz Möglichkeiten der Gestaltung eines ›guten‹ inklusiv ausgerichteten naturwissenschaftlichen Sachunterrichts. Die Autorin und der Autor formulieren vor diesem Hintergrund Prinzipien für einen guten inklusiven, naturwissenschaftlichen Sachunterricht, der Schülerinnen und Schülern mit sehr unterschiedlichen Lernausgangslagen gerecht werden kann.

Eva Blumberg und Theresa Fromme setzen sich in ihrem Beitrag mit der aktuellen Situation eines inklusiven naturwissenschaftlichen Sachunterrichts auseinander. Die Autorinnen referieren über Herausforderungen und Potenziale des inklusiven naturwissenschaftlich-technischen Sachunterrichts und stellen eine empirische Unterrichtsstudie vor, mit der potenzielle Gelingensbedingungen für ein inklusives naturwissenschaftliches Lernen im Sachunterricht der Grundschule ermittelt werden. In einem den vierten Teil abschließenden Beitrag geben Astrid Rank und Markus Scholz Hinweise für die Planung und Durchführung von inklusivem Sachunterricht in der Grundschule. Dabei erörtern sie hierfür wichtige Schritte beim Planen und Durchführen inklusiver Lehr-Lernumgebungen im Sachunterricht. Als Schritte formulieren sie: »Lernvoraussetzungen der Kinder klären«, »die Sache durchdringen und analysieren«, »elementarisieren des zugrunde liegenden Phänomens« sowie »individualisiert und differenziert am gemeinsamen Thema lernen«.

Allen Leserinnen und Lesern wünschen wir viel Freude bei der Lektüre.

Paderborn, im Januar 2017

Frank Hellmich & Eva Blumberg

Literatur

Heimlich, U. (2011). Inklusion und Sonderpädagogik. Die Bedeutung der Behindertenrechtskonvention (BRK) für die Modernisierung sonderpädagogischer Förderung. Zeitschrift für Heilpädagogik, 2, 44–54.

Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Bundesrepublik Deutschland (2011). Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 26.10.2011. Verfügbar unter http://www.kmk.org/ (Datum des Zugriffs: 24.01.2016).

 

 

 

I           Inklusives Lernen aus grundschul- und förderpädagogischer Perspektive

 

Eckpunkte für die Entwicklung inklusiven Unterrichts

Ursula Carle

 

 

Inklusiver Unterricht braucht die ganze Schule als unterstützenden Kontext, da er stark auf demokratische Werte und gelingende Beziehungen angewiesen ist. Es handelt sich also um weitaus mehr als nur um eine unterrichtsmethodische Umstellung. Inklusion – verstanden als Menschenrecht – erfordert einen grundsätzlich anderen Umgang miteinander und damit auch mit den Lerninhalten, -zielen und -bewertungen als es bisher durch das stark auf Selektion ausgerichtete Schulsystem üblich ist und gekonnt wird. Die Entwicklung inklusiven Unterrichts kämpft daher in besonderem Maße gegen Einschränkungen durch tradierte rechtliche, zeitliche, räumliche und curriculare Strukturen, die sich auch in den persönlichen professionellen Routinen der Lehrkräfte manifestiert haben. Durch die Tiefe der nötigen Veränderungen ist die Entwicklung inklusiven Unterrichts im engeren Sinne zudem als langwieriger Lernprozess heterogener Kollegien und ihrer Schülerinnen und Schüler zu verstehen.

Der folgende Beitrag analysiert die Engpässe und besonderen Herausforderungen der derzeitigen Ausgangslage für die Entwicklung inklusiven Unterrichts, skizziert vor dem Hintergrund der heutigen Annahmen über Unterrichtsqualität ein Zielmodell guten inklusiven Unterrichts und zentrale Schritte in diese Richtung, verweist aber auch darauf, dass die Qualität inklusiven Unterrichts ein Entwicklungsprozess auf allen Systemebenen ist. Schulen sind unterschiedlich weit vorangekommen, Grundschullehrerinnen und -lehrer bringen unterschiedliche Voraussetzungen ein. Etliche unterrichten fachfremd. Sonderschullehrerinnen und -lehrer, die in der Grundschule eingesetzt werden, haben eher selten einen geschärften Blick für die fachliche Seite des Unterrichts. Auch die skizzierten Eckpunkte der Entwicklung, verstanden als wissenschaftlich derzeit weitgehend konsensfähige Orientierungen auf dem Entwicklungsweg, müssen in der Praxis vor dem Hintergrund der Situation an jeder Schule erst noch Gestalt gewinnen.

