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Konrad Schmid

Zu schön für die Fische

Kriminalroman

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© 2017 Konrad Schmid

Coverfoto: © Andrey Kiselev/Fotolia

Verlag und Druck: tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144 Hamburg

ISBN

Paperback:978-3-7439-2608-0
Hardcover:978-3-7439-2609-7
e-Book:978-3-7439-2610-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

INTRO

Wer die genannten Städte in einem Atlas sucht, scheitert.

Sämtliche Personen und die politischen Parteien sind fiktiv.

Das Land, in dem das erzählte Geschehen spielt, trägt keinen Namen.

Es braucht keinen.

Kriminelles Geschehen ist überall zu finden.

Gibt es ein größeres Geheimnis als die Wahrheit?

Franz Kafka in einem Gespräch

Die unbekannte Tote

In den leeren Reihen hockt die Totenstille.

Wie jeden Morgen pflegt er den Blumenschmuck der Kirche St. Georg. Er gießt die Hortensien auf den Stufen zum Hochaltar, als hinter ihm eine Tür knarrt. Ein dumpfes Geräusch folgt. Miruts Birru dreht sich um.

Niemand zu sehen. Die Kühle der Nacht füllt den Raum. Der Tag ist noch trüb. Die Stille ist zurück.

Im fahlen Licht bemerkt er die offene Tür des Beichtstuhls. Sein Ordnungssinn lässt ihn nach hinten gehen, um sie zu schließen. Im Näherkommen entdeckt er sie. In seiner amharischen Muttersprache stößt er einen Ausruf des Entsetzens aus.

„Um Gottes willen! Brauchen Sie Hilfe?“

Auf dem Marmorboden liegt der Oberkörper einer Frau mit dem Gesicht nach unten. Ihre Beine stecken im Inneren des Beichtstuhls. Sie rührt sich nicht.

Birru bückt sich und tastet nach der Halsschlagader.

Kein Puls zu spüren.

Kein Lebenszeichen.

Er richtet sich auf und schlägt das Kreuzzeichen. Vor ihm liegt eine junge Frau ohne Oberbekleidung. Ihre großporigen Dessous sind türkisfarben. Mit schwarzen Bordüren.

Er kniet vor ihr nieder und dreht ihren Kopf zur Seite.

Eine bildschöne, unbekannte Frau. In der Blüte ihrer Jahre.

Ihre Augen sind tot.

Birru kennt den Tod in den Augen von seiner Heimat. In Äthiopien sterben alle zu Hause.

Er lässt die Leiche liegen und stößt an der Eingangstür mit einem greisen Paar zusammen, das manchmal um diese Zeit sein Morgengebet in der Kirche verrichtet.

„Draußen bleiben! Kirche entweiht“, erklärt er aufgeregt den sprachlosen Alten. Er streckt seine Arme zur Seite und hindert sie am Betreten des Gotteshauses, das am Rande des berüchtigten Stadtviertels Egenz liegt. Sie wissen nicht, wie ihnen geschieht. Eingeschüchtert drehen sie um.

Der Kirchendiener eilt hastig ins nahegelegene Pfarrhaus. In stockenden Sätzen informiert er den Priester von St. Georg, der unverzüglich die Polizei anruft.

So beginnt der Tag, an dem die wichtigsten Vertreter der beiden stimmenstärksten Parteien zum entscheidenden Koalitionsgespräch nach den Parlamentswahlen zusammentreffen.

18. September

„Für die etablierten Parteien heißt es ab heute: Anschnallen! Die erstmals kandidierende Frauenpartei liegt in zwei aktuellen Umfragen mit 33 bzw. 35 % an erster Stelle.“

Mit freudig erregter Stimme, so empfindet es zumindest Ludwig Kranzinger, präsentiert die jugendliche Moderatorin der Breakfast News des Senders HD1 die Topmeldung des Morgens.

Kranzingers Puls klettert in die Höhe. Er würde vorübergehend die Sprache verlieren, hätte er jemanden zum Reden in seiner Nähe. Mit einem Ruck erhebt er sich von seinem Bürosessel und tritt ans Panoramafenster. Die Stimmen aus dem Flat Screen überhört er, so sehr setzt er seinen Kopf unter Druck.

Eine Idee muss her! Sofort und Erfolg versprechend. Eine Sache, die der gesamten Wählerschaft den Atem nimmt. Ein außergewöhnliches Ereignis wie ein Attentat auf den volksnahen Präsidenten. Kranzinger braucht einen Knaller, damit die Fortschrittspartei die Damenrunde, wie er sie manchmal verächtlich nennt, bis zum Wahltermin noch abfangen kann.

Vom elften Stockwerk des Alloro-Towers schaut er auf Steinfeld hinunter, ohne die Stadt wirklich wahrzunehmen. Er sieht nur die Projekte vor sich, in die er investiert hat. Im Vertrauen darauf, dass die Fortschrittspartei die Wahlen gewinnt. Also muss sie gewinnen.

