Jean Wiersch


Havelgift





Brandenburg-Krimi







Prolibris Verlag





Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Auch die Figuren entstammen seiner Phantasie. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.




Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2017
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29

Titelfoto von Wendelin Jacober
Beelitz, creativecommons
flickr.com/photos/wendelinjacober/33382299761/in/datetaken/
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/
Bildausschnitt aus einem Querformat
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-158-7
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-148-8

www.prolibris-verlag.de

Prolog

Februar 1951

Später werden die Erwachsenen fragen, wie es ihnen ergangen sei an diesem frostigen Wintertag, und Berni wird stets sagen: »Na, wie schon, gut eben.« Wie man sich halt fühlt, wenn man ein märkisches Kindlein ist, und keines aus einer großen vornehmen Stadt. Klirrende Kälte oder sengende Hitze, man nimmt es, wie es kommt. Hier in der Mark Brandenburg ist man bodenständig, wie Vater und Großvater es waren. Man verspürte nicht einmal den Drang, ins Nachbardorf zu fahren. Was sollte man da auch? Und in eine andere Gegend, vielleicht in ein fernes Land, musste man schon gleich gar nicht.
Und die Kindlein? Sie hatten auf dem Hof alles, was sie brauchten. Wirklich alles. Sie hatten sogar Schnee in diesem Winter, viel Schnee, eiskalten Schnee. Die Erwachsenen sprachen gar von einer Katastrophe: Der ganze Schnee, wo soll man damit nur hin?
Aber die Kindlein störten sich daran nicht. Sie waren begeistert von der weißen Pracht. Kam der Schnee, dann war es nicht mehr weit bis zu dem einfach nur wunderbaren Schlachtefest.
Darauf freuten sich die Kindlein schon lange. Würden doch zu diesem Fest viele Verwandte anreisen, mit all ihren warmen Umarmungen und vielleicht sogar mit Geschenken. Die Vorfreude war fast so groß wie an Weihnachten.
Und weil es in wenigen Minuten losgehen würde, hatten sich die Kindlein klammheimlich aus dem Haus geschlichen. Sie wollten sich, auch wenn es eigentlich verboten war, in der Scheune umtun. Die war der Abenteuerspielplatz schlechthin auf einem Bauernhof. Eine riesige Dreschmaschine stand darin und eine alte Kutsche, an der Wand lehnten unzählige Holzmollen. Und über den lehmigen Scheunenboden hatte der Großvater Bleche gebreitet, damit das Gemisch aus Blut und warmem Wasser den Lehmboden der Tenne nicht in eine Schlammwüste verwandelte.
Beim Schlachten hätten die Kinder nichts zu suchen, sagte die Großmutter immer. Deshalb war es ihnen streng verboten, an diesem Tag die Scheune zu betreten. Und die Kindlein wussten, dass es mehr als Schelte geben würde, ließe sich eines von ihnen vom Großvater erwischen oder von einem der anderen Männer, die extra zum Schlachten gekommen waren.
Aber die Verlockung des Verbotenen versprühte jenen unwiderstehlichen Reiz, dem sich niemand entziehen kann. Auch kleine Kinder nicht. Und so waren ihre Ohren gespitzt wie die einer Maus in Großmutters Vorratskammer.
Kaum hatten sie das Scheunentor hinter sich zugezogen, drangen vom Hof her die ersten Stimmen zu ihnen hinein. Männer kamen aus dem Haus und stapften durch den Gang, den der Großvater schon am gestrigen Abend in den hüfthohen Schnee geschoben hatte. Es knirschte unter ihren schweren Stiefeln. Und aus der Richtung ihrer Schritte folgerten die Kindlein, dass die Männer zum Schweinestall unterwegs waren. Dort würden sie der Sau eine Schlinge um einen Hinterlauf legen, um sie dann gemächlich zur Scheune zu führen. Ganz ohne Stress. So wie es der Großvater eingefordert hatte, denn sonst schmecke das Fleisch nicht.
Schnell kletterten die Kindlein auf die Leiter zum Heu– und von dort noch höher in den Strohboden, wo sie sich hinter einem riesigen Ballen versteckten. Und das war allerhöchste Zeit, weil in diesem Augenblick auch schon einer der Männer das Scheunentor aufzog. Die Spannung stieg, war kaum mehr auszuhalten. Gleich würden sie die Sau hereinführen, sie mit dem anderen Ende der Schlinge an einem eigens dafür in die Zwischenwand geschlagenen Haken festbinden. Und dann? Dann würde einer der Männer das Bolzenschussgerät ansetzen. Mittig auf der Stirn der nichts ahnenden Sau. Und genau das sollte nach dem Willen der Großmutter vor den Kinderaugen verborgen bleiben. Denn töten, so meinten fast alle, war nichts für Kinder. Töten war ein Akt der Erwachsenen.
