Guillaume Agnelet ist noch ein Kind, als ihm sein Vater einen Mord gesteht, für den es keine Beweise gibt. Fast dreißig Jahre lang schweigt der Sohn und verteidigt den Vater sogar vor Gericht. Bis er nicht mehr kann. »Ich bin gekommen, um Sie über eine Gewissensentscheidung im Prozess meines Vaters in Kenntnis zu setzen …«

1977 war Agnès Le Roux, die Tochter einer wohlhabenden Familie an der Côte d’Azur, verschwunden. Bald schon ging man von einem Verbrechen aus, und der Anwalt der Familie, Maurice Agnelet, geriet in Verdacht, ihr etwas angetan zu haben. Maurice war Agnès’ Liebhaber, ein verheirateter Mann mit Charisma, ein Verführer, der es meisterhaft verstand, Menschen zu manipulieren und für seine Zwecke zu benutzen.

Die Gerichtsreporterin der Tageszeitung Le Monde, Pascale Robert-Diard, hat auf unheimlich fesselnde Weise festgehalten, wie eine Familie vor den Augen der Öffentlichkeit an ihren Geheimnissen zerbricht.

 

Zsolnay E-Book

Pascale Robert-Diard

 

VERRAT

 

Das dunkle Geheimnis der Familie Agnelet

 

Aus dem Französischen von Ina Kronenberger

 

 

Paul Zsolnay Verlag

 

 

Jean-Marc Théolleyre gewidmet

 

 

Am heutigen Montag, dem 7. April 2014, um 7:09 Uhr im TGV von Paris nach Rennes, Ankunft 9:12 Uhr, fühlte ich mich wie an einem ganz normalen Verhandlungstag. Am Abend zuvor hatte ich mir noch einmal Raymond Depardons Dokumentarfilm 1974, une partie de campagne über den Präsidentschaftswahlkampf von Valéry Giscard d’Estaing angeschaut. Ich konnte mich an dem Bild des Kandidaten nicht sattsehen, der eingezwängt auf der Rückbank eines Wagens saß und mit dem Kamm die wenigen Haare zu bändigen suchte, die ein frecher Windstoß durcheinandergewirbelt hatte. Das Frankreich um ihn herum war jung, die jungen Männer trugen taillierte Sakkos, und unter den T-Shirts der Mädels zeichneten sich die nackten Brüste ab. Sie sahen aus wie Agnès Le Roux.

Die junge Frau war im Herbst 1977 verschwunden. Eine Leiche wurde nie gefunden.

In Rennes stand ein alter Mann vor Gericht, wächserne Gesichtsfarbe und ein kräftiger weißer Backenbart, der fast das gesamte Gesicht überwucherte, die Anklage lautete auf Mord. Ich wartete nur auf den Moment, wo ich den Gerichtssaal betreten und das pulsierende Leben hinter mir lassen konnte, um mich ganz auf das zu konzentrieren, was sich dort abspielen würde, in dem engen und zugleich riesigen Sitzungssaal.

 

Das Verfahren gegen Maurice Agnelet ging in seine letzte Woche. Die Pressebänke, auf denen wir uns anfangs noch gedrängt hatten, hatten sich gelichtet. Wir waren nur noch eine Handvoll Personen, die sich für diesen Fall mit seinem speziellen Mittelmeerflair, der unberechenbaren Persönlichkeit des 76-jährigen Angeklagten, der sich zum dritten Mal vor Gericht verantworten musste, und für das mysteriöse Verschwinden seiner Geliebten interessierten, deren flehentliche Stimme auf einem alten Tonbandgerät – Klack und Pscht, wenn die Tasten heruntergedrückt wurden, waren deutlich zu hören – im Gerichtssaal erklang. Eine Stimme ihrer Zeit, stilecht, wie man bei einem Möbelstück sagen würde, mit Schlaghose, gestricktem Wollschal, Kajalstrich auf den Lidern, Berlioz auf den Zehn-Franc-Scheinen, Racine auf den Fünfzigern und Corneille auf den Hundertern.

Ich würde mich zu der verbliebenen Gruppe der Gerichtsreporter gesellen. Ich wusste, dass einer von ihnen wie an jedem Verhandlungstag früh in den Saal käme, ganz außen in der ersten Reihe Platz nehmen und seinen Spiralblock mit kariertem Papier zücken würde, um sich Notizen zu machen, er würde oben links das Datum und die Uhrzeit, auf die Minute genau, des Beginns der Verhandlung eintragen. Für nichts auf der Welt würde er diesen Moment missen wollen, diese Zwischenzeit, bevor die Anwälte in ihre Roben schlüpften, die Protokollführerin ihre Akten auf den Schreibtisch legte und man sich zu beiden Seiten der Gerichtsschranke vorbereitete, bisweilen auch Scherze machte, bevor der Gong das Eintreten der Richter ankündigte und jeden in seine Rolle zwang.