Er wählt die Geheimnummer von Theo Valenti, dem langjährigen Premierminister und früheren Vorsitzenden der Fortschrittspartei. „Guten Morgen, lieber Theo! Ich hoffe, ich störe dich nicht bei einer wichtigen Beschäftigung.“

„Ich hätte nicht abgenommen, wenn heute ein normaler Tag wäre. Ich kann auch später mit dem Diktieren der Memoiren fortsetzen, Vic.“ „Wie geht`s deinen Augen, Theo?“

„Es bringt mich nicht um, wenn ich eines Tages nur noch Schemen sehe.“

„Du bist und bleibst ein vorbildlicher Kämpfer. Aber nun zu meinem Anliegen: Hast du heute Nachmittag für ein Saunagespräch bei mir Zeit? Du kannst dir denken, worum es geht, Theo.“

„Ja, natürlich. Du willst den Stimmentrend wieder in den Griff bekommen. Wird nicht leicht sein, die Frauen zu stoppen, sage ich dir. Den Gegner zu unterschätzen ist ein Fehler, der sich rächt.“

„Wir werden sehen, Theo. Mein Chauffeur Dragan, den du schon kennst, wird dich mit einem Auto holen. Etwa um 16 Uhr?“

„Ist gut, Vic. Wir sehen uns.“

Kranzinger setzt seine Lesebrille ab, die sein markantes Gesicht entschärft und ihm das Aussehen eines Belesenen verleiht. Die Hakennase eines Jean Reno und das vorspringende Kinn gelten als maßgeblicher Grund, weshalb er niemals kandidiert hat. Man kann mit meinem Gesicht keine Wahl gewinnen, hat er stets betont, wenn jemand aus der Fortschrittspartei an ihn herantrat.

Sein Atem geht wieder ruhig. Er hat ein paar Stunden, bis Theo bei ihm sein wird. Aber er weiß, dass in den Mittagssendungen die ersten innenpolitischen Kommentatoren ihren TV-Auftritt haben.

Seinen angehobenen Unterarm lehnt er gegen die riesige Fensterfront. Er blickt auf die Stadt hinunter, von der ihm nicht wenige Filetstücke gehören. Ein Kosmorama, von weit oben betrachtet. Durch seine Lage am See besitzt Steinfeld ein sympathisches Aussehen, ohne dafür viel geleistet zu haben. Das Zentrum, das am Ufer beginnt, bilden die historischen Bauten um den barocken Dom von Sankt Paulus. Wie die Jahresringe eines Baumes werden die Gebäude stetig jünger, je weiter man sich von der Altstadt und seiner Fußgängerzone entfernt. Wo zwei Hügel sich vom ebenen Steinfeld abheben, haben die Reichen und Mächtigen ihre Villen errichtet. Von oben schauen die einen mit zufriedenem Stolz, die anderen mit eitler Überheblichkeit auf die Stadt am Keilsee hinunter. Eine Stadt, in der es sich gut leben lässt, wenn man den einen Randbezirk ausklammert, den kein Vernünftiger betritt und sogar die Einsatzkräfte manchmal meiden. In diesem schwarzen Fleck der Hauptstadt herrscht das Recht des Stärkeren statt der Kraft des Gesetzes.

Durch seine Heirat mit Constanze hatte Kranzinger ein Startkapital zur Verfügung, das er für die Sanierung von Immobilien verwendete. Von einem zuverlässigen Sachverständigen ließ er interessante Objekte auf ihre spätere Verwertbarkeit hin prüfen und bei einer guten Prognose kaufte er manchmal um einen Pappenstiel. Oder er beteiligte sich an Versteigerungen, für die er sich antrainiert hatte, im Saal immer leger zu sitzen und keine Emotionen zu zeigen. Die Körperhaltung von Konkurrenten, wenn sie ihr Kinn hochzogen und die Lippen aufeinanderpressten, und das Zögern beim Höherbieten ließen erkennen, wann sie ihr finanzielles Limit erreicht hatten. Lehnten sie sich in ihrem Sessel zurück, waren sie aus dem Rennen. Seine eigene Obergrenze lag immer knapp oberhalb von runden Summen, denn solche Beträge bedeuteten für die meisten Bieter stets eine Hemmschwelle, die sie nicht überschreiten wollten. Bei diesen Auktionen ging es manchmal rasant zu, länger als eine halbe Stunde war für die Versteigerung nicht vorgesehen. Möglichst schnell nannte Kranzinger damals seine Gebote, seine Beträge waren nie regelmäßig, manchmal stieg er erst in der Endphase in eine Auktion ein. Das Fallen des Auktionshammers war dann der Startschuss für ein neues Projekt, wenn seine Firma den Zuschlag erhielt.

Und jetzt, denkt er, bin ich mit meinen 54 Jahren zu jung, um meine Expansionspläne zu zerreißen. Deshalb muss Harald Stolz die Wahl gewinnen.

Er schaut hinüber zum imposanten Regierungsgebäude und dem Opernhaus am See, auf dem bei günstigem Wind Dutzende Segelboote kreuzen. Vor vielen Jahren hat er Schloss Seestein einer finanzschwachen Stiftung um einen bescheidenen Betrag abgekauft und zum Sitz des Premierministers umgebaut. Geblieben sind die Fassade und die tragenden Mauern, die Räumlichkeiten wurden in Funktion und Aussehen in eine Machtzentrale des 21. Jahrhunderts verwandelt. Noch während der Modernisierung hat die Regierung Kranzingers Angebot angenommen, Seestein als Regierungssitz anzumieten. Im Foyer erinnert eine Marmortafel an die Adaptierung und macht deutlich, wem das Schloss gehört. Mehrmals täglich kann der Premierminister lesen, in wessen Schloss er den Regierungsgeschäften nachgeht. Die Wälder auf den Hausbergen von Steinfeld zeigen unter einem strahlenden Muttertagshimmel die ersten herbstlichen Farbtöne. Der Wirtschaftsboss öffnet die gepolsterte Tür zu seinem Vorzimmer und ruft hinaus: „Bitte, sagt alle Termine für heute ab oder vereinbart eine Verlegung auf einen Termin nach der Wahl!“

Wie in einer Wandelhalle geht er in seinem Büro auf und ab, entwirft eine Idee und verwirft sie gleich anschließend. Er weiß, dass sich unter Druck selten eine gute Lösung einstellt. Er weiß aber auch, dass er keine Zeit zu verlieren hat. Als eine Szene aus einem Kriminalfilm in seinem Kopf auftaucht, hält er inne und vermutet, er könnte vor der gewagten Lösung seines Problems stehen.