Die Anspannung der Kindlein wuchs ins Unermessliche. Es krabbelte in jedem Zentimeter ihres Körpers. Sie rückten ein wenig vom Strohballen ab, nur so weit, dass man sie von unten her, von der Tenne, nicht sehen konnte. Dann trat auch schon der erste der Männer durch das Tor. Es war der alte Karl, ein Nachbar. Der wohnte in der weißen Bauernkate am Ende der Straße. Ein Haus, dem Stürme und Fröste über die Jahre ordentlich zugesetzt hatten. Jeder neue Orkan drohte Karls Dach zu ergreifen und es fortzutragen, samt der langsam verrottenden Holzmöbel, die noch älter waren als Karl selbst.
Der nächste Mann, den die Kindlein ausmachten, gehörte nicht zum Dorf. Er war womöglich der Schlachter. Sein Fleischerhemd war bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt. Und er war der, der das Seil in der Hand hielt.
Die beiden Kindlein richteten sich auf, denn mehr als die Oberkörper der Männer konnten sie nicht erkennen. Aber auch das reichte noch nicht, um den dritten Mann auszumachen. Die Kindlein mussten, wollten sie alles überblicken, so weit nach vorn rutschen, dass die zierlichen Finger fast den Rand des Strohbodens berührten. Beide atmeten im selben Rhythmus, ganz flach. Sie durften sich auf gar keinen Fall den Männern verraten.
Doch dann spürten sie plötzlich den Blick des Schlachters. Die Augen des Mannes schienen jeden Meter der Scheune abzusuchen. Die Kindlein hielten vor Schreck den Atem an und drückten sich ganz flach auf die Dielen des Strohbodens. Instinktiv schoben sie sich wie Indianer wieder hinter den Strohballen zurück, wo sie die dicken Norwegerpullover gegen die Münder pressten und die sauerstoffarme Luft aus ihren Backen in die engen Wollmaschen bliesen.
Aber die Männer kamen nicht die Leiter herauf. Die Kindlein waren unentdeckt geblieben.
Unten in der Tenne hatten sie mittlerweile die Sau festgebunden. Doch die war nicht so entspannt, wie es der Großvater gewünscht hatte. Das entnahmen die Kindlein den Geräuschen, die von unten hochdrangen. Die schweren Stiefel der Männer rutschten über die ausgelegten Bleche, die Sau musste sich mit all ihrer Kraft zur Wehr setzen. Zu gerne hätten sich die Kindlein wieder bis an den Rand des Strohbodens vorgetastet, aber es mangelte am nötigen Mut.
»Karl«, rief einer der Männer plötzlich. »Nimm den Schwanz da weg.«
Noch nie hatten die Kindlein dem ersten Akt eines Schlachtefestes beiwohnen dürfen. Was dabei passierte, wussten sie aus den Erzählungen des Großvaters und der anderen Männer. Sie kannten all die Handlungen des Schlachtens nur ab dem Zeitpunkt, an dem die Sau schon über der Tenne hing und die Männer den ersten Schnaps in ihre Kehlen gossen. Dann hatten die Kindlein immer den Ringelschwanz in die Hände gedrückt bekommen, den sie anschließend mit einer Sicherheitsnadel an den hinteren Teil von Großmutters Schürze zu hängen versuchten. Warum aber sollte Karl jetzt schon den Schwanz wegnehmen? Das kam doch erst viel, viel später, überlegten die Kindlein. Außerdem fehlten auch noch die Großmutter und die Nachbarinnen, die für das Blutrühren zuständig waren.
Die Kindlein atmeten tief, aber geräuschlos ein, drehten sich wieder auf den Bauch und schoben sich nun doch wieder Millimeter um Millimeter zum Rand des Strohbodens vor.
Noch bevor die Augen auf die Tenne hinunterschauen konnten, nahmen die Ohren der Kindlein eigenartige Geräusche wahr. Stöhnen, Wortfetzen, Seufzer, Stiefelscharren auf Blech. Es kam ihnen vor, als säßen sie inmitten eines Gewitters.
»Hier, nimm den Schwanz, du Sau!«, forderte der Schlachter. »Nimm ihn ganz.«
Warum, fragten sich die Kindlein, soll die Sau jetzt den eigenen Schwanz nehmen? Und womit sollte das Tier das tun? Ein Schwein hat doch keine Finger.
Die Kindlein mussten unbedingt den Rand des Strohbodens erreichen. Was war da unten los? Was machten die Männer mit der Sau?
Dann schoben sich die Köpfchen endlich bis über die letzte Diele. Nun war der Blick frei auf die Männer … Es war nicht die Sau, die bei ihnen war. Was sie dort unten sahen, war unbegreiflich. Dieser Anblick ließ die Zunge des Jungen, der krampfhaft die Hand der Schwester hielt, für lange Zeit erstarren. Kein Wort würde er über die kleinen Lippen bringen. Der ganze Körper würde sich fortan in dichten Nebel hüllen.
Kindlein mein, schlaf nur ein, weil die Sternlein kommen …
9

