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Westend Verlag

Ebook Edition

Sahra Wagenknecht

Couragiert gegen den Strom

Über Goethe, die Macht und die Zukunft

Nachgefragt und aufgezeichnet von Florian Rötzer

Westend Verlag

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-685-9

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2017

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Besonderer Dank ergeht an Philipp Müller für seine redaktionelle Tätigkeit.

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

I. Anders Politik machen
Soziale Gerechtigkeit
IS-Terror
Rüstungsexporte und Krieg
Der politische Trott
II. Biographie: Eine Philosophin in der Politik
Kindheit
Goethe als Gesellschaftskritiker
Der Wert des Buches
Kunst
Vor dem Studium
Lernen von den Meistern
Der Beginn des politischen Lebens
Die Wende
Politik im Westen
III. Politik: Was ich erreichen möchte
Die Überwindung des Kapitalismus
Können Algorithmen den Menschen ersetzen?
Bedingungsloses Grundeinkommen oder weniger Arbeit für alle?
Umwelt- & Datenschutz
Die linke Bewegung in Deutschland
Das gute Leben
Gleichberechtigung
Innerparteiliches
Die LINKE und die SPD
Politik aus Überzeugung
Außen- und Verteidigungspolitik
Einwanderungspolitik
Medien
Die Europäische Union
Globalisierung
IV. Ausgewählte Reden
Rede auf dem Hannoveraner Parteitag
»Sie machen die Autobahn zur Melkkuh für private Profite«
»Die Menschen wollen kein ›Weiter so‹ mehr«
Erbschaftssteuerreform ist eine Kapitulation vor der Macht steinreicher Firmenerben

III. Politik: Was ich erreichen möchte

Rötzer: Mittlerweile sind wir wieder in der Gegenwart angekommen. Es wäre noch interessant zu wissen, wie sich Ihre Vergangenheit und insbesondere Ihre Ausbildung auf Ihre Politik auswirken. Hat Ihre Beschäftigung mit der Philosophie beispielsweise eine Bedeutung, wenn Sie in Talkshows eingeladen werden?

Wagenknecht: Naja, die Talkshow ist eher die Bühne der einfachen Wahrheiten. Für allzu viel Differenzierung reicht da oft die Redezeit nicht, weil einen schon längst wieder ein anderer Teilnehmer unterbrochen hat. Aber den Respekt gegenüber anderen Positionen, den sollte man natürlich auch in einer Talkshow wahren und das auch zeigen. Auch wenn es, zugegeben, manchmal Situationen gibt, wo das schwerfällt, weil man ein Gegenüber hat, das die Ebene unter der Gürtellinie bevorzugt. Es geht also eher um eine Grundhaltung im Leben.

Obwohl ich Hegel gelesen hatte, habe ich lange gebraucht, bis ich ihn in diesem Punkt wirklich verstanden hatte und dahin kam, Positionen, die ich nicht für richtig halte, trotzdem ernst zu nehmen und eventuell auch ihren rationalen Kern zu sehen. Mit zwanzig war ich der Meinung, dass viele Andersdenkende einfach Idioten sind, die es eben nicht begriffen haben, und ich bin wohl auch so aufgetreten. Vielleicht ist das auch normal, wenn man jung ist. Aber so sollte man nicht durchs Leben gehen. Nicht nur, weil man dann ein ziemlich unerträglicher Mensch ist. Sondern auch, weil man damit Dinge aus seiner eigenen Weltsicht ausblendet, die sie bereichern würden.

Ich kann das konkret machen: Ich war zum Beispiel lange Zeit der Meinung, dass Konkurrenz als konstitutives Prinzip der Wirtschaft überwunden werden sollte, weil der Mensch dadurch in seinen Mitmenschen Gegner sieht, was einem solidarischen Miteinander entgegensteht. Irgendwann habe ich begriffen, dass jede vernünftige Wirtschaft Wettbewerb braucht. Aber er muss fair sein, das heißt so, dass wirklich die überlegene Leistung den Ausschlag gibt und man sich Vorteile nicht durch Marktdominanz oder ähnliches erschleichen kann. Und es gibt Bereiche, wo Wettbewerb, Markt und Kommerz keinen Platz haben, nämlich überall da, wo es um menschliche Grundbedürfnisse geht.

Ich bin, um ein anderes Beispiel zu geben, zudem bis heute überzeugt und vertrete auch ökonomisch die Position, dass wir eine andere Wirtschaftsordnung brauchen, die verhindert, dass ein kleiner Teil der Gesellschaft die wirtschaftlichen Ressourcen als Privateigentum besitzt, weil das unweigerlich zu Missbrauch, Abhängigkeit und Ausbeutung führt. Daher muss man das wirtschaftliche Eigentumsrecht verändern. Früher dachte ich: »Na gut, die Alternative ist, dass alles vergesellschaftet wird, alles dem Staat gehört.« Das funktioniert aber auch nicht, weil es dann keine Anreize mehr gibt, Leistung zu erbringen, und der Staat auch zu starr und zu unbeweglich ist, sich um kommerzielle Unternehmen zu kümmern. Das ist auch nicht seine Aufgabe. Deshalb braucht es eine Alternative jenseits des alten Gegensatzes von Staatswirtschaft und Privatwirtschaft. Wie die aussehen könnte, habe ich in meinem jüngsten Buch dargelegt.