Die Jüngste im Vorzimmer, eine meist auffallend gekleidete, attraktive Schwarzhaarige, serviert ihrem Chef den gewünschten Obstsalat auf den Couchtisch und ist bereits im Gehen, als er ihr nachruft: „Carmen, bleiben Sie einen Moment! Sie können Platz nehmen, wenn Sie wollen.“

In ihrem Gedächtnis fahndet sie vergeblich nach einer Erklärung, weshalb sie Kranzinger gegenüber sitzen darf. Gespannt wartet sie, bis er ihr die harmlose Frage stellt, was sie vom Aufstieg der Frauenpartei halte. Er hat seine Informanten, die ihm die politische Stimmung von Stammtischen, aus Studentencafes und Golfclubs zutragen. Carmen, so scheint es ihm, wird ganz offen und ehrlich sprechen. So hat er sie immer eingeschätzt.

„Also, Herr Kranzinger, für mich ist die Sache schon klar: Frauen vertrauen nur Frauen restlos. Die Pontebba ist telegen und gescheit, was braucht es noch mehr für einen Erfolg?“

„Mhm. Sie sind ein kluges Kind, hätte man früher gesagt. Ich werde mir merken, was Sie gesagt haben. Danke! Ich brauche Sie nicht mehr. Sie können den Rest des Tages freinehmen.“

„Super! Danke, Herr Kranzinger! Mit meiner Hilfe können Sie immer rechnen.“

Er lächelt Carmen an. Es ist sein erstes Lächeln des Tages. Sie hat ihn auf eine Idee gebracht.

Um 12.30 Uhr schaltet er die Mittagsschau von HD1 ein. Die Moderatorin nennt zunächst die Lage im Nahen Osten und ein Grubenunglück in China als Schlagzeilen der Sendung. Anschließend moderiert sie als Schlagzeile der Schlagzeilen den Umsturz in den Umfragewerten zur nächsten Wahl an.

Der Berichterstatter des Live-Beitrags steht vor dem Portal der Hippo krates-Klinik, wo die Spitzenkandidatin der Frauenpartei das Gespräch mit Patienten, Besuchern und Klinikangestellten sucht.

„Frau Pontebba, ist Ihr Besuch hier ein Heimspiel, wenn man bedenkt, dass Sie Medizin studiert haben und Fachärztin für Radiologie sind?“ Sie zeigt ihr strahlendstes Lächeln und meint: „Wenn ich mit Menschen ins Gespräch komme, betrachte ich solche Begegnungen nicht als Spiel. Ich nehme ihre Sorgen und Wünsche ernst und stelle bei dieser Gelegenheit das Programm der Frauenpartei vor.“ „Vor wenigen Stunden sind neue Umfrageergebnisse bekannt geworden, denen zufolge Ihre Partei erstmals an der Spitze in der Wählergunst liegt. Sind Sie überrascht?“

„Alle in unserem Wahlkampfteam sind natürlich hocherfreut über die Performance unserer Zustimmungswerte. Wir haben nach einem verhaltenen Start von Woche zu Woche zugelegt, wissen aber auch, dass die Wahl erst in zehn Tagen stattfindet.“

Die Studio-Moderatorin erwähnt anschließend in einem einzigen Satz eine Pressemitteilung der Fortschrittspartei. Ihr Spitzenkandidat Harald Stolz kommentiert die neuen Zahlen als Zwischenergebnis, das in seiner Partei die letzten Kräfte im Endspurt freisetzen werde.

Als er das offizielle Statement seiner Partei hört, ist Kranzinger entsetzt. Zum zweiten Mal an diesem Tag.

Welche Kommunikationsnieten sind in dieser Partei am Werk? Für jeden Wähler muss diese Botschaft von den letzten Kräften nach Resignation klingen, denkt er sich. Haben diese Typen bisher etwa mit halber Kraft gearbeitet? Geglaubt, es geht mit Links? In welcher Verfassung muss Stolz sein, wenn er als Spitzenkandidat eine derartige Anfänger-Aussendung verantwortet? Kranzinger stellt sich den aufkommenden Shitstorm in den sozialen Medien vor. Er schüttelt den Kopf und resümiert voll Überzeugung: Der Stolz schafft die Trendwende nicht.

Der Mann muss ersetzt werden. Basta!

Die Politanalyse der Sendung befasst sich mit der erdbebenartigen Veränderung der Parteienlandschaft, wie es der erfahrene Kommentator bezeichnet. Vom klingenden Namen Saskia Pontebba bis zu den Themen sei offensichtlich alles angekommen, ja, die Frauenpartei sei sogar in männliche Wählerschichten eingedrungen, was ihr vor Beginn des Wahlkampfs niemand zugetraut habe. Der Reiz des Neuen reiche als Erklärung bei weitem nicht aus, das Zugpferd der Frauen komme authentisch und ehrlich rüber und die politischen Ziele seien nachvollziehbar. Man könne gespannt sein, ob die etablierten Parteien noch zulegen können.

