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So schnell es ihm möglich war, eilte Barrus die von Moos überwucherte Treppe hinter dem Städtischen Klinikum hinab. Er solle sich beeilen und den Hintereingang nehmen,
hatte die Anweisung von Bremer gelautet. Und das sah dem Doktor ähnlich, ging es Barrus gerade in dem Moment durch den Kopf, da er das dritte Mal
auf dem glitschigen Untergrund wegrutschte. Die Folge dieses verunglückten Spagats waren beißende Schmerzen an den Innenseiten der Oberschenkel.
Und das war längst nicht der einzige Umstand an diesem frühmorgendlichen Ausflug, der ihn nervte. Nein, auch der Pfad bis zu dieser
Treppe, die wahrscheinlich seit ungefähr dreißig oder vierzig Jahren nicht mehr benutzt worden war, verdiente das Adjektiv abenteuerlich. Wenn man überhaupt von Pfad sprechen konnte, denn Dschungel traf es besser. Als er sich
hindurchgekämpft hatte, die Sonne war noch längst nicht aufgegangen, waren Barrus ein paar Zeilen von Brecht eingefallen, die
er neulich gelesen hatte und die seine gegenwärtige Stimmung zutreffend beschrieben.
Gegen Morgen in der grauen Frühe pissen die Tannen,
Und ihr Ungeziefer, die Vögel, fängt an zu schreien.
Mit einem letzten Blick auf seine vollkommen eingesauten Schuhe stieß Barrus die Tür zum Gerichtsmedizinischen Institut auf. Keine dreißig Sekunden später stand er in Bremers Büro.
Der Arzt erstarrte bei Barrus’ Anblick. Er öffnete einen Schrank und warf Barrus ein paar dunkelgrüne Plastiküberzieher vor die Füße, wie man sie in Operationssälen über die Schuhe zog. »Damit Sie keine Spuren hinterlassen«, lautete die ebenso knappe wie eindeutige Erklärung.
»Doktor«, ächzte Barrus, »das ist schon eine harte Nummer, mich mitten in der Nacht über den Marienberg zu schicken. Ich hoffe, Sie haben dafür mehr als triftige Gründe.«
»Habe ich«, murmelte Bremer und zog seine Taschenuhr hervor. »Und um zu verhindern, dass er mich wirklich umbringt, sollten wir uns beeilen.«
»Sagen Sie mir, wer Sie umbringen will und warum? Ich könnte ihm zur Hand gehen.«
»Kommen Sie«, bat Bremer und schob Barrus aus dem Zimmer. »Das erkläre ich Ihnen unterwegs.«
Auf dem Flur des Instituts herrschte zu dieser frühen Stunde absolute Ruhe. Wer sollte hier auch herumkrakeelen? Und nach der
Krankenschwester riefen diejenigen, die man zu Bremer brachte, in den
seltensten Fällen.
»Ist sonst niemand da?«, fragte Barrus.
»Nein. Mein Assistenzarzt ist vor einer halben Stunde gegangen und meinen
Gehilfen habe ich zum Frühstück in die Kantine geschickt.«
Barrus drückte seine Hand gegen den Bauch und verzog das Gesicht. »Frühstück, welch ein Wohlklang.« Das hätte er jetzt gerne gehabt. Schließlich war es sechs Uhr am Morgen, und außer einem Schluck kaltem Resttee vom Vorabend hatte sein Magen heute noch nichts
gesehen. Ein Jammer. »Ich habe Hunger, Doktor. Können wir nicht schnell in die Kantine …«
»Nein«, unterbrach der jüngere Mediziner, der kaum vierzigjährig noch fitter war als Barrus. Deshalb konnte der sich gegen den Griff und das
Gezerre von Bremer nicht zur Wehr setzen. »Dafür«, erklärte Bremer bestimmt, »haben wir jetzt keine Zeit. Ihre Kollegen erscheinen in genau zwanzig Minuten,
und wenn die Sie hier zu Gesicht bekommen, dann bringt mich Hauptkommissar
Feller wirklich um. Mit bloßen Händen, hat er mir angekündigt.«
Abrupt blieb Barrus stehen. Sofort rutschte der Ärmel seines Sakkos, an dem Bremer ihn bislang hinter sich hergezogen hatte, dem
Arzt aus der Hand.