Die Überwindung des Kapitalismus

Rötzer: Aber was steht denn für Sie hinter der Konkurrenz? Ihr letztes Buch trägt den Titel Reichtum ohne Gier. Ist es denn Gier, besonders nach Anerkennung und Macht, die hinter dem Prinzip der Konkurrenz steht?

Wagenknecht: Konkurrenz ist ein ökonomisches Prinzip. Die Unternehmen konkurrieren miteinander um Märkte, und wer nicht mithalten kann, scheidet aus. Konkurrenz kann man auch zwischen Arbeitnehmern beobachten, solange es hohe Arbeitslosigkeit oder – wie heute in Deutschland – viele prekäre Jobs gibt. Natürlich konkurrieren dann die Menschen um die wenigen guten Arbeitsplätze. Manche Formen der Konkurrenz kann und sollte man nicht überwinden. Unternehmen müssen miteinander im Wettbewerb stehen, weil es sonst zu wenig Druck gibt, innovativ und produktiv zu sein und sich an den Bedürfnissen der Kunden zu orientieren. Das sehen wir ja teilweise schon bei sehr großen Unternehmen mit starker Marktmacht: Der Kundenservice ist eine Abteilung, bei der gern gespart wird, am Ende hängt man immer in irgendwelchen Warteschleifen und unterhält sich mit Computern, wenn man eine Reklamation oder ein anderes Anliegen hat.

In vielen Bereichen ist die Auswahl heute extrem eingeschränkt: Wenn ich ein Smartphone kaufen oder in Deutschland einen Festnetzanschluss haben will, muss ich mich letztlich zwischen zwei großen Anbietern entscheiden. Es gibt in vielen Branchen keinen funktionierenden Wettbewerb mehr. Noch schlimmer wird es, wenn Bereiche privatisiert werden, in denen es ohnehin keinen richtigen Wettbewerb geben kann. Krankenhäuser etwa stehen nicht in einem kommerziellen Wettbewerb, denn wie sollen die Leute denn beurteilen, in welchem die Knie-OP besser ist. Oder beim Wohnen. Eine Wohnung ist doch kein Apfel, den ich morgen bei einer anderen Marktfrau kaufe, wenn die bisherige Lieferantin mir zu teuer geworden ist. Es ist sehr mühsam, eine Wohnung zu wechseln. Im Extremfall macht man das, aber garantiert nicht häufig, und damit ist der Mieter in einer ziemlichen Abhängigkeit vom Vermieter. Wenn einfach zu wenige bezahlbare Wohnungen gebaut werden und so die Mieten überall steigen, ist der Mieter erst recht der Verlierer. Es gibt also Bereiche, wo private Profitorientierung als dominierendes Prinzip zu ziemlich fatalen Ergebnissen führt.

Ebenso muss man verhindern, dass Beschäftigte wehrlos den Wünschen der Arbeitgeber ausgesetzt werden, weil es auch da ein Ungleichgewicht gibt: Solange wir keine echte Vollbeschäftigung haben, hat der Unternehmer immer mehr Macht als der Beschäftigte, der ja darauf angewiesen ist, einen Job zu finden. Je weniger sichere, gut bezahlte Arbeitsplätze es gibt, desto größer wird diese Macht. Die früheren Regeln am Arbeitsmarkt in Deutschland hatten die Beschäftigten gestärkt, die Agenda 2010 hat das dann mit den prekären Jobs, der Zeitarbeit oder den vielen befristeten Arbeitsverhältnissen völlig zum Nachteil der Arbeitnehmer gekippt.

Rötzer: Das Prinzip der Konkurrenz geht allerdings tiefer als die Konflikte zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Konkurrenz fängt schon im Kindesalter an: bei den Noten, wer schneller ist, wer dies und jenes besser machen kann, wer größere Aufmerksamkeit erzielt.

Wagenknecht: Aber Kinder müssen ja auch eine Bewertung ihrer Leistung bekommen. Sonst können sie gar nicht einordnen, wo sie stehen. Ich halte wenig von Schulen ohne Noten. Aber die Frage ist, was den Kindern als übergeordneter Wert vermittelt wird. Sollen sie nur danach streben, besser zu sein als andere, oder sollten sie sich auch darum kümmern, wie es den anderen geht? Mit einem Wertesystem, das schon frühkindlich vermittelt, dass man ausschließlich auf sich selbst schauen soll, während das Schicksal der anderen einem möglichst egal zu sein hat, erzieht man die Kinder zu einer anderen Lebenshaltung, als wenn man ihnen schon frühzeitig nahebringt, sich auch um die Schwächeren zu kümmern und ihnen zu helfen.

Klar, als Kind habe ich mich auch immer gefreut, wenn ich Klassenbeste war, obwohl ich mich dafür nicht mal besonders anstrengen musste. Es ist normal, dass sich Kinder an anderen messen, aber es ist eben die Frage, ob sie sich trotzdem auch für die anderen und deren Probleme interessieren.