Es gibt Orte auf dieser Welt, von denen Absonderliches ausgeht. Orte, die der Hort markerschütternder Schreie sind. Orte, an denen übellaunige Gespenster umgehen, Orte, die man nicht aufsucht, jedenfalls nicht freiwillig, und auf keinen Fall in der Nacht.
Es sei denn, man ist obdachlos, man benötigt einen trockenen, windgeschützten Schlafplatz und man ernährt sich von dem übelsten Fusel, den nicht einmal Gespenster anrühren. Nur dann kann man solche Orte aufsuchen.
Und ein solcher Ort ist die Ruine des ehemaligen Dominikanerklosters St. Pauli. Im Mittelalter noch am Stadtrand gelegen, wofür die Bruchstücke der alten Stadtmauer sprechen, befindet sich der alte Ordenscampus heute im Zentrum der gewachsenen Stadt Brandenburg. Die Anlage ist nicht mehr, wie dazumal von den Mönchen gewünscht, vom städtischen Treiben abgeschieden, sondern ist eingeatmet worden, vom geschäftigen Leben umspült, das aber an den Mauern der Ruine von St. Pauli haltmacht. Und auch wenn die verfallene Kirche schon seit Jahrzehnten kein Dach mehr besaß, gibt es im Inneren doch verschiedene Nischen, die trocken sind und sogar ein wärmendes Feuerchen erlauben.
Und dort lebten neben Hunderten Fledermäusen die drei Stadtpenner Karl-Heinz, Hubert und Willi. Kalle, wie Karl-Heinz der Einfachheit halber genannt wurde, oder auch – in Anspielung auf ihr Quartier – der Abt, war der Chef. Und nun, da es angefangen hatte zu regnen, strebten sie auf ihrem Weg vom Bahnhof über den Temnitz dem Paulikloster entgegen, wobei der Abt seine beiden Kollegen alle paar Meter zur Eile antrieb.
»Kalle, warum müssen wa überhaupt so rennen? Dett legt sich uff mein Herz, legt sich dett. Und denn jeht dett jute Teil wieder kaputt«, beschwerte sich Willi, der seinen letzten Herzinfarkt noch in grausiger Erinnerung hatte.
»Meine Herren, wir werden sonst nass«, entgegnete der Abt, ohne seine beiden Kollegen auch nur eines Blickes zu würdigen.
»Meine Herren, meine Herren … wenn ick dett schon höre«, gab Hubert jetzt seinen Senf dazu. »Du sprichst immer wie ’n feiner Pinkel, wa.«
»Das hat wenig mit den feinen Leuten zu tun, Herr Hubert. Es ist vielmehr der verbliebene Rest von Stolz, meine Herren, von Stolz, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Nee, wees ick nich, will ick och nich wissen.«
»Sollten Sie aber, Herr Hubert, denn Stolz ist wichtig, gerade für unsereinen.«
»Und warum is dett wichtig?«, wollte Willi nun wissen, der mittlerweile zum Abt aufgeschlossen hatte.
»Damit wir nicht untergehen, Herr Willi.«
»Wir?«, lachte Willi los. »Damit wir nich unterjehn?«
»Ja, wir. Sie, Herr Hubert und ich.«
»Aber wir sind doch schon unterjejangen, schon lange. Stimmts, Hubert?«
Hubert nickte.
»Sind wir nicht«, korrigierte der Abt. »Ganz sicher nicht. Sie haben uns zwar alles genommen, die Frau, die Kinder, das Haus, alles was sie greifen konnten. Aber eines haben sie nicht bekommen, nämlich unseren Stolz. Erst wenn wir den verlieren, gehen wir unter. Verstehen Sie das? Und wenn wir die Sprache hochhalten, das Einzige, was sie uns nicht nehmen oder verbieten können, können wir noch immer mit erhobenem Kopf durch die Stadt laufen.«
»Hast du dett verstanden, Hubert?«, fragte Willi seinen Nebenmann.
»Nö.«
»Ick och nich. Aber der Abt wird sicher Recht haben. Ick für mein Teil will jetzt eijentlich nur nach Hause, inne warme Stube und ’nen Schluck aus de Pulle nehm. Denn wird dett schon wieder mit die lausije Kälte.«
Nach ein paar weiteren Metern, die die drei wortlos zurückgelegt hatten, blieb Kalle plötzlich stehen und breitete seine Arme aus, um seine beiden Kollegen zurückzuhalten. »Psst«, machte der Abt, der wie versteinert dastand und auf die Umrisse des Pauliklosters starrte, die sich deutlich gegen den klaren Sternenhimmel abzeichneten.
»Watt is ’n?«, fragte Willi.
»Psst«, machte der Abt wieder, und drängte die anderen beiden in den nächsten Torbogen. »Da sind Leute in unserem Zuhause.«
»Watt?«, hakte Willi nach und schob sich am Abt vorbei. »Lass mir mal kieken. Ick war in Kriech bei die Fallschirmjäger und hab desdawegen Ahnung von dett Ausspähen.«
Der Abt ließ Willi gewähren und drückte sich derweil mit Hubert gegen die Wand des Torbogens. »Können Sie etwas erkennen, Herr Willi?«
Der Krieg lag nun schon fünfzig Jahre zurück, und Willis Augen brauchten inzwischen ein Weilchen, bis sie sich scharfstellen ließen. Woran das genau lag? Der ehemalige Fallschirmjäger vermutete dahinter einen von nur zwei möglichen Gründen: zu wenig oder zu viel Schnaps.
»Herr Willi, was ist nun?«, drängelte der Abt.
»Ja doch … Een Auto kann ick sehen. Sieht aus wie ’n Lieferwagen. Der steht jenau vor dett Kloster neben den Sandhaufen.«
»Können Sie das Kennzeichen erkennen, Herr Willi?«
»Nee, dett is zu duster hier. Aber wartet mal. Da komm jetzt zwee Jestalten aus dett Kloster.« Dann machte Willi eine Pause, während er weiter das Paulikloster im Auge behielt. »Ick wer verrückt«, stieß er hervor. »Dett globt mir ja keene Sau.«
»Watt siehst ‘n, Willi? Lass mir och mal kieken«, sprach Hubert und legte den Kopf auf Willis Schulter. »Donnerlittchen. Is ja wie in Film, wa.«
»Was ist wie im Film, meine Herren?«, fragte nun auch der Abt und legte seinen Kopf auf Willis noch freie Schulter.
»Na ditt da«, kam es von dem ehemaligen Fallschirmjäger, der sich mittlerweile auf die volle Sehschärfe seiner Augen verlassen konnte. »Ob ditt Jespenster sind?«
»Watt?«
»Na die beeden da, die Jestalten. Sehn aus wie Jespenster von die Mönche, die hier früher jehaust ham.«
»Es gibt keine Gespenster, Herr Willi. Aber die beiden sehen wirklich aus wie Mönche.«
Hubert zog sich in den Torbogen zurück. Er hatte genug gesehen, und Panik stieg in ihm auf. »Ob die uns unser Zuhause wegnehm wolln?«, fragte er.
»Wer?«
»Na, die Mönche. Vielleicht komm die ja aus ’m Westen. Wie die, die mir mein Haus wegjenommen ham, die sojenannten Altbesitzer. Wenn dett och solche sind, denn kriejen die dett Kloster wieder, und wir haben keen Platz mehr, wo wir in Ruhe penn könn.«
»Nein«, versuchte der Abt zu beruhigen. »Das kann ich mir nicht vorstellen, meine Herren. Wenn es so wäre, wie Herr Hubert es sich gerade ausgedacht hat, dann kämen die nicht mitten in der Nacht, sondern am helllichten Tage. Wer weiß, was die beiden hier wollen? Und überhaupt, ob das wirklich Mönche sind?«
»Denn lass uns mal jehen«, forderte Willi, »und kieken, watt die bei uns drinne jemacht ham. Die Luft is nämlich rein. Die Jespenster sind jrade wegjefahren.«
10