»Bremer, nun machen Sie aber mal ‘n Punkt«, ereiferte sich Barrus. »Sie wollen mir doch nicht erklären, dass Sie mich um halb sechs, also mitten in der Nacht, anrufen, mich
hierherbestellen, über einen Pfad stolpern lassen, der nichts weiter ist als kniehohes Sumpfgelände, um mir am Ende meiner Odyssee mit profaner Polizeiarbeit zu kommen? Ich bin
seit über einem Jahr pensioniert. Hat man Ihnen das nicht gesagt? Deshalb will mich
keiner dabeihaben. Das war also von Manfred Feller sehr ernst gemeint.«
Unbeeindruckt ergriff Bremer erneut den Ärmel seines Gastes und zog ihn wieder hinter sich her. »Man hat mir natürlich mitgeteilt, dass Sie in Pension sind. Keine Sorge. Aber das interessiert
mich momentan nicht. Ich habe Feller gefragt, warum ausgerechnet Sie nichts von
der Leiche, die man mir heute Nacht gebracht hat, wissen dürfen. Er geht davon aus, dass Sie ein gesteigertes Interesse an dem plötzlichen Ableben des jungen Mannes haben könnten. Und er will wohl verhindern, dass ihm bei den polizeilichen Ermittlungen
jemand in die Quere kommt.«
»Wer ist der Tote denn?«, fragte Barrus ein wenig außer Atem.
»Ein gewisser Markus Weiß. Pfleger in der neuen Imhotep-Klinik.«
Erneut blieb Barrus wie angewurzelt stehen. »Was sagen Sie da? Markus Weiß ist ermordet worden?«
Im großen Sektionssaal postierte Bremer seinen Besucher auf der linken Seite des
einzigen belegten Tisches. Er selbst stellte sich ihm gegenüber und zog das weiße Laken von der Leiche.
»Wenn ich vorstellen darf: Markus Weiß – Jo Barrus, Jo Barrus – Markus Weiß.«
Sofort und wie nicht anders zu erwarten, regte sich Barrus’ Gedärm. Jede Zelle seines Inneren schien mit brachialer Gewalt an die Oberfläche zu streben, weshalb Barrus umgehend froh darüber war, doch noch nicht gefrühstückt zu haben.
»Was ist mit seinen Beinen?«, fragte er beim Anblick der blau-grünen Masse, an deren Stelle bei anderen Menschen unterhalb der Hüfte Gliedmaßen angesiedelt waren.
Bremer nahm den linken Unterschenkel des Toten hoch und winkelte ihn in der
Mitte nach außen ab, als säße hier ein Gelenk. »Sie müssen wie die Tiere auf ihn losgegangen sein. Ich nehme an, mit einer schweren
Brechstange. Die Unterschenkel sind mehrfach gebrochen. Er muss unsagbare
Schmerzen gehabt haben.«
»Wo hat man ihn gefunden?«, fragte Barrus bemüht, sich von dem Anblick der Leiche abzulenken.
»In einem alten Kloster. Ich kenne mich zwar in der Stadt noch nicht so aus, aber
es soll eine Ruine im Zentrum sein.«
»Johanniskirche oder Paulikloster?«, fragte Barrus.