Rötzer: Im Kommunistischen Manifest wird recht anschaulich und drastisch beschrieben, wie alle ständischen Strukturen verdampfen, sodass sich nur noch zwei Klassen gegenüberstehen. In einem finalen Kampf erfolgt schließlich der Übergang zum Kommunismus. Heute haben wir allerdings im Unterschied zum 19. Jahrhundert die Situation, dass man weder von einem Proletariat noch einer anderen gemeinsamen, großen Klasse gegenüber den Kapitalisten reden könnte.

Wagenknecht: Wir haben diese gesellschaftliche Spaltung auch heute noch: Da gibt es einerseits das obere eine Prozent, das nahezu ausnahmslos über großes Betriebsvermögen verfügt. Ihm gegenüber stehen die 99 Prozent, die nur von ihrer eigenen, aber nicht von anderer Leute Arbeit leben können.

Rötzer: Gut, aber die Abhängigen sind ja keine geknechteten Fabrikarbeiter mehr.

Wagenknecht: Heute sind es eben Arbeitnehmer unterschiedlichster Art mit Fest- oder Zeitverträgen und Minijobber. Viele sind auch kleine Selbständige, die oft in einer völligen Abhängigkeitssituation arbeiten, auch wenn sie formal selbständig sind. Sie sind sogar besonders schlimm dran, weil sie noch nicht mal Anspruch auf Mindestlohn und überhaupt keine soziale Absicherung haben.

Rötzer: Aber sie haben keine kollektive Macht mehr, oder? Viele sind vereinzelt, sitzen vor ihren Computern und arbeiten selbständig.

Wagenknecht: Die Frage ist, wie man sie organisieren kann. Die Gewerkschaften wären ja eigentlich in der Pflicht, über die Kernbelegschaften hinaus zu organisieren, also auch die Leiharbeiter, die Minijobber und die Befristeten einzubeziehen, die großenteils nicht mehr gewerkschaftlich organisiert sind. Aber weil die Gewerkschaften mit den Betriebsräten großer Konzerne zuweilen den Fehler machen, ihre Politik vor allem auf die Verbesserung der Situation der Kernbelegschaften auszurichten, sehen sich die anderen von ihnen teilweise nicht mehr als vertreten an. Und natürlich ist es objektiv schwierig, keine Frage, einen so heterogenen Arbeitsmarkt zu organisieren. Und das ist ein großes Problem, weil beispielsweise die Streikfähigkeit der Gewerkschaften untergraben wird, wenn sie in einem Betrieb nur noch die Stammbelegschaften zum Streik aufrufen können. Wenn dann Leiharbeiter oder Beschäftigte mit Werkverträgen als Streikbrecher eingesetzt werden, dann ist der Streik verpufft.

Das bedeutet, dass die Macht der Gewerkschaften nur dann funktioniert, wenn sie breiter organisiert sind. In anderen europäischen Ländern finden gegen besonders unsägliche politische Entscheidungen immer wieder Generalstreiks statt, bei denen alle streiken, egal in welcher Gewerkschaft sie sind oder welchen Status sie haben. Wenn Generalstreik ist, streikt ein Großteil der Bevölkerung, das kennen wir aus Belgien, aus Griechenland, Spanien oder früher auch aus Italien, da sind die Gewerkschaften aber mittlerweile offenbar nicht mehr so kampfstark. Man sieht also, dass es noch geht, es ist aber schwer.

Rötzer: Möglicherweise fehlt uns heute auch eine Utopie, eine bessere Gesellschaftsordnung, nach der man strebt. Das setzt, um es mit Hegel auszudrücken, eine Negation der herrschenden Verhältnisse voraus. Aber das scheint heute weitgehend verschwunden zu sein, was sich auch im Programm der LINKEN widerspiegelt. Es wird versucht, an einzelnen Punkten zu reparieren, hier die Rente, dort die Vermögenssteuer, aber das ist kein großer Entwurf, sondern gleicht eher dem Versuch, eine Maschine zu reparieren, anstatt das Konstrukt selbst in Frage zu stellen. Ist uns die Zukunftsfähigkeit in den letzten Jahrzehnten abhandengekommen? Trauen sich auch die Linken nicht mehr wirklich, über den Kapitalismus hinauszudenken? Im Programm der Linken ist da eigentlich genau wie bei den anderen Parteien nichts zu finden, wenn man davon absieht, dass etwa die Ungleichheit reduziert werden soll oder Kriegseinsätze abgelehnt werden.