So schnell es ihm möglich war, eilte Barrus die von Moos überwucherte Treppe hinter dem Städtischen Klinikum hinab. Er solle sich beeilen und den Hintereingang nehmen, hatte die Anweisung von Bremer gelautet. Und das sah dem Doktor ähnlich, ging es Barrus gerade in dem Moment durch den Kopf, da er das dritte Mal auf dem glitschigen Untergrund wegrutschte. Die Folge dieses verunglückten Spagats waren beißende Schmerzen an den Innenseiten der Oberschenkel.
Und das war längst nicht der einzige Umstand an diesem frühmorgendlichen Ausflug, der ihn nervte. Nein, auch der Pfad bis zu dieser Treppe, die wahrscheinlich seit ungefähr dreißig oder vierzig Jahren nicht mehr benutzt worden war, verdiente das Adjektiv abenteuerlich. Wenn man überhaupt von Pfad sprechen konnte, denn Dschungel traf es besser. Als er sich hindurchgekämpft hatte, die Sonne war noch längst nicht aufgegangen, waren Barrus ein paar Zeilen von Brecht eingefallen, die er neulich gelesen hatte und die seine gegenwärtige Stimmung zutreffend beschrieben.
Gegen Morgen in der grauen Frühe pissen die Tannen,
Und ihr Ungeziefer, die Vögel, fängt an zu schreien.
Mit einem letzten Blick auf seine vollkommen eingesauten Schuhe stieß Barrus die Tür zum Gerichtsmedizinischen Institut auf. Keine dreißig Sekunden später stand er in Bremers Büro.
Der Arzt erstarrte bei Barrus’ Anblick. Er öffnete einen Schrank und warf Barrus ein paar dunkelgrüne Plastiküberzieher vor die Füße, wie man sie in Operationssälen über die Schuhe zog. »Damit Sie keine Spuren hinterlassen«, lautete die ebenso knappe wie eindeutige Erklärung.
»Doktor«, ächzte Barrus, »das ist schon eine harte Nummer, mich mitten in der Nacht über den Marienberg zu schicken. Ich hoffe, Sie haben dafür mehr als triftige Gründe.«
»Habe ich«, murmelte Bremer und zog seine Taschenuhr hervor. »Und um zu verhindern, dass er mich wirklich umbringt, sollten wir uns beeilen.«
»Sagen Sie mir, wer Sie umbringen will und warum? Ich könnte ihm zur Hand gehen.«
»Kommen Sie«, bat Bremer und schob Barrus aus dem Zimmer. »Das erkläre ich Ihnen unterwegs.«
Auf dem Flur des Instituts herrschte zu dieser frühen Stunde absolute Ruhe. Wer sollte hier auch herumkrakeelen? Und nach der Krankenschwester riefen diejenigen, die man zu Bremer brachte, in den seltensten Fällen.
»Ist sonst niemand da?«, fragte Barrus.
»Nein. Mein Assistenzarzt ist vor einer halben Stunde gegangen und meinen Gehilfen habe ich zum Frühstück in die Kantine geschickt.«
Barrus drückte seine Hand gegen den Bauch und verzog das Gesicht. »Frühstück, welch ein Wohlklang.« Das hätte er jetzt gerne gehabt. Schließlich war es sechs Uhr am Morgen, und außer einem Schluck kaltem Resttee vom Vorabend hatte sein Magen heute noch nichts gesehen. Ein Jammer. »Ich habe Hunger, Doktor. Können wir nicht schnell in die Kantine …«
»Nein«, unterbrach der jüngere Mediziner, der kaum vierzigjährig noch fitter war als Barrus. Deshalb konnte der sich gegen den Griff und das Gezerre von Bremer nicht zur Wehr setzen. »Dafür«, erklärte Bremer bestimmt, »haben wir jetzt keine Zeit. Ihre Kollegen erscheinen in genau zwanzig Minuten, und wenn die Sie hier zu Gesicht bekommen, dann bringt mich Hauptkommissar Feller wirklich um. Mit bloßen Händen, hat er mir angekündigt.«
Abrupt blieb Barrus stehen. Sofort rutschte der Ärmel seines Sakkos, an dem Bremer ihn bislang hinter sich hergezogen hatte, dem Arzt aus der Hand.
»Bremer, nun machen Sie aber mal ‘n Punkt«, ereiferte sich Barrus. »Sie wollen mir doch nicht erklären, dass Sie mich um halb sechs, also mitten in der Nacht, anrufen, mich hierherbestellen, über einen Pfad stolpern lassen, der nichts weiter ist als kniehohes Sumpfgelände, um mir am Ende meiner Odyssee mit profaner Polizeiarbeit zu kommen? Ich bin seit über einem Jahr pensioniert. Hat man Ihnen das nicht gesagt? Deshalb will mich keiner dabeihaben. Das war also von Manfred Feller sehr ernst gemeint.«
Unbeeindruckt ergriff Bremer erneut den Ärmel seines Gastes und zog ihn wieder hinter sich her. »Man hat mir natürlich mitgeteilt, dass Sie in Pension sind. Keine Sorge. Aber das interessiert mich momentan nicht. Ich habe Feller gefragt, warum ausgerechnet Sie nichts von der Leiche, die man mir heute Nacht gebracht hat, wissen dürfen. Er geht davon aus, dass Sie ein gesteigertes Interesse an dem plötzlichen Ableben des jungen Mannes haben könnten. Und er will wohl verhindern, dass ihm bei den polizeilichen Ermittlungen jemand in die Quere kommt.«
»Wer ist der Tote denn?«, fragte Barrus ein wenig außer Atem.
»Ein gewisser Markus Weiß. Pfleger in der neuen Imhotep-Klinik.«
Erneut blieb Barrus wie angewurzelt stehen. »Was sagen Sie da? Markus Weiß ist ermordet worden?«