Kranzinger hat genug. Er schaltet um. Eine Quizsendung des Vorabends wird wiederholt, die Frage nach dem ersten Präsidenten der USA kann jedoch Saskia Pontebba nicht aus seinem Kopf verdrängen. Warum hat die Fortschrittspartei dieses Polittalent nicht für sich entdeckt? Oder wäre sie dort niemals an die Spitze gekommen, weil es die Männer nicht zugelassen hätten? Solche Fragen quälen den Paten der Fortschrittspartei, wie er hinter vorgehaltener Hand manchmal genannt wird. Pontebba wirkt souverän, wenn sie im Fernsehen auftritt. Sie traut sich sogar in Quizsendungen, weil sie über das nötige Allgemeinwissen und eine noch größere Portion Selbstsicherheit verfügt. Eine Power-Frau wie aus einem Hochglanzmagazin, nur in der falschen Partei.

„Hallo, Constanze!“

Kranzinger erreicht seine Frau mitten in den Vorbereitungen für eine Charity-Veranstaltung.

„Frag mich bitte nicht, wie mein Vormittag war. Dein Vater hätte gesagt: Ein Tag für den Reißwolf. Sag bitte der Luise, sie soll um 16 Uhr die Sauna einschalten. Theo kommt zu mir. Und Luise bleibt, bis er abgefahren ist. Kann ja sein, dass er einen Imbiss möchte. Lass die Wohltäterinnen herzlich grüßen, meine Liebe!“

Auf einem meterhohen Sockel an der Fensterfront steht die Jugendstil-Büste einer jungen Frau. Ihr Kopf ist aus Alabaster geformt. Der Blick geht schüchtern nach unten, als ob sie sich ihrer Schönheit nicht bewusst wäre. Das nach hinten frisierte Haar versteckt nichts von ihrem ebenmäßigen Gesicht, die Schulterpartie ist nackt, ohne aufreizend zu wirken. Zu Kranzingers Leidenschaften gehört die stille Bewunderung schöner Dinge, die er sammelt, um einmal eine private Kunsthalle ausstatten zu können. All diese anbetungswürdigen Kunstwerke, wie auch Constanze unter ihresgleichen nicht verhehlt, werden für die Wohlhabenden geschaffen. Den meisten anderen fehlen Ehrfurcht und Verständnis für das Schöne, ganz abgesehen vom erforderlichen Geld.

Das Jugendstilmädchen ist seine derzeitige Favoritin. Täglich betrachtet er sie mit atemloser Bewunderung. Seine bildhübschen Sekretärinnen tun es als skurrile Alterserscheinung ab, wenn ihr Chef bewundernde Blicke einem Alabasterkopf schenkt, die sie selbst verdienen würden.

Im Vorzimmer bestellt er ein Paar Burenwürste mit scharfem Senf. Wenn es Ärger gibt, greift er gerne zu ungesunden Mahlzeiten. Magenprobleme hin oder her, das darf an solchen Tagen keine Rolle spielen. Mit Genuss kräftig reinbeißen, dass das Fett spritzt, verschafft ihm Erleichterung. Krawatten hängen in jedem Farbton im Kleiderschrank. „Und bringen Sie mir die Börsenberichte, Magdalena!“, ordnet er telefonisch an.

Eine Stunde später chauffiert ihn Dragan nach Hause. An guten Tagen ist die Fahrt von Steinfeld auf den Eichberg hinauf ein langsames Hinübergleiten in sein privates Refugium, von dem er Geschäfte und deren Vertreter möglichst fernhält. Eine Insel für den Seelenfrieden. So nennen Constanze und Ludwig die großzügige Villa, der ein Personalund Gästehaus hinzugefügt wurde, als aus dem anfänglichen Wohlstand der verdiente Reichtum wurde. Ein Anwesen, das sich dezent in die Umgebung fügt und nicht gebaut wurde, um aufzufallen. An schlechten Tagen wie heute erkennt Dragan auf Anhieb: Heute braucht er etwas Wuchtiges. Er setzt sich ohne Begrüßung in den Fond des Bentley Bentayga und sagt: „Den Rachmaninow, Dragan! Laut!“ Während der Fahrt kommen auf Kranzingers Straße des Erfolgs noch unbekannte Geisterfahrer ohne Gesicht entgegen. Ein neue Justizministerin, die Ermittlungen nicht einstellen lässt. Gleich dahinter eine Umweltministerin, die sein Kraftwerksprojekt stoppt. Und die unterschriftsreife Genehmigung für den Ausbau des Flughafens landet in der Schublade eines Vorzimmers. Der Alloro-Konzern kommt ins Wanken, wenn es ihm nicht gelingt, das Steuer noch im letzten Moment herumzureißen.

Kranzinger sucht nach Sicherheit. Wo ist sie zu finden, die für seine Geschäfte unverzichtbare Sicherheit?

Mit einer Tasse Kaffee sitzt er in der lichtdurchfluteten Veranda und liest in einem schmalen Traktat, der vor mehr als 500 Jahren von Niccoló Machiavelli verfasst wurde. Bei einigem Nachdenken fallen Kranzinger Politiker und Staatsmänner der Gegenwart ein, die markante Ähnlichkeiten mit dem Prototyp des Fürsten aufweisen. Doch die meisten von diesen mächtigen Herren, so seine Vermutung, können den Namen des alten Italieners nicht einmal richtig schreiben.

„Ach, du bist schon zu Hause, Ludwig“, sagt Constanze, als sie ihn in der Veranda antrifft.

„Noch nicht lange, Constanze. Dragan hat mich vorhin heimgebracht.“ Er schaut seine Frau in Gedanken versunken an, als ob er soeben bei einer wichtigen Überlegung gestört worden wäre. Sie setzt sich trotzdem zu ihm.