1          Ausgangslage und Problemstellung

 

Die Entwicklung inklusiven Unterrichts fordert von den Lehrerinnen und Lehrern die ethische Entscheidung für das gleiche Recht aller Kinder auf Teilhabe in allen Lebensbereichen und Bezügen, also auch im Unterricht (z. B. Edwards & Nuttall, 2009; Prengel, 2013). Dabei gilt es den »Mythos des Vorteils homogener Lerngruppen« (Reiser, 2002, S. 408) ebenso zu überwinden wie in der Folge die »Kopplung von Leistungsergebnis und sozialer Gruppierung« (ebd., S. 406). Die Schule soll nicht mehr alle Kinder nur an gleichen fachlichen Maßstäben messen, sondern im Sinne einer »egalitären Differenz« für jedes Kind in der Lerngemeinschaft seiner Kindergruppe fachliche Bezüge zum gemeinsamen Lerngegenstand ermöglichen und die Leistungen jedes Kindes wertschätzen. Das bedeutet zugleich, dass der Unterricht unterschiedliche Perspektiven fördern und ihren Austausch unterstützen soll (vgl. Prengel, 2001, S. 93 ff.).

Solche normativen Setzungen, wie sie international in der Fachliteratur zur Entwicklung des inklusiven Schulsystems zu finden sind, ernten kaum Widerrede, gehören sie doch mindestens seit den 1990er Jahren zum grundschulpädagogischen Basisrepertoire (vgl. Faust-Siehl, Schmitt & Valtin, 1990; Heyer et al., 1993; Schnell, 2003). Probleme treten erst dann auf, wenn die vorweggenommenen oder realen unterrichtlichen Anforderungen mit dem erlernten Repertoire und vor dem Hintergrund der persönlichen Einstellungen nicht mehr zu bewältigen sind (vgl. Kornmann, 1998). Dennoch kann die schlagartige Einführung von Inklusion auf der Ebene der Einzelschule, also ohne umfangreiche Vorbereitung, zu einem Gestaltwandel führen, weil etwa die Notwendigkeit der Differenzierung nicht mehr übersehen werden kann und deutlich wird, dass der gesamte Unterricht umgestellt werden muss (Carle & Berthold, 2004, S. 177). Gleichermaßen ist auf gesellschaftlicher Ebene die politische Grundsatzentscheidung für eine Auflösung der Sonderschulen und die Aufnahme aller Kinder in das Regelschulsystem ein einfacher Schritt. Durch die wenig transparente, über Jahrzehnte gewachsene und tradierte zeitliche, räumliche und rechtliche Struktur jedoch kommen nicht gleich zu Beginn alle obsolet werdenden Rahmenbedingungen in den Blick; weder auf Klassen- und Schulebene noch im Schulsystem. Sie setzen also während des selbst- oder fremdverordneten Veränderungsprozesses einen Rahmen, der zur Entwicklung des inklusiven Unterrichts nicht passt, ja diese entscheidend hemmen kann. Im Übergang vom Tradierten zum Neuen führt das zu parallelen Verhältnissen, im schlimmsten Fall dazu, dass die selektiven Prozeduren über den einsetzenden Veränderungsprozess hinweg staatlich verordnet tradiert werden und folglich in neuen Verkleidungen im inklusiv gedachten Unterricht wieder auftauchen (Geiling, 2012, S. 117 ff.).

Wird der Transformationsprozess systematisch angegangen, schafft das zunächst schrittweise Transparenz im Dickicht der noch nicht bekannten Anforderungen. Ist doch der Übergang vom alten Unterrichtsmodell zum neuen geprägt von Ungewissheit und von der Erfahrung des Nichtkönnens, wie sich beispielweise im Schulversuch Veränderte Schuleingangsphase immer wieder zeigte:

»Ohne Auseinandersetzung mit dem alten System ist das neue nicht zu erwerben. Denn ohne Distanzierung vom Tradierten schluckt das alte System die neuen Elemente und neutralisiert sie. Hinzu kam immer wieder die schmerzliche Erfahrung, das Alte problematisieren und das Neue denken zu können, es aber praktisch noch nicht zu beherrschen« (Carle & Berthold, 2004, S. 177).

Der Wandel stellt also insbesondere die kollektive Selbstwirksamkeitserwartung auf die Probe, das Vertrauen in die gemeinsame Kompetenz des Kollegiums, das anspruchsvolle Ziel des inklusiven Unterrichts gemeinsam zu erreichen (Parker, 1994).

Mangelnde Systemhaftigkeit eines landesweiten Schulentwicklungsvorhabens hat jedoch zusätzlich zur Folge, dass die Entwicklung inklusiven Unterrichts sehr stark einzelschulbezogen erfolgen muss und die Entwicklungsarbeit wenig unterstützt einzig auf den Schultern der Lehrerinnen und Lehrer liegt.