Im großen Sektionssaal postierte Bremer seinen Besucher auf der linken Seite des einzigen belegten Tisches. Er selbst stellte sich ihm gegenüber und zog das weiße Laken von der Leiche.
»Wenn ich vorstellen darf: Markus Weiß – Jo Barrus, Jo Barrus – Markus Weiß.«
Sofort und wie nicht anders zu erwarten, regte sich Barrus’ Gedärm. Jede Zelle seines Inneren schien mit brachialer Gewalt an die Oberfläche zu streben, weshalb Barrus umgehend froh darüber war, doch noch nicht gefrühstückt zu haben.
»Was ist mit seinen Beinen?«, fragte er beim Anblick der blau-grünen Masse, an deren Stelle bei anderen Menschen unterhalb der Hüfte Gliedmaßen angesiedelt waren.
Bremer nahm den linken Unterschenkel des Toten hoch und winkelte ihn in der Mitte nach außen ab, als säße hier ein Gelenk. »Sie müssen wie die Tiere auf ihn losgegangen sein. Ich nehme an, mit einer schweren Brechstange. Die Unterschenkel sind mehrfach gebrochen. Er muss unsagbare Schmerzen gehabt haben.«
»Wo hat man ihn gefunden?«, fragte Barrus bemüht, sich von dem Anblick der Leiche abzulenken.
»In einem alten Kloster. Ich kenne mich zwar in der Stadt noch nicht so aus, aber es soll eine Ruine im Zentrum sein.«
»Johanniskirche oder Paulikloster?«, fragte Barrus.
»Drei Obdachlose haben ihn gefunden, als sie in ihr Domizil zurückkehrten.«
Barrus hatte sofort die drei passenden Gesichter vor Augen. Und im Kopf bereits seinen nächsten Termin. »Dann ist es das Paulikloster. Das kann nur der Abt mit seinen Mannen sein.«
»Der wer?«
»Man nennt ihn den Abt. Er spricht wie ein mittelalterlicher Klostervorsteher, als wäre er ein Sprössling des niederen märkischen Adels.«
»Na, jedenfalls haben die Weiß gefunden, mausetot allerdings.«
Zu seinem Leidwesen musste Barrus wieder einen Blick auf Markus Weiß werfen. »Ist er an diesen Verletzungen gestorben? Ein Schock vielleicht?«
Bremer schüttelte den Kopf. »Nein. Da war jemand viel filigraner, als man das angesichts der brutalen Schläge auf die Beine vermuten würde. Und dieser Jemand ist kein Obdachloser, der sich höchstens mit Schnaps und Zigaretten auskennt.«
»Der Abt tötet niemanden«, verteidigte Barrus den Penner, mit dem er in den letzten Jahren seiner polizeilichen Laufbahn des Öfteren zu tun gehabt hatte. »Nicht mal eine Fliege. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«
»Ich wollte die drei Herren auch gar nicht beschuldigen. Ich wollte vielmehr darauf hinweisen, dass der Mörder Kenntnisse von gewissen Dingen haben muss.«
»Nämlich?«
»Gift.«
»Also ist der Mörder eine Mörderin.«
Bremer drehte den Kopf hin und her, was für seine Zweifel stand. »Das würde ich so nicht stehen lassen wollen«, sagte er. »Der Mörder hat nämlich ein spezielles Gift verwendet. Ein sehr schnell wirkendes und eines, von dessen Existenz die meisten Menschen in unseren Breiten gar keine Ahnung haben.«
Barrus sah Bremer an. »Ich höre.«
»Das Gift der Medusa«, erklärte der Arzt und bückte sich zu seinem Köfferchen, das neben dem Obduktionstisch auf den Fliesen stand. Als er wieder hochkam, hatte er die silbrige Flasche in der Hand, die mittlerweile zum Markenzeichen des Gerichtsmediziners geworden war und an deren Anblick sich jedermann gewöhnt zu haben schien. »Auch ’nen Schluck?«, fragte er.
Barrus griff sofort zu. »Was ist drin?«
Wie ein unschuldiges Kind zog Bremer die Schultern hoch. »Na, was schon? Rum.«
»Wie viel Prozent?«
»Sechzig.«
Barrus trank, kniff kurz die Augen zusammen und reichte den Flachmann zurück. »Was ist eine Medusa, Doktor?«
»Es gibt zwei Varianten«, erklärte Bremer, als er getrunken und seine Flasche wieder verstaut hatte. »Eine große, hässliche und eine kleine, durchsichtige. Bei der ersten Spielart handelt es sich um eine Figur aus der griechischen Mythologie.« Bremer nahm ein Lexikon von dem Tisch, auf dem all seine Instrumente lagen, und schlug das Buch ziemlich genau in der Mitte auf. »Medusa ist, wie ihre Schwestern, Stheno und Euryale, eine der drei Gorgonen und eine Tochter der Meeresgötter Keto und Phorkys. Medusa war nicht nur die einzige sterbliche Gorgone, sondern ursprünglich auch die schönste, was ihr schließlich zum Verhängnis wurde. Die zornige Göttin Athene erwischte sie nämlich beim Liebesspiel mit Poseidon und verwandelte die betörende Schönheit zur Strafe in ein Ungeheuer mit Schlangenhaaren, Schuppenhaut und glühenden Augen, die jeden versteinerten, der sie erblickte.«