„Was liest du denn?“

„Il Principe lautet der Originaltitel. Höchst interessant, was Machiavelli damals gedacht hat.“

„Also, ich weiß nicht so recht. Mein Vater hat sich darüber nur kritisch geäußert. Eine Fibel für rücksichtslose Machthaber und Diktatoren, das war sein Urteil.“

„Wundert mich nicht, Constanze“, stimmt er ihr pflichtschuldig zu in der Hoffnung, das Thema damit sogleich wieder beenden zu können. „Meine Vorfahren haben ethische Maßstäbe an ihre Geschäfte angelegt. Der Import von Kaffee, Tee, Kakao, Gewürzen und Rohrzucker hat sie nach und nach reich gemacht, weil sie über Generationen hinweg fleißig waren. Ihre Geschäftsbasis war immer das gute Gewissen“, sagt sie voll Stolz auf die Leistungen des Handelshauses Menze. „Constanze, ich weiß nur zu gut, was die Dynastie dieser Händler und Kaufleute in vielen Jahrzehnten geschaffen hat. Man muss es als vorbildlich bezeichnen und die Leistung deiner Familie wird immer wieder entsprechend gewürdigt. Aber heute herrscht ein anderes Gesetz. Unsere Zeitgenossen sind hinter dem schnellen Erfolg her, sie können oder wollen nicht warten und deshalb heiligt der Zweck sehr oft die angewandten Mittel.“

Sie nickt zustimmend und versucht eine unerfreuliche Diskussion über die Macher der Gegenwart zu verhindern.

„Weißt du überhaupt, dass ich einer altmodischen Tugend meinen Vornamen verdanke?“

Ahnungslos wartet Ludwig auf ihre Erklärung.

„Constanze heißt die Beständige, die Charakterfeste. Eine, die sich vom richtigen Weg nicht abbringen lässt, auch wenn er große Ausdauer erfordert.“

Er vertieft sich kommentarlos wieder ins Buch und schickt sie mit seinem anhaltenden Schweigen weg. Im Aufstehen spricht sie noch beiseite: „Ich schau mal, was Luise macht. Ich hab sie seit heute Früh nicht mehr gesehen.“

Der Fürst hat sein Interesse geweckt, weil der Werdegang beider Männer ähnlich ist. Aus eigener Anstrengung haben sie sich hochgearbeitet. Der Fürst auf den Thron und Ludwig auf die Spitze eines von ihm geschaffenen Firmenimperiums. Dass sich einem Herrscher für die Machtergreifung auch eine günstige Gelegenheit bieten muss, legt Kranzinger auf seine Heirat mit Constanze um, der er den Einstieg in die Geschäftswelt der Hauptstadt Steinfeld verdankt. Zur Herrschaft tauge nur ein Mann, so schreibt Machiavelli, wenn es ihm nicht wichtig sei, ob er als gut oder böse gelte – wichtig sei allein der Erfolg. Seine charakterliche Anlage mache ihn zum Bösen fähig, wenn es im Interesse seiner Herrschaft notwendig sei. Mit kühler Distanz überlegt Ludwig, Menschen wie Constanze könnten diese Ansichten nur verteufeln. Für sie sei die bloße theoretische Fähigkeit, Böses zu tun, nichts als die latente Bereitschaft zu kriminellen Handlungen. Ein Vorgehen, das für die Familie Menze niemals in Frage käme, weil die Moral wichtiger als der Erfolg sei. Doch außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Maßnahmen, steht für ihn fest. Maßnahmen, die vom althergebrachten Verhalten abweichen dürfen, resultieren zwangsläufig aus einer Flexibilität, die sich von hochgelobten ethischen Grundsätzen gelegentlich verabschieden muss. Die edelsten Ansichten und die Spirale der Pragmatik nähren ein zeitloses Dilemma, das nur aus der Situation heraus gelöst werden kann.

Aber über dieses Thema verliert man zu Hause am besten keine Worte, sagt sich Kranzinger, als er nach Luise ruft, um einen irischen Whiskey zu bestellen.

Unkonzentriert blättert er später in einem Wirtschaftsmagazin, als Dragan vom Auto aus die Ankunft mit Valenti ankündigt. Er erwartet seinen Gast an der Auffahrt und sagt ihm auf dem Weg zur Sauna alle Stufen und Unebenheiten an, die Theo nur mehr verschwommen wahrnimmt.

„Weißt du noch, Theo, wann wir uns hier zum letzten Mal gesprochen haben? Beide nackt und ohne Blatt vor dem Mund“, beginnt Kranzinger die Unterredung in der Saunakabine.

„Als Stolz für den Parteivorsitz kandidiert hat. Jetzt scheint es, als ob er bei passender Gelegenheit abgelöst werden muss.“

„Ganz meine Meinung. Nach einem solchen Umfrageergebnis kann er höchstens auf seinen Namen stolz sein“, legt der Hausherr höhnisch nach.

„Und für den kann er nichts“, ergänzt Valenti schäkernd.

„Ich hätte auf Constanze hören sollen.“

„Warum, Ludwig?“

„In ihrer treffenden Art hat sie damals gesagt, er habe mehr Ähnlichkeiten mit einem alternden Liebhaber eines Amateurtheaters als mit einem vorausschauenden Politiker.“

Schmunzelnd meint Theo: „Eine gescheite Frau. Ihre Ratschläge sind Gold wert, Ludwig. Viel Gold.“

„Ich weiß.“

Der Gastgeber schaut in Gedanken verloren auf den Saunaofen, als ihn Valenti um Verständnis ersucht.