»Drei Obdachlose haben ihn gefunden, als sie in ihr Domizil zurückkehrten.«
Barrus hatte sofort die drei passenden Gesichter vor Augen. Und im Kopf bereits
seinen nächsten Termin. »Dann ist es das Paulikloster. Das kann nur der Abt mit seinen Mannen sein.«
»Der wer?«
»Man nennt ihn den Abt. Er spricht wie ein mittelalterlicher Klostervorsteher,
als wäre er ein Sprössling des niederen märkischen Adels.«
»Na, jedenfalls haben die Weiß gefunden, mausetot allerdings.«
Zu seinem Leidwesen musste Barrus wieder einen Blick auf Markus Weiß werfen. »Ist er an diesen Verletzungen gestorben? Ein Schock vielleicht?«
Bremer schüttelte den Kopf. »Nein. Da war jemand viel filigraner, als man das angesichts der brutalen Schläge auf die Beine vermuten würde. Und dieser Jemand ist kein Obdachloser, der sich höchstens mit Schnaps und Zigaretten auskennt.«
»Der Abt tötet niemanden«, verteidigte Barrus den Penner, mit dem er in den letzten Jahren seiner
polizeilichen Laufbahn des Öfteren zu tun gehabt hatte. »Nicht mal eine Fliege. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«
»Ich wollte die drei Herren auch gar nicht beschuldigen. Ich wollte vielmehr
darauf hinweisen, dass der Mörder Kenntnisse von gewissen Dingen haben muss.«
»Nämlich?«
»Gift.«
»Also ist der Mörder eine Mörderin.«
Bremer drehte den Kopf hin und her, was für seine Zweifel stand. »Das würde ich so nicht stehen lassen wollen«, sagte er. »Der Mörder hat nämlich ein spezielles Gift verwendet. Ein sehr schnell wirkendes und eines, von
dessen Existenz die meisten Menschen in unseren Breiten gar keine Ahnung haben.«
Barrus sah Bremer an. »Ich höre.«
»Das Gift der Medusa«, erklärte der Arzt und bückte sich zu seinem Köfferchen, das neben dem Obduktionstisch auf den Fliesen stand. Als er wieder
hochkam, hatte er die silbrige Flasche in der Hand, die mittlerweile zum
Markenzeichen des Gerichtsmediziners geworden war und an deren Anblick sich
jedermann gewöhnt zu haben schien. »Auch ’nen Schluck?«, fragte er.
Barrus griff sofort zu. »Was ist drin?«
Wie ein unschuldiges Kind zog Bremer die Schultern hoch. »Na, was schon? Rum.«
»Wie viel Prozent?«
»Sechzig.«
Barrus trank, kniff kurz die Augen zusammen und reichte den Flachmann zurück. »Was ist eine Medusa, Doktor?«
»Es gibt zwei Varianten«, erklärte Bremer, als er getrunken und seine Flasche wieder verstaut hatte. »Eine große, hässliche und eine kleine, durchsichtige. Bei der ersten Spielart handelt es sich
um eine Figur aus der griechischen Mythologie.« Bremer nahm ein Lexikon von dem Tisch, auf dem all seine Instrumente lagen, und
schlug das Buch ziemlich genau in der Mitte auf. »Medusa ist, wie ihre Schwestern, Stheno und Euryale, eine der drei Gorgonen und
eine Tochter der Meeresgötter Keto und Phorkys. Medusa war nicht nur die einzige sterbliche Gorgone,
sondern ursprünglich auch die schönste, was ihr schließlich zum Verhängnis wurde. Die zornige Göttin Athene erwischte sie nämlich beim Liebesspiel mit Poseidon und verwandelte die betörende Schönheit zur Strafe in ein Ungeheuer mit Schlangenhaaren, Schuppenhaut und glühenden Augen, die jeden versteinerten, der sie erblickte.«
»Doktor!« Barrus verzog das Gesicht. »Das mag ja alles ganz interessant sein, ich dachte nur, wir haben keine Zeit.«
»Haben wir auch nicht«, bestätigte Bremer. »Aber ich hielt diese Vorbemerkung für wichtig. Warten Sie ab, denn Variante eins und Variante zwei haben eine nicht
von der Hand zu weisende Parallele.«
»Da bin ich ja gespannt.«
»Bei der zweiten Variante handelt es sich um ein Unterwassertier, eigentlich ein