Wagenknecht: Das Grundsatzprogramm der Linken fordert eine andere Wirtschaftsordnung. Ich selbst habe ein ganzes Buch darüber geschrieben, wie eine andere Gesellschaft aussehen kann, inklusive einer anderen Wirtschaftsordnung. Reichtum ohne Gier ist mein Beitrag zur Diskussion über grundsätzliche Alternativen. Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich vorher immer wieder die Rückmeldung bekommen hatte, dass die Leute meine Kritik nachvollziehen können, ihnen aber nicht klar sei, wie denn meine Alternative jenseits des Kapitalismus aussieht, also was ich konkret anders machen würde. Es war für mich eine sehr schöne Erfahrung, wie viel Resonanz, und zwar ausdrücklich positive Resonanz, ich auf dieses Buch bekommen habe. Und zwar aus nahezu allen Schichten der Bevölkerung, von Menschen, die zu schlechten Löhnen arbeiten, von Akademikern, von Selbständigen, Ärzten, Unternehmern. Und der Tenor war immer, dass das ja eigentlich sehr vernünftig klinge, oft verbunden mit dem Zusatz, dass sie sich bisher unter ›links‹ etwas ganz anderes vorgestellt hatten und überrascht waren, wie überzeugend sie die Vorschläge fanden. Wenn man es konkret macht, wenn die Leute nicht das Gefühl haben, dass das versponnene Ideen sind, die gar nicht funktionieren können, weil sie lauter selbstlose Menschen voraussetzen oder grundlegende wirtschaftliche Zusammenhänge ignorieren, dann stößt man auf ein hohes Maß an Aufgeschlossenheit. Aber keine Bundestagsrede und keine Talkshow gibt einem den Raum, ein solches Modell vorzustellen. Dafür muss man dann schon ein Buch schreiben, und damit erreicht man natürlich nur die Leute, die Bücher lesen.

Rötzer: Wir müssten jetzt erst einmal klären, was Kapitalismus eigentlich ist, respektive, was Sie darunter verstehen.

Wagenknecht: Ein Kapitalist ist für mich jemand, da knüpfe ich an die Definition des österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter an, der ein Unternehmen als bloßes Anlageobjekt betrachtet. Ein Unternehmer ist hingegen jemand, von dessen Power ein Unternehmen lebt. Der Kapitalismus ist also eine Wirtschaftsordnung, in der die Unternehmen Mittel zum Zweck der Renditeerzielung ihrer Eigentümer sind. Dann wird Innovation nur verfolgt, wenn sie entsprechende Mindestrenditen erwarten lässt. Es gibt ja Aussagen von Ingenieuren, dass zum Beispiel bei Siemens erfolgversprechende Innovationen nicht weiter erforscht werden, wenn die erwartete Mindestrendite unter 16 Prozent liegt.

Rötzer: Machen wir es ganz plastisch. Nehmen wir einen Handwerksbetrieb mit einigen Angestellten zum Beispiel. Der Besitzer kümmert sich um Aufträge, er arbeitet auch dafür, dass er ein bisschen mehr Geld hat, und hebt bei Gewinnen nicht gleichzeitig die Gehälter der Angestellten an, sondern versucht, seine Gewinne zu steigern, um sie teilweise wieder in den Betrieb zu investieren. Wäre das etwas grundsätzlich anderes als das, was Sie unter Rendite verstehen?

Wagenknecht: Jedes Unternehmen muss Gewinne machen, um zu investieren. Und wenn der Inhaber selbst im Unternehmen arbeitet, ja es selbst gegründet hat, dann lebt das Unternehmen von seinen Ideen und seiner Risikobereitschaft, was natürlich auch ein höheres Einkommen rechtfertigt. Etwas anderes ist es, wenn in einer Aktiengesellschaft langfristige Investitionen unterbleiben, um die kurzfristige Rendite zu steigern, die dann an die Aktionäre ausgeschüttet wird. Bei den großen Unternehmen wird ja seit Jahren ein immer größerer Teil des Gewinns ausgeschüttet und eben nicht reinvestiert. Dieser Druck von Anteilseignern, die mit dem Unternehmen eigentlich gar nichts mehr verbindet – oft sind es Finanzinvestoren, Hedgefonds –, ihr Druck, aus dem investierten Geld immer mehr Geld zu machen, dafür Löhne zu drücken, Steuern zu umgehen, auf langfristige Investitionen zu verzichten, eventuell Raubbau an der Natur zu betreiben, das ist das eigentliche Kennzeichen des Kapitalismus. Oder wenn der Spross einer Unternehmerdynastie ein Riesenvermögen in die Wiege gelegt bekommt und dann Millioneneinkünfte aus den Erträgen eines oder mehrerer Unternehmen bezieht, für die andere hart arbeiten, während er selbst mit dem wirtschaftlichen Erfolg gar nichts mehr zu tun hat.

Rötzer: Würden Sie entsprechend auch für die Herstellung von Chancengleichheit durch eine Erbschaftssteuer plädieren, weil dadurch die Vererbung von großen Vermögen oder von Kapital nicht mehr ohne Weiteres möglich wäre?