„Mach bitte keinen Aufguss, Ludwig! Der Dampf brennt in meinen Augen. Ich denke, du verstehst.“

„Natürlich. Wie steht`s um deine Sehkraft?“

„Allmählich schleicht die Finsternis heran. So allmählich, dass es mir kaum auffällt. Eine heimtückische Sache. Schon die alten Griechen hatten einen Namen für sie: Glaukom. Ihnen ist aufgefallen, dass sich die Iris dabei bläulich verfärbt. Eine Farbe wie das Meer. Später haben die Franzosen daraus den Grünen Star gemacht. Wie die Farbe des Atlantiks. Manchmal kommt es mir vor, ich hätte eine Zeitbombe im Kopf.“

„Hast du deine Augen regelmäßig untersuchen lassen?“

„Das war mein Versäumnis. Ich bin erst gegangen, als ich öfter gestolpert bin, weil ich ein kleines Hindernis nicht erkannt habe. Mir war meine Lage nicht bewusst. Schließlich merkt man nicht, dass die Sehkraft von Jahr zu Jahr minimal abnimmt. Das Gehirn stellt sich ja auf Veränderungen des Körpers ein. Man schiebt sie auch auf das Älterwerden. Jedenfalls war es zu spät, als der Grüne Star erkannt wurde. Jetzt kann ich Menschen oft nur mehr aus nächster Nähe erkennen. Was weiß ich, wie lange es noch einigermaßen gehen wird. Vielleicht noch ein Jahr. Oder zwei. Dann verschwindet die Welt hinter Milchglas. Dann werde ich in einer Wolke herumtapsen, die mir die Welt verschleiert.“

„Eine schlimme Sache. Wie bleibst du auf dem Laufenden, Theo?“ „Mein Urteil muss ich mir aus dem Gehörten bilden. Aus der Stimme und aus dem, was die Person spricht. Es hat keinen Sinn mehr zu schauen.“

„Aber deinem Körper sieht man an, dass du fit bist.“

„Übertreib nicht! Ich habe mir zu Hause ein Rudergerät aufstellen lassen. Auf dem trainiere ich manchmal. Eine erzwungene Rückkehr in meine Jugend. Schließlich war ich vor einer gefühlten Ewigkeit Staatsmeister im Doppelzweier. Jetzt habe ich mehr Zeit zum Training als damals. Irgendwie verrückt.“

Mit sentimentalem Tonfall sagt Kranzinger: „Ja, damals. Damals haben die Frauen noch gewählt, wie es ihre Männer vorgeschlagen haben.“ „Das Rad der Zeit kann niemand zurückdrehen, Ludwig. Mit dieser Emanzipation müssen wir uns abfinden.“

„Natürlich. Aber ich möchte unbedingt etwas unternehmen, damit unsere Partei die Wahlen gewinnt. Deswegen habe ich dich eingeladen – ich brauche deinen Rat, Theo.“

„Den kannst du immer haben, Ludwig. Also sag, was du vorhast! Hier kann uns niemand hören.“

„Ich denke, dass nur noch Pity Voting hilft, damit die Fortschrittspartei mit Hilfe von Mitleidsstimmen die Wahl doch noch gewinnen kann.

Und niemand wird später vorwerfen können, es sei ein Dirty Campaigning gewesen.“

„Wie soll das funktionieren, Vic?“

„Nur zwei Personen müssen mitspielen: Stolz und seine Frau.“ „Du machst es spannend. Wie schon einmal in deiner Sauna.“ „Entschuldige, Theo! Mein Plan schaut so aus: Er verschwindet spurlos für eine ganze Woche. Theo, du schaust mich gerade so ablehnend an. Ich verstehe deine Skepsis auch, aber ich bin überzeugt: Eine ungewöhnliche Situation wie der drohende Verlust der Mehrheit verlangt nach einer außergewöhnlichen Lösung. Wenn Stolz als entführt gilt, kann er bei seiner Freilassung am Tag vor der Wahl mit einem nicht zu unterschätzenden Mitleidsbonus rechnen. Viele Menschen bringen reflexartig Sympathie für das Opfer eines Verbrechens auf, ganz besonders für den Vater von zwei kleinen Kindern. Seine Frau vertritt ihn bis zum Abend vor der Wahl. Sie hat acht Tage Zeit, als Frau und Mutter verlorene Stimmen für ihren Mann zurückzuholen. Immer in Begleitung ihrer Kinder, wenn eine TV-Kamera am Schauplatz auftaucht. Pontebba hat keine Kinder, also schon ein Punkt für die Stolz, bevor das Frauenduell erst begonnen hat.“

Valentis Atem geht schneller, sein Gesicht hat sich gerötet.

„Ludwig, mir ist schon sehr heiß. Machst du, bitte, die Tür für eine Minute auf!“

„Sofort, Theo.“

„Ah! Schon besser. Also ich weiß noch nicht so recht, was ich von deiner Idee halten soll. Kommt mir ziemlich riskant vor. Wie schauen die beiden Frauen denn aus? Von Pontebba kann ich mir gar kein Bild machen, die Frau von Harald habe ich einmal vor mehreren Jahren gesehen.“

„Die Pontebba ist ein Bild von einer Frau. Sie punktet mit ihrem gewinnenden Dauerlächeln, an dem anscheinend jedes Problem abprallt. Ihr Charme übertrifft jede Stewardess aus der Business-Class. Wenn du die Schauspielerin Emma Thompson kennst, ihr sieht sie ähnlich. Und Florentina Stolz? Ich würde sagen, sehr gepflegt, mit einem freundlichen Gesicht, wie man sich bei uns eine typische Kolumbianerin vorstellt. Selbstverständlich eine fürsorgliche Mutter ihrer Kinder, eine natürliche Erscheinung wie eine hübsche Nachbarin. Oder wenn du eine andere Vorstellung bemühen willst: die Märchenausgabe einer Schwiegertochter.“