»Dies verlangt eine hohe Ambiguitätstoleranz, eine gefestigte Überzeugung von der eigenen Arbeit sowie den Mut, teilweise gegen die Logik des Systems zu agieren. Dafür ist ein hohes Maß an Kreativität im Umgang mit den administrativen Rahmenbedingungen und den institutionellen Routinen vonnöten« (Hoffmann, 2014, S. 130).

Für die Lehrerinnen und Lehrer stellt sich eine Herkulesaufgabe. Diese erfordert es, aktuell noch geltende (teils rechtlich verankerte) Grenzen zu überwinden. Handelt es sich doch bei der Entwicklung inklusiven Unterrichts nicht nur um die Einführung einer neuen Makromethode, sondern um die Erneuerung des kompletten Unterrichts in einem erst noch zu reformierenden Schulsystem, eines Unterrichts, den es an der eigenen Schule noch nicht gibt und der folglich nur in Modellvorstellungen existiert.

2          Das Zielmodell: Inklusiver Unterricht in einer Schule für alle Kinder

 

Inklusiver Unterricht soll guter Unterricht für alle Kinder sein. Eine Schlüsselfunktion innerhalb der mit überschneidungsreichen Variationen bekannten Stellschrauben zur Gestaltung guten Unterrichts nehmen das Klassenklima, die Klassenführung, die Zielsetzungen, die Motivierung und Aktivierung von vertieften Lernprozessen, die Individualisierung und Beachtung von Lernvoraussetzungen, die Klarheit und Strukturiertheit, die Konsolidierung und Vernetzung des Gelernten, die fachliche Korrektheit und die Leistungsanforderung ein (vgl. Carle & Metzen, 2008, S. 105 ff.; Helmke, Helmke & Schrader, 2007, S. 56 f.; Riecke-Baulecke, 2001, S. 141; Carle, 2000, S. 306). Die genannten Merkmale können verschiedene Ausprägungen haben und sind in unterschiedlichen Unterrichtskonzepten zu finden. Qualitätskritisch für inklusiven Unterricht sind darüber hinaus ein zu etablierender Rahmen demokratischer Ziele, partizipativer Strukturen und Handlungsweisen, die soziale Gerechtigkeit und gegenseitige Anerkennung ermöglichen, wie Hinz sie in seinen Eckpunkten des Verständnisses von Inklusion formuliert hat (Hinz, 2014, S. 17 f.). Alle diese Wirkmomente sind vernetzt zu betrachten, kann doch z. B. ohne lernförderliches Klassenklima die beste Lernaufgabe nur begrenzt fruchten.

Der demokratische Rahmen ist nicht nur konstituierend für ein soziales und vertrauensvolles Klassenklima, beides zusammen stellt so etwas wie eine Basisnorm für den Erfolg der übrigen Einflussfaktoren auf die Unterrichtsqualität dar. Deshalb muss Klassenführung darauf ausgerichtet sein, den Kindern in immer wieder neuen Situationen zu zeigen, wie sie eine Lerngemeinschaft werden können. Dazu gehört, dass jedes Kind als einzigartiges Individuum von den anderen Kindern und vor allem vorbildhaft von der Lehrperson würdig und respektvoll behandelt wird. Gleichzeitig muss demokratisches Handeln in der Klasse angeleitet und strukturell unterstützt werden. Dazu gehört, dass die Kinder lernen, ihre Bedürfnisse, ihre Sichtweisen und kritische Punkte einzubringen und in der Gruppe unter der Leitlinie einer »egalitären Differenz« (Honneth, 1992) zu verhandeln. Wenn es sich hierbei um eine Basisnorm für guten Unterricht handeln soll, muss auch gezeigt werden, wie sich der demokratische Rahmen und das soziale Klassenklima auf eine effiziente Steuerung des fachlichen Unterrichts auswirken. Diese Steuerung funktioniert nicht mechanisch, sondern menschlich und braucht zu ihrem Wirksamwerden Regeln, Raum, Zeit und geeignete Aufgaben, zu denen jedes Kind Sinnbezüge herstellen kann. Effizient ist die Steuerung des Unterrichts immer nur in Bezug auf bestimmte Ziele. Wenn es das Ziel ist, vertiefte Verstehensprozesse zu befördern, muss die Klassenführung den Austausch von Denkweisen, Lösungswegen, Arbeits- und Lernmethoden etc. ermöglichen und damit mehrdimensional alle Aspekte der Entwicklung der Kinder im Blick haben: fachliche, arbeitsmethodische, soziale und emotionale. Ohne geeignete Unterrichts- und Feedbackstrukturen kann niemand dieser komplexen Anforderung entsprechen. Kooperative, projektorientierte und reflexive Methoden und darauf bezogene Lernprozessbegleitung und Leistungsrückmeldung gewinnen an Bedeutung, sind aber auf kooperative und wertschätzende Beziehungen in der Klasse angewiesen. Entsprechend wird sich ein gutes Klassenklima durch einen guten Zusammenhalt, wenig Konkurrenz untereinander und hohes Engagement von Lehrperson sowie Schülerinnen und Schülern auszeichnen.