»Doktor!« Barrus verzog das Gesicht. »Das mag ja alles ganz interessant sein, ich dachte nur, wir haben keine Zeit.«
»Haben wir auch nicht«, bestätigte Bremer. »Aber ich hielt diese Vorbemerkung für wichtig. Warten Sie ab, denn Variante eins und Variante zwei haben eine nicht von der Hand zu weisende Parallele.«
»Da bin ich ja gespannt.«
»Bei der zweiten Variante handelt es sich um ein Unterwassertier, eigentlich ein Tierchen, genauer eine Würfelqualle. So genannt nach der Form ihres Schirms. Den nennt man übrigens Meduse oder Medusa, weshalb die Wissenschaftler diesen Namen als Bezeichnung für die gesamte Gattung gewählt haben. Der Schirm der Würfelqualle ist nicht sehr groß, lediglich ihre Tentakel sind recht lang.« Bremer streckte Barrus die rechte Hand entgegen. »Würde bequem hier reinpassen.«
Bremer legte das Lexikon wieder weg. Für das, was nun kommen würde, brauchte er als Gerichtsmediziner kein Nachschlagewerk. »Würfelquallen gehören zur Klasse der Nesseltiere. Sie werden häufig in flachen Gewässern tropischer und subtropischer Meere angetroffen. Ich habe vor ein paar Jahren mal während einer Rucksacktour an der australischen Küste versucht, ein Kind zu retten, das beim Baden in die Tentakel einer Würfelqualle geschwommen war. Vergebens. Der kleine Nicki war nur sechs Minuten nach der Berührung mit der Qualle tot und musste bis dahin Höllenqualen erleiden. Das Gift der Würfelqualle zählt nämlich zu den stärksten im Tierreich überhaupt. Das der Kobra geht dagegen eher als Softdrink durch. Die Giftmenge einer einzigen Qualle könnte über einhundert Menschen töten.«
»Und wie tötet das Gift genau?«, versuchte Barrus zu beschleunigen, zum einen wegen des nahenden Manfred Feller, zum anderen wegen seines Magens, der weiterhin keine Ruhe geben wollte.
»Sie meinen die Wirkung? Es kommt sofort zu einer heftigen Schmerzreaktion. Etwa so, als habe Ihre Frau versehentlich das heiße Bügeleisen auf Ihren nackten Oberschenkel gestellt. Nach der Bildung von Ödemen folgt umgehend die Nekrose des betroffenen Hautgewebes, und dann tritt schon der Tod ein. Das Gift wirkt insbesondere auf die Muskeln ein, also auch auf das Herz. Es muss dazu aber erst in die Blutgefäße gelangen. Und von dort aus durchlöchern die Proteine des Giftes die Zellmembran.«
»Wie kann ich mir das als Laie in der Praxis vorstellen?«
»Die Muskeln verkrampfen, das Opfer windet sich wie ein Epileptiker. Gleichzeitig leidet es unter der Vorstellung, bretthart zu werden. Schließlich kommt es zu Atemstillstand und Herzversagen.«
»Man wird also versteinert, wie beim Anblick der griechischen Medusa?«
»Richtig. Das ist die erwähnte Parallele.«
»Und wo hat die Qualle unseren Freund hier getroffen?«
Bremer drehte den Kopf des toten Markus Weiß zur Seite. »Am Hals. Man hat ihm mit einer Spritze eine enorme Giftmenge direkt in die Blutbahn gepumpt. Wahrscheinlich hat er nicht einmal so lange gebraucht wie der kleine Nicki.«
»Und wie komme ich in Deutschland an dieses Gift, Doktor?«
»Das dürfte nicht so einfach sein. Einige Kliniken forschen daran. Aber die geben es natürlich nicht in den freien Verkauf. Warum auch?«
»Gibt es eine solche Klinik hier in der Nähe?«
Bremer lächelte breit. »Da haben Sie verdammtes Glück«, antwortete er und tätschelte dem Toten die Schulter. »Die Klinik, in der unser Freund gearbeitet hat. Dort forscht man auch an der Würfelqualle.«
»Die Imhotep-Klinik?«
Bremer nickte. »Ja. Soviel ich weiß, wollen sie ein Gegengift entwickeln.«
Barrus strich sich übers Kinn. Damit hatte er heute also zwei Termine. Einen beim Abt im Paulikloster und einen bei Eva Mahler, der Oberärztin jener Klinik, an der man sich mit dem Gift der Würfelqualle beschäftigte. Das konnte kein Zufall sein.
»Und was mache ich mit den grünen Dingern hier?«, fragte er Bremer, während seine Augen auf die Plastiküberzieher an seinen Füßen gerichtet waren.
»Können Sie mitnehmen«, antwortete Bremer. »Ist ein Geschenk des Hauses.«
11