„Und du glaubst, sie hält dicht?“

„Dieses Risiko gehe ich erst gar nicht ein. Für ihre Familie wird es wie eine richtige Entführung ausschauen. Gefühle wirken nur dann echt. Und verplaudern kann sich auch niemand.“

„Ich verstehe. Du machst noch einmal den Puppenspieler, der die Fäden im Hintergrund zieht. Der Vic mit dem Siegeszeichen seiner

Hand.“

„Notgedrungen. Wer könnte sonst den Karren aus dem Graben ziehen, Theo?“

„Mhm. Du sagst es, wie es ist.“

Nach einer kurzen Pause fragt er: „Wer wird eingeweiht?“

„Nur du. Nur drei Menschen wissen Bescheid.“

„Du überlässt offensichtlich nichts dem Zufall.“

„Es steht zu viel auf dem Spiel.“

„Sicher. Ich verstehe dich schon, Ludwig. Ich habe dir aufmerksam zugehört. Eine Sache, in der ich geübt bin. Wegen meiner Augen. Vorhin hast du gesagt, du willst meinen Rat. Deinen Worten entnehme ich, dass du dich so gut wie entschlossen hast, das Ding durchzuziehen. Wie verhältst du dich, wenn ich dir abrate? Wenn ich es für besser halte, eine Niederlage in Kauf zu nehmen? Damit die Fortschrittspartei einmal durchgeschüttelt wird und sich auf interne Veränderungen einlassen muss. Auf eine offene Diskussion des Parteiprogramms, auf eine Erneuerung an Haupt und Gliedern, wie man so sagt. Was tust du also, wenn ich dir abrate?“

„Theo, ich habe mit deinen Bedenken gerechnet. Du bist ein ehrenwerter Politiker gewesen, einer mit sittlichen Grundsätzen, die nicht von heute auf morgen weggewischt werden können. Ich bin Geschäftsmann und für mich hat der wirtschaftliche Erfolg eine größere Bedeutung, schließlich hängen von ihm auch Arbeitsplätze und Steuereinnahmen des Staates ab. Der Alloro-Konzern ist mein Ruderboot. Ein Einer mit mir am Steuer. Gewohnt an ruhiges Wasser und nicht bereit, sich aus der Bahn drängen zu lassen, weil das Wahlkampfma nagement Fehler gemacht hat. Und morgen wahrscheinlich schon wieder machen wird.“

Die beiden haben ihre legere Körperhaltung verändert. Sie sitzen wie Kontrahenten einander gegenüber und spüren schlagartig, welcher Graben zwischen ihnen klafft.

„Ludwig, wir haben unterschiedliche Positionen. Nicht zum ersten Mal. Deshalb beschränke ich mich auf eine Empfehlung: Lass diese Nacht vergehen! Morgen ist dein Umfrage-Kater verflogen. Morgen tut sich vielleicht ein anderer Weg auf. Morgen besprichst du die Sache am besten mit Constanze.“

19. September

„Guten Morgen, Theo!“, begrüßt eine heiter gestimmte Constanze ihren Mann in der Küche. „Willst du ein weiches Ei?“

„Ist Luise denn nicht da?“

„Ich habe ihr für den Vormittag frei gegeben. Sie hat gestern lange gewartet, ob sie noch gebraucht wird. Du hast wahrscheinlich auf sie vergessen.“

„Stimmt.“

Er wirkt abwesend. Ihr neues Parfum fällt ihm nicht auf. Wenn unsere Perle nicht da ist, kann er ungestört ins Gästehaus hinüber, fällt ihm ein. Luise soll von der ganzen Sache so wenig wie möglich erfahren. Es genügt schon Constanze.

„Theo! Ich hab dich gefragt, ob du ein weiches Ei möchtest.“ „Entschuldige bitte! Hm, nein, mach mir bitte zwei Spiegeleier, richtig gut durchgebraten.“

„Ist gut. Übrigens herzliche Grüße von Paula und Astrid. Stell dir vor, was die beiden bei unserem Treffen erzählt haben! Die Latinis lassen sich scheiden. Ist vorläufig noch geheim, was Astrid erzählt hat, aber es wird schon stimmen. Schließlich ist ihr Mann ein gesuchter Scheidungsanwalt. Wir sollen aber diskret damit umgehen, Theo.“

„Ja, ja. Also, dem Latini wird höchstens ein Krokodil nachweinen. Ich hab schon einmal gesagt, seine Frau hätte wirklich einen besseren Ehemann verdient.“

„Dass du immer so streng sein musst, Theo.“

Er hört ihren Einwand schon nicht mehr, schaut auf seinen leeren Teller und verspürt spontanen Appetit. Schlagartig hat sich ein Problem für ihn gelöst. Das Gespräch mit Constanze, das Valenti ihm empfohlen hat, entfällt. Sie schafft es nicht, ein Geheimnis für sich zu behalten, urteilt er. Viel zu hohes Risiko, wenn sie weiß, was gespielt wird. Damit bleiben noch die Details für die Abwicklung.

Die Spiegeleier gelingen ihr perfekt.