Annedore Prengel sieht inklusive Didaktik zusätzlich in Verbindung mit individualisiertem Lernen und inklusiver Diagnostik (Prengel, 2013, S. 6 f.). Individualisierung bedeutet für sie, dass im Gesamtkontext der Schulklasse anschlussfähige Aufgaben auf unterschiedlichen Niveaus für die Kinder mit verschiedenen Lernvoraussetzungen zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus können therapeutische Maßnahmen, z. B. im Bereich der Sprachförderung, in den Unterricht integriert werden, wenn alle Kinder davon profitieren können. Dafür sind einerseits lernbegleitende Einschätzungen durch die Lehrperson und durch die Schülerinnen und Schüler selbst erforderlich. So kann z. B. das Portfolio Anlass für ein Gespräch zwischen den Kindern und auch zwischen Kind und Lehrperson sein. Inklusive Diagnostik schließt nach Prengel (2013) auch nichtaussondernde spezielle Diagnostik mit ein, wenn es um die Analyse spezieller Bedürfnisse geht, z. B. weil besondere Vorkehrungen getroffen werden müssen oder ein Nachteilsausgleich sichergestellt werden soll. Die spezielle Diagnostik zusammen mit der lernbegleitenden Einschätzung aller Kinder bildet dann die Grundlage für die Unterrichtsplanung, die sowohl die ganze Klasse als Lerngemeinschaft als auch das einzelne Kind einbeziehen muss.

Das OECD/CERI-Programm »Schooling for Tomorrow« (OECD, 2006) hat den Begriff der Personalisierung ins Spiel gebracht, nach dem nicht nur die Niveaudifferenzierung für individualisiertes Arbeiten eine Rolle spielt, sondern die Person stärker ins Blickfeld rückt und über die inhaltliche Arbeit auch der Erwerb personenbezogener Kompetenzen mehr Gewicht erhält. Damit soll den Schülerinnen und Schülern Raum für eine individuell angemessene Lernrhythmisierung, eigene Lernwege, Lernstrategien und Arbeitstechniken eingeräumt werden. Gleichzeitig verspricht man sich durch die Ansprache persönlicher Interessen eine aktivere und mehr in die Tiefe gehende Auseinandersetzung der Kinder mit den Lerninhalten.

Curricular verankerte Kompetenzziele bleiben auch im inklusiven Unterricht bestehen und sollen individuell bestmöglich erreicht werden. Das setzt voraus, dass die Lehrperson eine Brücke zwischen dem aktuellen Können und dem immer fachlicher werdenden künftig erwarteten Können zu denken vermag. Das ist gerade deshalb wichtig, weil man aus der Differenz nicht sicher auf einen persönlichen Lernweg zwischen diesen beiden Punkten schließen kann. Annedore Prengel bringt die »Zone der nächsten Entwicklung« ins Spiel (Prengel, 2013, S. 6). Man könnte das von Wygotski (1987, S. 81, 83) damit Gemeinte so wiedergeben: Die Zone der nächsten Entwicklung ist das, was das Kind schon mit Hilfe kann. Daran kann die Lehrperson also ein Stück der künftigen Lernmöglichkeiten erkennen. Allerdings sprechen Forschungen zu Conceptual Change dagegen, hier für alle fachlichen Lernbereiche aufeinander aufbauende Stufen der Entwicklung zu unterstellen. Kinder lernen nicht nur in Stufen, sondern erweitern ihr Wissen auch beiläufig in ungeplante Richtungen und vernetzen es mit neuen Erfahrungen (vgl. Shanks, 2005; Röhr-Sendlmeier, 2012). Es gilt also auch die Kinder dabei zu unterstützen, beiläufig erworbenes Wissen mit intentional erworbenem zu vernetzen und für neue Problemlösungen zu aktivieren. Lernen unterstützende aber engführende Strukturen begünstigen nicht das vernetzte Lernen und die vertiefte persönliche Auseinandersetzung mit einer Frage. Unstrittig bleibt in der Forschung, dass hohe aber erfüllbare Leistungserwartungen lernförderlich sind. Mit einem erweiterten Lernbegriff, der auf tiefgreifende sinnorientierte Lernprozesse setzt, sind auch die Leistungserwartungen darauf abzustimmen. Eine hohe Leistung ist dann nicht das zügige Abarbeiten vorgegebener Anweisungen, sondern die qualitativ anspruchsvolle Auseinandersetzung mit einer dafür geeigneten Aufgabe. Kompetenzorientierte Lernprozessbegleitung muss darauf eingestellt sein (zur praktischen Umsetzung vgl. Bonanati & Richter-Göckeritz, 2011).