Nach den aufregenden Ereignissen der Nacht hatte Willi einfach nicht in den Schlaf gefunden. Er lehnte mit dem Rücken gegen die Wand, die Beine steckten bis zu den Knien im Schlafsack.
»Kannst du auch nicht pennen?« Hubert kam aus seiner Nische gekrochen, in eine dicke Wolldecke gehüllt, und ließ sich neben Willi nieder.
»Nö«, sagte Willi und lächelte. »Bin zwar hundemüde, aber der janze Kram heute Nacht, dett mit die Polente und den Toten, dett jeht mir noch janz schön durch ’n Kopp.«
»Willste?«, fragte Hubert und reichte Willi eine braune Papiertüte.
Willi griff zu und sah Hubert fragend an. »Wo is ’n der Abt?«
»Pennt wie ’n Murmeltier.«
»Der Abt hattet jut. Kann abschalten, kann der. Würde mir wünschen, dett it bei mir och jinge.« Dann öffnete er die Tüte. »Watt is ’n drin in deine Zauberbox?«
Hubert zuckte die Achseln. »Na wie immer. Een alter Appel, zwee Stück von een Brötchen und …«, Hubert blies einen Tusch durch die gelichteten Zahnreihen, »… zur Feier des Tages Schnittkäse.«
Willi teilte den Apfel und nahm sich eine Hälfte. »Wir müssen für den Abt och watt über lassen.«
»Hab ick schon abjeteilt. Den Abt seine Tüte liecht am Koppende von seine Matratze. Vielleicht wird er ja wach von den Essensjeruch.«
»Sach mal Hubert, wie hast ’n dett jemeint mit die Mönche?«, fragte Willi, als er den ersten Bissen vom Apfel heruntergeschluckt hatte.
»Mit die Mönche?«
»Na jestern Abend. Du hast jesagt, dass die vielleicht komm und uns dett Kloster wegnehm.«
Hubert winkte ab. »Dett hatt sich ja nu Jott sei Dank erledicht. Wie der Polizist jesagt hat, haben die beeden Mönche, die wir jesehn haben, doch den Doten hier abjelegt. Die sind nur Verbrecher, keine Jeistesmänner. Die nehm uns nischt weg.«
Damit wollte sich Willi nicht zufriedengeben. »Aber wie hast ‘n dett nu jemeint. Du hast jesagt, dass man dir och allet wegjenommen hat.«
Hubert bis von dem Käse ab, steckte ihn in die Tüte zurück und spülte den Bissen mit einem Schluck kaltes Sternburgbier hinunter. »Ja, so war dett. Mein Haus, in dett ick vor dreißig Jahre einjezogen war, dett hat vorher andere Leute jehört. Un die sind einundsechzig, kurz nach den Mauerbau, noch rüber nach ’n Westen. Ick habe dett Haus ordnungsjemäß jekooft und über meine janze Kohle rinjesteckt. Und uff een Mal standen die kurz nach de Wende wieder vor de Tür und wollten dett Häuschen zurück. Jekricht habe ick dafür nischt, musste aber sofort raus. Und ick Idiot habe och noch een Kredit bei ’ne Bank uffjenommen.«
»Und dett hat dich denn ruiniert.«
»Na klar. Und als ick raus war und keene Taler mehr hatte, da hat sich och meine Marie aus ’n Staub jemacht.«
»Und du meinst, dass dett och mit unser Kloster passieren kann?«, fragte Willi rein rhetorisch, denn die Antwort hatte er ja bereits von der Polizei bekommen.
Hubert starrte ins Nichts. Willi wartete geduldig. Dann atmete Hubert lange aus. Der Atem war eine Mischung aus altem Käse und kaltem Bier. »Ja«, sagte er schließlich. »Und man wird uns nich fragen.«
Genau das war Willis Befürchtung. Man würde sie nicht fragen. Man würde über ihre Köpfe hinweg entscheiden, wie es überall passierte, seit die neuen Heilsbringer über die Elbe gekommen waren. Und alles, was vor 1989 gebaut, getan und gedacht worden war, wurde für Blödsinn erklärt. Dieser Gedanke war nicht mehr aus Willis Kopf herauszubekommen. Er saß fest wie ein rostiger Nagel. Denn was hatte der Polizist gesagt? Dass sie, also Willi, Hubert und der Abt, vorerst hierbleiben können. Vorerst. Wenn aber die Baumaßnahmen begännen, müssten sie sich ein neues Domizil suchen.
Willi sah sich um. Musste er dann all das aufgeben, was er sich hier geschaffen hatte? Sein Bett, eine Konstruktion aus Gemüsekisten; sein Regal, in dem seine Bibel stand und die Marienfigur; seinen Kochtopf mit dem Campingkocher, den der alte Kommissar ihm geschenkt hatte. Der ihn mit einem komischen Namen anredete. Willi, du bist mein Lieblingskloscha. Konnte man ihn wirklich dazu zwingen? Im Grunde wusste Willi die Antworten selbst, stellte diese Fragen trotzdem immer wieder. Die ganze Nacht hindurch, den gesamten Morgen. Sie zermarterten langsam, aber sicher sein Gehirn. Da half es auch nicht, dass er seine Finger fest um die kleine Messingkobra geschlossen hielt, seinem neuen Talisman, von dem nur Willi und die Sterne wussten.
12