Wagenknecht: Der Ordoliberale Alexander Rüstow hat die Ansicht vertreten, dass die Erbschaftssteuer dafür sorgen muss, dass keine Großvermögen, die über das hinausgehen, was sich ein normaler Mensch im Leben erarbeiten kann, vererbt werden können. Hier geht es um Vermögen, die so groß sind, dass man allein aus den Erträgen mehr Einkommen bezieht, als selbst hochqualifizierte Beschäftigte in einem langen Arbeitsleben verdienen. Ein Beispiel ist das Geschwisterpaar Quandt und Klatten, die große Anteile an BMW geerbt haben und im Frühjahr 2017 eine Milliarde Euro an Dividende ausgeschüttet bekamen. Das entspricht einem Einkommen von über drei Millionen Euro am Tag. Und das sind die Größenordnungen, über die wir in der Milliardärsriege reden. Ich finde es aberwitzig, dass solche Erbschaften möglich sind und heute noch nicht mal ordentlich besteuert werden, aber das kann man nur überwinden, wenn große Unternehmen kein Privateigentum mehr sind.

Es gibt auch heute schon Unternehmen in Stiftungshand, die keine Eigentümer mehr haben, die sich dadurch bereichern können, dass sie ohne eigene Gegenleistung Geld aus dem Unternehmen ziehen. Diese Stiftungsunternehmen gehören sich faktisch selbst, und von ihrem Erfolg profitieren auch nur diejenigen, die zu ihm beitragen, also die im Unternehmen arbeiten. Meines Erachtens ist das das Grundprinzip, das man verallgemeinern sollte. Aber nicht im Sinne einer Gemeinnutzorientierung, es geht schon um kommerzielle Unternehmen, die auch gewinnorientiert arbeiten. Sie brauchen auch gute Unternehmer, also Leute, die die Fähigkeit haben, einen solchen Betrieb ordentlich zu führen. Aber das geschilderte Modell macht Kapitalisten überflüssig. Es braucht dann nur große öffentliche Wagniskapitalfonds, die für Unternehmensgründer bereitstehen, und ein vernünftiges Bankensystem zur Finanzierung des Unternehmenswachstums. Denn ist ein Unternehmen einmal erfolgreich etabliert, kommt der größte Teil der Kapitalbildung ohnehin aus den erwirtschafteten Gewinnen und nicht mehr von außen. Genau das wäre in diesem Modell sogar wesentlich erleichtert, weil es niemanden mehr gibt, der die Ausschüttung eines Teils der Gewinne verlangen kann. Aber, wie gesagt, viel detaillierter habe ich das alles in Reichtum ohne Gier dargelegt.

Also es sind die privaten Riesenvermögen von Hunderten Millionen oder Milliarden, die sich niemand selbst erarbeiten kann, und die daraus resultierenden leistungslosen Einkommen, die den Kapitalismus ausmachen. Nicht Wettbewerb, Marktwirtschaft oder Leistungsanreize, das braucht jede vernünftige Wirtschaft. Und diese Milliardenvermögen machen eine wirklich demokratische Gesellschaft unmöglich. Denn sie begründen unglaubliche Macht, Erpressungsmacht – wer über Milliardeninvestitionen und Zehntausende Arbeitsplätze entscheidet, kann ganzen Staaten die eigenen Interessen aufzwingen. Und er hat auch die Macht, sich die Politik zu kaufen, die er gerne haben will.

Es gab letztens wieder eine Untersuchung, dass in Deutschland auf der einen Seite die Armut wächst, das wissen wir, dass es aber zugleich immer mehr Rentiers gibt, also Leute, die ohne eigene Arbeit luxuriös von ihrem Vermögen leben können. Von wegen Leistungsgesellschaft! Die neoliberale Politik, die immer Leistung und Eigenverantwortung auf ihre Fahnen schreibt, fördert in Wahrheit das genaue Gegenteil.

Rötzer: Könnten wir, um es platt zu sagen, den Kapitalismus abschaffen, indem wir einfach die Erbschaften kappen?

Wagenknecht: Ich würde es umgekehrt sehen. Wenn man den Kapitalismus abschafft, wird es ohnehin niemanden mehr geben, der in der Lage ist, ein Milliardenvermögen anzuhäufen. Solange es den Kapitalismus gibt, befinden sich auch große Unternehmen in privatem Eigentum. Wenn ich lediglich die Erbschaften kappe, kann ich zwar verhindern, dass ein Unternehmen einer bestimmten Familie gehört, aber die Frage ist unter diesen Umständen: Wem soll es stattdessen gehören? Es besteht die Gefahr, dass eine solche Regel lediglich Anreize setzt, dass erfolgreiche Unter­nehmen vorher an Finanzinvestoren verkauft werden und die früheren Eigentümer das Geld lieber verprassen oder in einem diskreten Trust in Panama anlegen, um die Erbschaftssteuer zu umgehen. Also das spricht nicht gegen Erbschaftssteuern, aber es zeigt, dass sie allein das Problem nicht lösen. Klar, es gibt auch heute Stiftungsunternehmen und auch Inhaber, die ihr Unternehmen sehr bewusst auf eine Stiftung übertragen, um seine Existenz auch für die Zukunft zu sichern. Aber diese Art des Eigentums muss verallgemeinert und entbürokratisiert werden.

Rötzer: Aber wenn man zum Beispiel ein Start-up aufbaut, ist Kapitalbedarf zwingend.