Zusammenfassend ist Zweierlei für inklusiven Unterricht konstituierend und gilt es miteinander zu verbinden:

1.  die Lerngemeinschaft, in der jedes Kind in seiner Individualität wertgeschätzt wird und einen Platz findet, in der es sich durch Auseinandersetzung mit den Positionen der anderen und durch gemeinsames Handeln entwickeln kann sowie

2.  die Lerninhalte und -aufgaben, die für jedes Kind mehrdimensional persönliche Anknüpfungspunkte, bewältigbare Herausforderungen, eine gute Basis für die Aneignung des Weltwissens und die Einübung in die Grundlagen dafür bieten.

Inklusiver Unterricht kann – folgt man diesem Zielmodell – nur eingebettet in einen intensiven Schulentwicklungsprozess entstehen und nachhaltig etabliert werden. Je nach Ausgangslage an der jeweiligen Schule ändert sich gegenüber dem tradierten Unterrichtsgeschehen fast alles oder nur einiges. Überprüft werden müssen die grundlegenden schulischen Strukturen und Regeln, das soziale Lernklima, die curriculare Konzeption und die methodische Umsetzung. Inklusives Unterrichten von Grund auf zu entwickeln, schließt den schwierigen Wandel der eigenen pädagogischen Überzeugungen genauso ein wie die Neugestaltung des Unterrichts und die Kooperation in multiprofessionellen Teams. Und nicht zuletzt muss wie bei jeder Neuerung das Neue getan werden, ehe die Bedingungen dafür schon entwickelt werden konnten.

3             Vom Zielmodell zur Umsetzung: Eckpunkte

 

Die beiden großen Ziele einer inklusiven Unterrichtsentwicklung klingen simpel. Weil außerdem viele Wege dorthin führen, gibt es kein allgemeingültiges Entwicklungskonzept. Es lassen sich aber einige erfolgversprechende Regeln und darüber hinaus fachliche Bausteine benennen, die für eine erfolgreiche inklusive Unterrichtsentwicklung unverzichtbar sind. Darüber hinaus gelten die bekannten Grundsätze der Schulentwicklung (vgl. Carle, 2000). Insbesondere ist es die Aufgabe der Schulleitung, den Entwicklungsprozess abzusichern, die Entwicklung transparent zu halten und eine vernetzte Teamstruktur für die klassenübergreifende Unterrichtsentwicklung aufzubauen (Klenk, 2011). Unterstellt, dass bereits eine gute Basis im Sinne der Merkmale guten Unterrichts für die Herausforderung Inklusion vorhanden ist, ermöglichen vier Regeln eine erweiterte Entwicklungstiefe und Nachhaltigkeit:

•  kooperativ gemeinsame Ziele erreichen und geteilte Verantwortung tragen,

•  gute Ordnung aufbauen und inklusive Möglichkeiten erweitern,

•  Kompetenzen im Lehrerinnen- und Lehrerteam systematisch entwickeln und

•  das didaktische Konzept verfeinern.

Auf der fachlichen Ebene muss insbesondere das allgemeindidaktische und das fachdidaktische Konzept für inklusiven Unterricht verfeinert werden. Einige Fallstricke sind zu umgehen, wenn man sich frühzeitig darauf einstellt. So sollte insbesondere das Verhältnis zwischen Aufwand und Effekt bei der Entwicklung von Methoden und Materialien regelmäßig überprüft werden. Bedeutsam ist vor allem das Gesamtkonzept, in dem Lern- und Leistungsdokumentation, Feedbackstrukturen und Unterrichtsplanung für die Klasse und für die einzelnen Kinder ineinandergreifen.