Um kurz vor sieben war Barrus wieder zu Hause. Sein Gesicht sah müde aus im Spiegel. Die Augen hatten dunkle Ränder, und sein Blutdruck war mit Sicherheit zu hoch. Das sollte er jetzt besser nicht überprüfen. War es das Grau des beginnenden Herbstes, das sich mit dem Dunkelgrau der alten Stadt mischte, oder war es der Fall, der Auftrag von Eva, der an seinem Gemüt nagte? Egal, irgendwer war schuld daran, dass es ihm so ging, wie er gerade aussah. Beschissen.
Trotzdem versuchte Barrus zu lächeln, schwach wenigstens, und an die heiße Dusche zu denken, unter der er mindestens eine Viertelstunde zu stehen vorhatte. Doch daraus wurde nichts. Es klingelte an der Tür. Wahrscheinlich hatte er nicht aufgepasst und war dieses Mal den Adleraugen von Frau Kamischke nicht entkommen.
»Guten Morgen, Jo.« Eva Mahler stand im trüben Licht des Treppenhauses. In ihren Augen lag der Ausdruck, dem Barrus erst vor ein paar Minuten im Spiegel begegnet war. »Auch wenn es noch sehr früh ist, kann ich reinkommen?«
Barrus trat zur Seite und ließ Eva eintreten. »Den Flur entlang und dann links«, sagte er und schloss die Augen. Der Duft, den Eva hinter sich herzog, war Barrus fremd, und er war betörend. Er sog literweise Luft durch die Nase, als müsse er jedes Molekül des Parfüms aus dem Äther zerren.
»Eva, ich …« Barrus setzte sich neben die Oberärztin der Imhotep-Klinik auf das Sofa.
»Du musst mir nichts erklären, Jo. Ich weiß es schon. Die Polizei war bereits bei mir.«
»Warum bei dir?«, fragte Barrus.
»Zum einen, weil Markus auf meiner Station gearbeitet hat, und zum anderen, weil ich ihn ja bei der Polizei als vermisst melden wollte.«




»Ich habe nicht geduscht«, sagte Barrus.



»Forscht ihr bei Imhotep an diesem Gift?«