Wagenknecht: Natürlich, man braucht Startkapital. Es ist eine der großen Ungerechtigkeiten des Kapitalismus, dass, wer arm geboren ist, auch keine oder kaum eine Chance hat, Unternehmer zu werden, weil ihm das Kapital dazu fehlt. Das müsste man über eine Demokratisierung des Zugangs zu Kapital regeln. Wenn der Staat freien Zugang zu Wagniskapital bietet, beispielsweise über Wagniskapital-Fonds, eröffnet das den Teilen der Bevölkerung mit unternehmerischem Talent ganz neue Möglichkeiten, egal ob sie aus einer reichen oder aus einer weniger wohlhabenden Familie stammen.

Es gab mal eine Phase, als man zwar nicht vom Tellerwäscher zum Millionär, aber vom Arbeiter zum Oberstudienrat aufsteigen konnte. Das war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es gab damals viele Kinder aus Arbeiterfamilien, die eine Universität besuchten und sich ein besseres Leben aufbauen konnten, als ihre Eltern es hatten. Heute ist es eher umgekehrt. Aber zu keinem Zeitpunkt war der Zugang zu Kapitalbesitz besonders durchlässig, das ist zu großen Teilen vererbtes, altes Geld. Nur wo dank Innovationen völlig neue Branchen entstehen, da sind die Eigentümer dann in der Regel keine Erben, sondern Unternehmensgründer. Das betrifft in den USA etwa die digitale Ökonomie. Aber sobald eine Branche sich etabliert hat, dominieren das alte Geld und die Erben-Generationen.

Können Algorithmen den Menschen ersetzen?

Rötzer: Marx’ Idee war ja, dass eine Veränderung der Gesellschaftsform, also der Ausgang aus dem Kapitalismus, mit dem Stand der Technik zusammenhängt. Erzwingt oder erleichtert denn die heutige Technik den Übergang in den Nachkapitalismus?

Wagenknecht: Wir haben heutzutage auf jeden Fall Technologien, mit denen der Kapitalismus nicht klarkommt. Die Digitalisierung wird heute gerne als Horrorvision diskutiert, weil sie viele Arbeitsplätze überflüssig machen könnte. Aber erstens ist noch gar nicht klar, ob die extremen Vorhersagen, was die digitale Arbeitsplatzvernichtung angeht, wirklich vor der Realität standhalten. Dagegen spricht einiges, unter anderem der akute Mehrbedarf an Arbeit in den personenbezogenen Dienstleistungen, also in der Bildung, im Gesundheitswesen, in der Pflege. Aber selbst wenn die notwendige Arbeit sich radikal verringern sollte: Eigentlich ist es doch ein Fortschritt, wenn mit weniger menschlicher Arbeit der gleiche Wohlstand geschaffen werden kann. Ein Zugewinn an Produktivität bedeutet ja, dass man weniger Arbeit benötigt, um am Ende das gleiche Niveau an Produkten, an Gütern und Dienstleistungen zu erzeugen. Das ist eigentlich ein riesiger Fortschritt. Unter kapitalistischen Bedingungen ist das aber für die große Mehrheit ein Problem, weil die Leute ihre Arbeitsplätze durch die Digitalisierung verlieren können und damit ihr Einkommen und ihre Teilhabe am Wohlstand. Wer arbeitslos ist, ist eben draußen.

Dieser Prozess ähnelt dem Niedergang der alten Stahl- und Schwerindustrie. Die entlassenen Arbeiter waren damals zum Teil abgesichert, weil es noch einen Sozialstaat gab, aber die wenigsten fanden wieder Arbeit in anderen Bereichen. In Großbritannien oder in den USA entstanden dadurch große Gruppen an deklassierten Arbeitern, die einst zur Mittelschicht gehörten und jetzt für einen Hungerlohn Tüten in Supermärkten packen mussten oder dauerhaft arbeitslos wurden. Ganze Städte in den ehemaligen Industrieregionen sind in der Folge hoffnungslos verkommen. Wir sehen das auch in Deutschland etwa im Ruhrgebiet, aber in den Vereinigten Staaten oder auch im Großbritannien unter Thatcher hat man noch einen viel schlimmeren Verfall zugelassen. Die Digitalisierung bedroht jetzt noch größere Teile der Gesellschaft mit einem ähnlichen Schicksal. Aber es sind nicht die digitalen Technologien, die das bewirken, sondern die kapitalistischen Machtverhältnisse, unter denen sie sich durchsetzen. Denn diese Machtverhältnisse sorgen dafür, dass diejenigen, die über das Kapital, also auch über die digitalen Plattformen, über die Software verfügen, den gesamten Gewinn allein einstreichen. Das macht den Übergang zu einer anderen Wirtschaftsordnung noch dringlicher.