3.1        Kooperativ gemeinsame Ziele erreichen und geteilte Verantwortung tragen

Etliche neue Veröffentlichungen zur inklusiven Didaktik geben Hinweise für eine notwendige schulinterne Diskussion der Merkmale inklusiven Unterrichts und ihre Übersetzung in Schulentwicklungsziele (Wilhelm, Eggertsdóttir & Marinósson, 2006; de Boer, 2011; Stähling & Wenders, 2012; Benkmann, Chilla & Stapf, 2012; Moser, 2012; Werning & Arndt, 2013; mittendrin e. V. & Thoms, 2013; Franz, Trumpa & Esslinger-Hinz, 2014; Reich, 2014; Schnell, 2015). In diese unverzichtbare Zieldiskussion müssen alle an der Schule pädagogisch Tätigen eingebunden werden, insbesondere diejenigen, die bisher nicht zum Kollegium gehörten. So lag bisher die Spezialkompetenz für sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich der Entwicklung von Lernen, von Sprache, Hören und Sehen sowie der geistigen, emotional-sozialen und körperlich-motorischen Entwicklung offiziell bei den Sonderpädagoginnen und -pädagogen. Dass deren Kompetenz an die Inklusive Schule verlagert werden und sich dabei entsprechend dem Ziel der Inklusion weiterentwickeln muss, ist unstrittig. Ob es gelingt, mit den aufkommenden Widersprüchen bei der Entwicklung inklusiven Unterrichts in einem noch nicht inklusiven Schulsystem dann gemeinsam zurechtzukommen, hat nicht nur mit persönlichen Überzeugungen und Können zu tun, sondern auch damit, ob dieser Entwicklungsprozess von vielen – am besten allen – Akteurinnen und Akteuren der Schule getragen und systematisch gestaltet wird. Sollen doch die bisher getrennt eingesetzten Kompetenzen künftig als gemeinsame, in die den Unterricht fundierende förderungsorientierte Diagnostik, eine Unterrichtsplanung, die die Lerngemeinschaft stärkt, kooperatives Lernen berücksichtigt und genügend Raum für nicht separierendes individuelles Lernen lässt, investiert werden. Gleichzeitig wird die Verantwortung dafür auf mehrere Schultern verteilt und entlastet die Einzelnen. Doch gerade die Kooperation im Unterricht wirft besondere Probleme auf (vgl. Trumpa, 2015).

Die geforderte gemeinsame Verantwortung reicht bis in den Unterricht hinein und setzt deshalb eine Orientierungslinie voraus, die alle kennen und respektieren und auf die man sich auch in Zeiten der Überlastung immer wieder einjustieren kann. Teamarbeit fällt einem Kollegium jedoch nicht in den Schoß. D. h. es müssen ein Arbeitszusammenhang mit definierten Rollen und Aufgaben sowie für die Kooperation Zeiten, Räume und Regeln etabliert werden (Lütje-Klose & Urban, 2014). Mit arbeitsteiliger Materialerstellung und Materialaustausch ist es bei der Planung und Gestaltung inklusiven Unterrichts nicht getan. Im Team gilt es vielmehr neue Konzepte zu entwickeln, Hürden zu überwinden, Herausforderungen zu diskutieren und Spezialwissen zu vernetzen. So gibt es noch wenige Vorbilder, wie Kinder auf sehr unterschiedlichem Entwicklungsstand, mit sehr unterschiedlicher kultureller Erfahrung oder mit sehr unterschiedlichem Vorwissen gemeinsam unterrichtet werden können, ohne dass Einzelgrüppchen unzusammenhängend lernen oder Arbeitsblätter in Lerntheken bzw. abzuarbeitende Arbeitshefte die Kinder in wenig reflektierende Einzelarbeit drängen (Carle & Berthold, 2004, S. 47; Carle & Metzen, 2008, S. 113; Serke et al., 2015). Für die Kinder ist es eine Herausforderung, stärker selbstgesteuert zu arbeiten (vgl. z. B. Dorow & Breidenstein, 2010).

Das weit verbreitete, aber in der einschlägigen Literatur noch wenig ausdifferenzierte Bild inklusiven Unterrichts basiert auf der Annahme, dass Heterogenität der Kindergruppe und kooperatives Lernen sehr gute Voraussetzungen für anspruchsvolle Lernprozesse seien (vgl. Barron & Darling-Hammond, 2009, S. 10). Bezugspunkte sind dabei nicht allgemeine Schulleistungsuntersuchungen, sondern vor allem Veröffentlichungen zu kooperativem Lernen und als Basis dafür Untersuchungen zu sozialen Beziehungen in der Schulklasse (Petillon, 1993) und zur Kooperation von Schülerinnen und Schülern (Krappmann & Oswald, 1995). Kooperativ Ziele erreichen und geteilte Verantwortung tragen, muss also nicht nur von den Erwachsenen gelernt werden, sondern auch von den Kindern. Es soll angestrebt werden, dass in jeder Klasse ein großes Spektrum unterschiedlicher Erfahrung durch die Kinder aktiv eingebracht werden kann, wobei die Leistungsspitze nicht fehlen darf. Ziel ist es, die entstehenden sehr heterogen zusammengesetzten Kindergruppen so zu unterrichten, dass die Heterogenität zur Ressource für lebendige und gehaltvolle Lernprozesse aller Kinder wird. Kooperatives Lernen spielt dabei eine wichtige Rolle und ist hinsichtlich der mikrodidaktischen Merkmale gut ausgearbeitet (Carle & Metzen, 2014, S. 27 ff.; Johnson, Johnson & Johnson Holubec, 2005). Zentral sind Aufgaben, die nur kooperativ bearbeitet werden können und, dass sowohl Gruppenleistungen als auch individuelle Leistungen bei der Bearbeitung dieser Aufgaben (orientiert an der individuellen Bezugsnorm) wertgeschätzt werden.