Tierchen, genauer eine Würfelqualle. So genannt nach der Form ihres Schirms. Den nennt man übrigens Meduse oder Medusa, weshalb die Wissenschaftler diesen Namen als
Bezeichnung für die gesamte Gattung gewählt haben. Der Schirm der Würfelqualle ist nicht sehr groß, lediglich ihre Tentakel sind recht lang.« Bremer streckte Barrus die rechte Hand entgegen. »Würde bequem hier reinpassen.«
Bremer legte das Lexikon wieder weg. Für das, was nun kommen würde, brauchte er als Gerichtsmediziner kein Nachschlagewerk. »Würfelquallen gehören zur Klasse der Nesseltiere. Sie werden häufig in flachen Gewässern tropischer und subtropischer Meere angetroffen. Ich habe vor ein paar
Jahren mal während einer Rucksacktour an der australischen Küste versucht, ein Kind zu retten, das beim Baden in die Tentakel einer Würfelqualle geschwommen war. Vergebens. Der kleine Nicki war nur sechs Minuten
nach der Berührung mit der Qualle tot und musste bis dahin Höllenqualen erleiden. Das Gift der Würfelqualle zählt nämlich zu den stärksten im Tierreich überhaupt. Das der Kobra geht dagegen eher als Softdrink durch. Die Giftmenge
einer einzigen Qualle könnte über einhundert Menschen töten.«
»Und wie tötet das Gift genau?«, versuchte Barrus zu beschleunigen, zum einen wegen des nahenden Manfred
Feller, zum anderen wegen seines Magens, der weiterhin keine Ruhe geben wollte.
»Sie meinen die Wirkung? Es kommt sofort zu einer heftigen Schmerzreaktion. Etwa
so, als habe Ihre Frau versehentlich das heiße Bügeleisen auf Ihren nackten Oberschenkel gestellt. Nach der Bildung von Ödemen folgt umgehend die Nekrose des betroffenen Hautgewebes, und dann tritt
schon der Tod ein. Das Gift wirkt insbesondere auf die Muskeln ein, also auch
auf das Herz. Es muss dazu aber erst in die Blutgefäße gelangen. Und von dort aus durchlöchern die Proteine des Giftes die Zellmembran.«
»Wie kann ich mir das als Laie in der Praxis vorstellen?«
»Die Muskeln verkrampfen, das Opfer windet sich wie ein Epileptiker. Gleichzeitig
leidet es unter der Vorstellung, bretthart zu werden. Schließlich kommt es zu Atemstillstand und Herzversagen.«
»Man wird also versteinert, wie beim Anblick der griechischen Medusa?«
»Richtig. Das ist die erwähnte Parallele.«
»Und wo hat die Qualle unseren Freund hier getroffen?«
Bremer drehte den Kopf des toten Markus Weiß zur Seite. »Am Hals. Man hat ihm mit einer Spritze eine enorme Giftmenge direkt in die
Blutbahn gepumpt. Wahrscheinlich hat er nicht einmal so lange gebraucht wie der
kleine Nicki.«
»Und wie komme ich in Deutschland an dieses Gift, Doktor?«
»Das dürfte nicht so einfach sein. Einige Kliniken forschen daran. Aber die geben es
natürlich nicht in den freien Verkauf. Warum auch?«
»Gibt es eine solche Klinik hier in der Nähe?«
Bremer lächelte breit. »Da haben Sie verdammtes Glück«, antwortete er und tätschelte dem Toten die Schulter. »Die Klinik, in der unser Freund gearbeitet hat. Dort forscht man auch an der Würfelqualle.«
»Die Imhotep-Klinik?«
Bremer nickte. »Ja. Soviel ich weiß, wollen sie ein Gegengift entwickeln.«
Barrus strich sich übers Kinn. Damit hatte er heute also zwei Termine. Einen beim Abt im
Paulikloster und einen bei Eva Mahler, der Oberärztin jener Klinik, an der man sich mit dem Gift der Würfelqualle beschäftigte. Das konnte kein Zufall sein.
»Und was mache ich mit den grünen Dingern hier?«, fragte er Bremer, während seine Augen auf die Plastiküberzieher an seinen Füßen gerichtet waren.
»Können Sie mitnehmen«, antwortete Bremer. »Ist ein Geschenk des Hauses.«