Marx meinte das allerdings natürlich noch ein wenig anders, denn er hatte ja die Vorstellung, dass Märkte gänzlich überflüssig werden, weil die Wirtschaft sich immer großflächiger vernetzt und daher planbar würde. Das ist in meinen Augen nicht richtig. Wir haben einerseits diese Vernetzung und sind inzwischen mit Industrie 4.0 und Digitalisierung auch theoretisch in der Lage, die Produktion vom Konsumenten aus zu organisieren. Das wird zu immer stärker individualisierten Produkten führen. Aber das macht Märkte und Wettbewerb trotzdem nicht überflüssig. Denn es ändert nichts daran, dass es unterschiedliche Unternehmen geben muss, die bestimmte Produkte anbieten, weil es sonst einfach keinen Anreiz gibt, innovativ, produktiv und kundenorientiert zu bleiben. Stagnation wäre die Folge.

Aber wir brauchen weiteren technologischen Fortschritt. Nicht zuletzt, um unsere natürliche Umwelt zu erhalten, müssen wir zu einer echten Kreislaufwirtschaft übergehen. Dafür brauchen wir in vielen Bereichen Technologien, die heute noch nicht verfügbar sind. Und natürlich ist es phantastisch, wenn die medizinische Forschung dazu führt, dass wir immer mehr Krankheiten besiegen können. Es ist wunderbar, wenn immer neue Ideen entstehen, die unser Leben im Großen oder auch nur im Kleinen ein bisschen schöner und leichter machen. Das brauchen wir auch in Zukunft, und deshalb muss es Anreize dazu geben.

Rötzer: Der Druck könnte auch von den Konsumenten kommen, die etwas anderes haben wollen.

Wagenknecht: Wenn sie keine Auswahl mehr zwischen verschiedenen Unternehmen haben, von denen sie ihre Produkte beziehen können, können sie auch keinen Druck ausüben. Zum Beispiel ist der selbstbestellende Kühlschrank deshalb so attraktiv für den Anbieter, weil er immer wieder stoisch beim gleichen Unternehmen nachbestellt. Also für den Lieferanten ist das eine Supersache. Beim Inhalt des Kühlschranks, also bei standardisierten Produkten wie Milch oder Eier mag es noch passabel sein, sie immer wieder beim gleichen Händler zu beziehen. Wo es dagegen um kompliziertere Qualitätsprodukte geht, wird sich kaum einer gern auf eine automatisierte Bestellung einlassen. Denn garantierter Absatz ist bestimmt kein Leistungsanreiz für das betreffende Unternehmen. Deshalb ist es eben auch heute ein Problem, wenn Konzerne immer größer und marktmächtiger werden.

Rötzer: Gut, das ist der Aspekt der Konzentration. Bleiben wir bei den Arbeitnehmern, die möglicherweise über die Digitalisierung freigesetzt werden. In den ausgemalten Szenarien handelt es sich um große Teile der Arbeitnehmerschaft bis hinauf zu Intellektuellen und Akademikern, inklusive Journalisten und Wissenschaftlern, die überflüssig werden könnten. Wenn die Industrie 4.0 zusammen mit der weiteren Entwicklung der künstlichen Intelligenz und der Robotik viele Menschen aus dem Produktionsprozess herauslösen kann, dann steht die Gesellschaft plötzlich vor dem Problem, was sie mit diesen Überflüssigen macht. IT-Gurus und Führungskräfte in Konzernen stellen selbst zunehmend diese Frage, weil es auf der Hand liegt, dass gesellschaftliche Unruhen entstehen, wenn sich die von der Lohnarbeit Freigesetzten ihres Einkommens und ihrer Perspektiven beraubt sehen. Könnte über diese Proletarisierung eine neue Linke entstehen?

Wagenknecht: Das ist keine zwangsläufige Folge. Es gab schon immer Entwicklungen, die einen Teil der Arbeit überflüssig gemacht haben. Richtig, nicht immer hat das zu Deklassierungen und sozialem Abstieg geführt. Aber sozialer Abstieg als solcher bringt doch niemanden dazu, plötzlich links zu wählen. Viele versuchen es dann gern auch mal mit rechten Parteien. Nein, entscheidend ist: Die Linke muss die Menschen ansprechen, sie muss sich so artikulieren, dass sie verstanden wird. Sie braucht überzeugende, plausible Alternativen. Und natürlich auch glaubwürdige Persönlichkeiten. Das ist viel Wichtiger als auf ein neues ›Proletariat‹ zu warten. Menschen, die hart arbeiten und trotzdem arm sind, gibt es doch längst in großer, viel zu großer Zahl.

Rötzer: Man muss sich bloß vorstellen, dass mit einer massenhaften Einführung von autonomen Lastwagen und Autos zig Millionen Menschen in Europa arbeitslos werden. Ist das nicht ein Bruch?

Wagenknecht: Es wird immer Arbeit geben, die nur von Menschen und von keinem Algorithmus erledigt werden kann. Das betrifft nicht nur die Weiterentwicklung oder Wartung der Technik, sondern sämtliche Berufe, in denen zwischenmenschliche Beziehungen eine Rolle spielen. Natürlich spricht unter heutigen Bedingungen viel dafür, dass mit der Digitalisierung die Arbeitslosigkeit steigt und auch ungesicherte Arbeitsverhältnisse weiter zunehmen. Das ist vor allem der Fall, wenn nicht endlich mehr in Bildung investiert und öffentliche Beschäftigung weiter abgebaut wird. Denn ausreichend Jobs in den Menschen-bezogenen Dienstleistungen können nur unter öffentlicher Regie entstehen. Privatisierte Schulen, privatisierte Pflegeheime sind nur etwas für eine reiche Minderheit.