Inklusives Unterrichten braucht den Zusammenhalt der Kinder, um allen Kindern gleichermaßen ohne Selektion nach Herkunft, Lernvoraussetzungen oder z. B. Behinderungen individuelles und kooperatives Lernen in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Unnötige Konkurrenz soll vermieden, Gemeinschaftsdenken, gemeinsame Regeln, Ziele, Vorhaben und ein hoher Grad an Mitbestimmung ausgebaut werden. Dem würde erwartete Schulleistung als Kriterium für eine soziale Eingruppierung der Schülerinnen und Schüler Steine in den Weg legen. Deshalb soll im Unterricht eine Gruppenbildung nicht regelhaft schulleistungsorientiert erfolgen, sondern vornehmlich leistungsheterogen, z. B. interessenorientiert und mit unterschiedlichen Rollen. Ob sich dafür einzelne Methoden wie Projektarbeit besonders eignen, hängt von vielen Faktoren in der jeweiligen Klasse ab. Lehrerinnen und Lehrer müssen bei der Entwicklung inklusiven Unterrichts sehr genau beobachten, was in der Klasse gemeinschaftsbildend wirkt.

Etliche Untersuchungen zeigen auch, dass Peer Tutoring im gemeinsamen jahrgangsübergreifenden Unterricht mit Schülerinnen und Schülern mit sozial-emotionalen Schwierigkeiten positive Wirkungen hat (Soodak & McCarthy, 2006). Auch für den Schriftspracherwerb liegen positive Befunde vor (Bolich, 2001). Abhängig ist das Ergebnis von einer guten Einweisung und Ausbildung der Tutorinnen und Tutoren für ihre speziellen Aufgaben (Kleinlosen, 2008; Miller, 1999; Moser-Kollenda, 2006).

Temporäre Gruppenbildung oder Einzelförderung muss so organisiert werden, dass der Klassenzusammenhalt nicht leidet. Sie muss also von den Kindern als sinnvoll für den gemeinsamen Arbeitsprozess und ein angestrebtes gemeinsames Lernergebnis erkennbar sein. Im besten Fall ist sie Bestandteil des Konzepts und gilt für alle Kinder. An Schulen wird das z. B. über in die Rhythmisierung eingebaute Förderbänder organisiert, wodurch für jedes Kind, und nicht nur für Kinder mit besonderen Merkmalen, temporäre Gruppenzugehörigkeit und Einzelförderung zum vorgesehenen Regelfall werden. An diesem Beispiel wird sichtbar, dass der Unterrichtstag speziell konzipiert werden muss, damit eine Inklusion fördernde unterrichtliche Mikrostruktur möglich wird.

Wie wichtig Integration der Klassengemeinschaft (Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer) und die Qualität der pädagogischen Beziehungen für die Sicherung der inklusiven Unterrichtsqualität sind, zeigen Analysen vorhandener Untersuchungen zur Wirkung inklusiven Unterrichts. Sie verweisen insbesondere auf das Problem, dass Kinder mit ungewöhnlichen Merkmalen wie sonderpädagogischem Förderbedarf in der Klasse einen niedrigeren Sozialstatus aufweisen (vgl. zusammenfassend Liebers & Seifert, 2014, S. 40). Ohne ein in der Klasse etabliertes und immer wieder transparent gemachtes kooperationsorientiertes Wertegefüge sowie ohne Ineinandergreifen geeigneter Makro- und Mikrostrukturen des Unterrichts lässt sich dieses Problem nicht lösen. Letztlich muss jede Schule und jedes Klassenteam diese Strukturen für sich und die Kinder passend entwickeln. Vorbilder geben Anschauung, mehr nicht.

3.2        Eine Gute Ordnung aufbauen und inklusive Möglichkeiten erweitern

Ins Zentrum des oben beschriebenen Zielmodells rückte die Bedeutung der Lerngemeinschaft für die Wertschätzung und Anerkennung der individuellen Persönlichkeiten. Dieser Zusammenhang ist eine ethische Festlegung, die in Regeln und Strukturen des unterrichtlichen Miteinanders übersetzt und durch das Lerngeschehen gefüllt wird. Die Regeln und Strukturen nennt Annedore Prengel »Gute Ordnung« (Prengel, 1999). Gute Ordnung ist nicht starr, sondern lebendig. Sie nimmt die Ordnungen der Kinder auf und setzt sie in Beziehung zur Ordnung der Schule. Oft wissen Kinder besser, wie Konflikte, die durch fehlende Ordnung entstehen, behoben werden können. Kinder sind also in die Gestaltung der schulischen Ordnung einzubeziehen. Offenheit für die Vorstellungen der Kinder ist dabei eine Grundregel. Eine zweite Grundregel nimmt Kinder in Schutz, die andere als die sozial erwünschten Positionen einbringen. So darf kein Kind wegen seiner Äußerungen entwertet oder gedemütigt werden. Ordnungen können also neue Möglichkeiten eröffnen und vor Bedrohungen schützen, indem sie Grenzen abstecken.