 

Gerade hatte er mir eine Nachricht geschickt, ich solle ganz schnell kommen.

 

Ich sehe wieder die gebannten Gesichter vor mir, die mich beim Betreten des Gerichtssaals erwarteten. Der Vorsitzende Richter des Geschworenengerichts, Philippe Dary, hatte soeben verkündet, dass der ältere Sohn des Angeklagten, Guillaume Agnelet, am gestrigen Tag den Staatsanwalt seines Wohnorts Chambéry (Savoyen) aufgesucht habe, um eine Zeugenaussage zu machen. Den Blick auf die beiden Blätter geheftet, die vor ihm auf dem Pult lagen, las der Vorsitzende Folgendes vor:

»Ich bin gekommen, um Sie über eine Gewissensentscheidung im Prozess meines Vaters in Kenntnis zu setzen. Ich bin davon überzeugt, dass er Agnès Le Roux ermordet hat. Zu dieser Schlussfolgerung bin ich infolge von Enthüllungen gelangt, die mir vonseiten meines Vaters wie vonseiten meiner Mutter gemacht worden waren.«

Es folgte die minutiöse Beschreibung dreier schrecklicher Momente.

Dann die Worte: »Mein heutiger Schritt kostet mich sehr viel Überwindung. Ich weiß, dass meine Aussage den Bruch mit meiner Familie besiegeln wird, genauer gesagt mit meiner Mutter und meinem Bruder. Auch fürchte ich mich vor der Reaktion meines Vaters, der womöglich auf die eine oder andere Weise versuchen wird, Rache zu nehmen. Ich bin bereit, in den kommenden Tagen im Geschworenengericht von Rennes persönlich auszusagen.«

 

Was folgte, war ein einziger Knall. Eine Familie und ihre Geheimnisse zerbarsten live vor den Augen der Öffentlichkeit. Wir in den hinteren Reihen der Zuschauerbänke warteten nun darauf zu sehen, was die Explosion anrichten würde. An diesem Tag habe ich in den Abgrund geschaut. Kalter Schweiß, eine unmenschliche Erschütterung, ein nicht enden wollendes Beben.

Vier Tage später verurteilte das Geschworenengericht von Ille-et-Vilaine Maurice Agnelet wegen Mordes zu zwanzig Jahren Freiheitsstrafe. Siebenunddreißig Jahre nach dem Verschwinden der jungen Frau erlebte der Fall Le Roux seinen juristischen Epilog. Eine andere Geschichte hatte alles ins Wanken gebracht. Sie hatte sich nebenbei abgespielt, fast ebenso lange angedauert, und wir hatten nichts davon mitbekommen, nichts geahnt.

Der Sohn, der seinen Vater beschuldigte, war mir nicht unbekannt. Ich hatte erlebt, wie er an der Seite seines Vaters gekämpft hatte, um dessen Unschuld zu beweisen. Ich wollte verstehen. Ich kannte die Bühne ohne die Kulissen. Das Licht ohne den Schatten. Den Augenblick ohne den Zeitverlauf.

Ich schrieb Guillaume Agnelet einen langen Brief. Er antwortete.

 

Als ich ihn das erste Mal auf einem Bahnsteig wiedersah, erkannte ich auf den ersten Blick, dass er ebensolche Angst hatte wie ich. Wir genossen nicht länger den Schutz der Gerichtsmauern, die Rolle, die sie jedem von uns zuwiesen. Er, Sohn des Angeklagten, Zeuge, der vor Gericht die Fragen des Vorsitzenden, des Generalstaatsanwalts und der Anwälte beantwortete. Ich, Journalistin, stumm, die zwischen anderen saß, auf einer Bank in seinem Rücken. Der Ort wirkte plötzlich zu groß, zu hell. Es gab keine Gerichtsdienerin mehr, nicht die undurchdringliche Stille, die eine Verhandlung begleitet, auch nicht die Umgebung aus Stein und altem Holz, nicht das Gefühl einer Tragödie, bedrückend und erhebend zugleich. Es gab nur einen Bahnhof voller Menschen, die es eilig hatten. Und mittendrin Guillaume Agnelet, einen Rucksack auf dem Rücken, der mir die Hand hinstreckte.

Weitere Treffen sollten folgen. Jedes Mal spürte ich dieselbe unverminderte Spannung, mich den Abgründen zu nähern, die er durchlebt hatte. Gemeinsam mit ihm die Jahre zurückzugehen, dann die Tage und schließlich die Stunden vor seiner Aussage.