Rötzer: Es gibt aber lernende Systeme. Die Chip-Entwicklung ist zum Teil schon lange automatisiert. In Japan werden Pflegeroboter entwickelt. Also, da wäre ich etwas vorsichtig, ob nicht tatsächlich langfristig eine weitgehende Ersetzung möglich wäre.

Wagenknecht: Das glaube ich nicht, und ich meine auch nicht, dass die Menschen das je aus der Hand geben sollten. Seit der Entdeckung der Chaostheorie weiß man, wie fehleranfällig hochkomplexe Systeme sind, bei denen am Ende minimale Abweichungen zu einem völlig anderen Entwicklungspfad, also auch zu extremen Ausschlägen in die eine oder andere Richtung führen können. Der Mensch wäre schlecht beraten, sein Leben solchen Systemen und ihren gefühllosen Algorithmen zu überlassen.

Ich bin mir deshalb auch gar nicht so sicher, ob sich autonomes Fahren wirklich flächendeckend durchsetzen wird. Das ist ein hochkomplexes System. Nach den bisherigen Erfahrungen, so wie aktuell Navigationssysteme funktionieren – das ist alles optimierbar, ich weiß –, würde ich mich derzeit garantiert nicht in ein selbstfahrendes Auto setzen. Jeder kennt das, wenn die Navigation plötzlich spinnt und einen entweder im Kreis oder plötzlich eine Treppe hinunterfahren lassen will. Oder eine Sperrung oder Baustelle nicht kennt. In einem Verkehrsnetz aus autonomen Fahrzeugen müssten Unmengen an Daten zeitgleich verarbeitet werden. Das sind chaotische Systeme und entsprechend fehleranfällig.

Rötzer: Technik-Euphoriker würden allerdings behaupten, dass gerade die Entfernung des Menschen aus den Entscheidungsprozessen diese sicherer macht. Allgemein wird versprochen, dass weniger Unfälle passieren, wenn die intelligenten Systeme am Steuer sitzen, während beim Menschen immer Risiken hereinspielen, weil er zu langsam reagiert oder wahrnimmt und darüber hinaus emotional und ständig abgelenkt ist. Man könne dem Menschen also aus dieser Sicht weniger trauen als einer Maschine, die schnell, exakt, immer hochkonzentriert und emotionslos Regeln befolgt.

Wagenknecht: Klar, Computer betrinken sich nicht, aber trotzdem halte ich das für falsch, weil hochkomplexe Systeme plötzlich unvorhergesehene Dinge tun können. Ganz zu schweigen davon, welches Einfallstor man für Terroristen oder Kriminelle öffnet, die sich in solche Systeme reinhacken könnten. Im Flugverkehr läuft ja schon recht viel autonom ab, aber dennoch müssen immer ein Pilot und ein Co-Pilot in der Kabine sein. Auch in diesem Fall wäre eine Cyber-Attacke noch gefährlich, aber das Personal könnte immer noch gegensteuern. Wenn da aber nun niemand mehr wäre, möchte ich an dem Tag eines kriminellen Hackerangriffs nicht in einem Flugzeug sitzen …

Rötzer: Man kann autonome Systeme hacken, aber das geht auch bei teilautonomen Systemen, bei denen noch ein Fahrer am Lenkrad sitzt, wie das bei autonomen Fahrzeugen aus rechtlichen Gründen geplant ist. Selbst wenn ein Fahrer am Lenkrad sitzt, könnte man von außen ein Fahrzeug, das über eine SIM-Karte mit dem Internet verbunden ist, übernehmen, ohne dass der Fahrer eingreifen kann. Das wünschen sich im Übrigen auch europäische Polizeibehörden. Die würden nämlich gerne Fahrzeuge bei Verfolgungsjagden aus der Ferne stoppen können.

Wagenknecht: Also mal ehrlich: Würden Sie sich ein Auto kaufen, in dem Sie die Außensteuerung nicht bei Bedarf auch abschalten können? Also ich nicht. Ich habe auch keine Lust, dass der Software-Anbieter dann schönes Geld damit verdient, dass er meine Route so programmiert, dass ich auf jeden Fall bei irgendeinem Sushi-Restaurant oder einer Boutique vorbeikomme, weil mein Datenprofil ihn zu dem Schluss bringt, dass ich darauf anspreche und dann womöglich aussteige. Zukunftsträchtiger scheint mir da doch die Variante, dass es, wie im Flugzeug, autonom handelnde Autopiloten gibt, bei denen aber jederzeit ein Mensch wieder das Ruder übernehmen kann. Ich glaube, dass sich das auch beim Auto durchsetzen könnte. Dass die völlige Autonomie irgendwann kommt, bezweifle ich. Es muss sich nur einmal eine riesige Massenkarambolage mit Todesopfern ereignen, dann wäre die Euphorie ganz schnell vorbei.