Annedore Prengel (1999, S. 132 ff.) verwendet den Begriff der »Arbeitsbündnisse«, um deutlich zu machen, dass gute Ordnungen Vereinbarungen sind, Bündnisse, die der gemeinsamen Arbeit einen beweglichen Rahmen und eine orientierende demokratische Struktur geben. Ordnungen weisen also auch Wege. Für die Entwicklung inklusiven Unterrichts sind sie in allen Bereichen wichtig: Curricular z. B. stellen Ordnungen wie Lernlandkarten, Kompetenzraster oder Ähnliches eine Beziehung her zwischen dem staatlichen Rahmenplan und dem individuellen Lernen. Regelstandards beispielsweise würden diese Beziehung einseitig zugunsten der staatlichen Vorgaben gewichten und etliche Kinder vom Erfolg abschneiden. Es muss also etwas Neues entwickelt werden, das nicht die staatlicherseits gewünschten Ergebnisse zum Maßstab erhebt, sondern den Prozess des Kindes dazu in Bezug setzt, wie es sich mithilfe schulischer Anforderungen und seinen Vorerfahrungen und Denkweisen diesem gewünschten Ergebnis annähert. Arbeitsbündnisse stellen auch eine Beziehung zwischen dem aktuellen Verhalten des Kindes und für das Kind abstrakten Normen her wie »Selbstständigkeit und Selbstachtung, die Achtung des und der Anderen sowie die Orientierung am Gemeinwohl« (Prengel, 1999, S. 132). Erst, wenn sich das Kind darunter etwas vorstellen kann und eine Verabredung (ein Arbeitsbündnis) getroffen hat, was es konkret tun kann, wird aus den Normen eine gute Ordnung.

Arbeitsbündnisse sind Abstimmungsprozesse, die Zeit und einen Raum, einen Ort benötigen, wo sie verhandelt werden können (z. B. Runder Tisch, Kreis, Veröffentlichungswand etc.). Die Unterrichtsorganisation muss das berücksichtigen. Demokratisches Handeln und Mitbestimmung in Belangen, die die ganze Klasse betreffen, lässt sich z. B. im Klassenrat lernen. Was langfristig geregelt werden kann und Klarheit in die Abläufe der Zusammenarbeit bringt, sollte also mit allen Schülerinnen und Schülern gemeinsam ausgearbeitet und festgelegt werden.

Das interaktive und fachliche Handlungspotenzial unterrichtlicher Situationen erweitert sich, wenn sich mit den unterschiedlichen Zugängen der Kinder zum Unterrichtsinhalt mehr didaktische Gestaltungsmöglichkeiten ergeben. Ob und wie diese Möglichkeiten genutzt werden, hängt jedoch wesentlich davon ab, ob eine »gute Ordnung« etabliert ist. Nur in einer sicheren und wohlgesonnenen Umgebung, können alle Kinder ihre persönlichen Ressourcen für den Unterricht aktivieren und einbringen. Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen sich vor einem sozial integrativen Hintergrund, dessen Ordnung persönliche Beschädigungen verhindert und neue Möglichkeiten eröffnet.

Möglichkeiten, den Unterrichtstag zu strukturieren und für alle Kinder durchschaubar zu machen, sind Rituale. Sie geben Schülerinnen und Schülern sowie Lehrpersonen Sicherheit,

»bringen Übersichtlichkeit, verhindern unnötige Rüstzeiten, kurz: sie tragen wesentlich dazu bei, dass die Kinder ihre Lernzeit effektiv nutzen können. Eine gute Strukturierung der Abläufe und Regeln ist umso wichtiger, je weniger Unterricht frontal gesteuert, je unterschiedlicher die Lernaufgaben und das Lernmaterial ist und je mehr Verantwortung für ihr Lernen den Schülerinnen und Schülern zukommt. Dass die Kinder in weiten Phasen des Unterrichts selbstständig lernen, ist eine wesentliche Voraussetzung, damit die Lehrperson jedes Kind in seinem Lernprozess begleiten kann« (Carle & Metzen, 2014, S. 64).

In der Klassengemeinschaft anerkannte Rituale wirken durch ihre Symbolkraft gemeinschaftsförderlich. Von der Lehrperson ausgeübte Rituale können jedoch die Gemeinschaft spalten, wenn die Lehrperson gegen die gemeinschaftsstiftenden und das Individuum achtenden Grundregeln verstößt (vgl. Wagner-Willi, 2005).