Die Schönheit zählte Constanze noch nie zu ihren Verbündeten. Ihr schlanker Körperbau und ihre Größe hätten sie in ihrer Jugend fürs Basketballspiel prädestiniert. Ihre Aussagen wiesen schon damals auf einen starken Charakter hin und besonders die braunen Augen zogen ihn beim ersten Anblick in ihren Bann. Er schätzte vornehmlich die glänzende Ausstattung der jungen Frau: Das Vermögen und die Geschäftsbeziehungen ihrer Familie warfen das beste Licht auf Constanze, deren praktische Intelligenz ihm schon damals auffiel. Ihre puritanische Ader ließ ihn eine Ehe ohne lästige Affären seiner Frau erwarten. Ohne entbehrliche Seitensprünge, die einen mühevoll erreichten guten Ruf und ein großes Vermögen mitunter gefährdeten.

Seine ungewöhnliche Zielstrebigkeit beeindruckte Constanze auf Anhieb. Als er sie in ein teures Restaurant einlud, das er sich zum ersten Mal in seinem Leben leistete – sie kannten einander gerade einmal zwei Wochen -, brauchte er nur einen Moment, um einen bereits vergebenen Tisch für sie zu bekommen.

„Herr Ober“, erwiderte er in einer Schlagfertigkeit, die Constanze zunächst peinlich war, „Sie können uns zu Ihrem Bedauern keinen Tisch anbieten, weil das Lokal ausreserviert ist, wie Sie sagen. Sie müssen aber wissen, dass wir einen Ihrer Tische brauchen. Dringend sogar.“ Der Ober schaute den jungen Gast verständnislos an.

„Ich werde nämlich meiner charmanten Begleiterin heute Abend in Ihrem Lokal einen Heiratsantrag machen. Sollten die angemeldeten Gäste kommen, empfehle ich Ihnen, von einem bedauerlichen Irrtum beim Datum zu sprechen.“

Der Ober zeigte sich beeindruckt, zögerte jedoch eine Weile. Kranzinger nahm Constanzes Hand, bis die beiden an einen festlich gedeckten Tisch geführt wurden.

„Constanze“, flüsterte er beim Aperitif, „ich will dich keineswegs überrumpeln, aber du weißt jedenfalls, was dir passieren könnte. Für den Augenblick sollten wir aber den Antrag ruhen lassen.“

Ihre Anspannung löste sich, sie konnte wieder lächeln, nur ihr Herzschlag fand keine Ruhe bei diesem Abendessen, das mit Champagner auf Kosten des Hauses ein würdiges Finale hatte.

„Schmeckt wunderbar, Constanze! Frühstück ohne Luise ist ein schöner Anfang eines ungewissen Tages. Bringst du mir, bitte, noch Kaffee in die Veranda! Ich schaue mal in die Tagespost.“

Der Aufmacher der Zeitung prallt ihm entgegen: „Sind die Frauen noch zu schlagen?“ Und in der Seitenmitte das Lächeln der Pontebba. Ihr Bild nimmt mehr Platz auf der Titelseite ein als die Nachricht über die letzten Umfragen. Biedert sich die Tagespost schon bei den vermeintlichen Siegern an, ist Kranzingers erste Überlegung. Er legt das Blatt ungeöffnet wieder aus der Hand und geht ins Gästehaus hinüber.

Die Einliegerwohnung im 1. Obergeschoß hält er für ausreichend ausgestattet für den Spitzenkandidaten. Das Doppelbett, der große Tisch mit bequemen Sesseln und das geräumige Bad müssen genügen, denkt er sich. Würde dieser Politamateur von Gangstern entführt werden, müsste er froh sein, regelmäßiges Essen zu bekommen. Die Fenster sind schon immer verspiegelt und die Griffe werden von ihm entfernt, die Klimaanlage muss für die Frischluftzufuhr genügen. Die Rollläden lässt Kranzinger herunter, den Drehknopf für den Elektromotor montiert er ab. Den Telefonapparat nimmt er mit, genauso das kleine Radiogerät. Stolz darf nicht erfahren, was draußen passiert, auf keinen Fall. So viel Simulation muss sein, damit er ansatzweise zu spüren bekommt, was eine Entführung bedeutet.

Auf der Fahrt in die Stadt hinunter sitzt er neben Dragan. Wegen der besseren Sicht. Kranzinger zeigt sich heute umgänglich. Kein Rachmaninow. Wäre auch eine schwere Kost vor dem Mittagessen, freut sich der Chauffeur insgeheim. Kranzinger tut so, als würde ihn das Ergebnis des Fußballländerspiels interessieren. Dann fällt ihm der Aufreger der letzten Tage ein.

„Wurde der so genannte Krawattenmörder gefunden, Dragan?“

Als der Chauffeur verneint, setzt Kranzinger das Thema fort.

„Sie sollen mich jetzt nicht falsch verstehen, Dragan! Aber ich stelle mir eine Begegnung mit einem Killer reizvoll vor. Würde nur zu gerne wissen, ob man ihm ansieht, dass er jemanden ins Jenseits befördert hat. Riecht so einer nach Mord? Irgendein Merkmal muss einen Mörder von uns unterscheiden oder nicht? Und wenn`s nur die Hände sind.“

Er betrachtet seine Handteller. Ein Ahnungsloser könnte sie für die eines Bauarbeiters halten.

Mit jedem Kilometer wächst der Alloro-Tower, dessen glatte Fassade aus lorbeergrünem Glas ein architektonisches Rufzeichen geworden ist. Den Lorbeerkranz hat eine clevere Grafikerin zum Konzernlogo gestaltet, in dem das italienische Wort für Lorbeer und die Anspielung auf Kranzingers Namen kombiniert sind. Genial einfach, was der Frau eingefallen ist, denkt er, als er im Eingangsfoyer an den schwertförmig gestutzten Lorbeersträuchern vorbeigeht. Mit den immergrünen Blättern rieben die Legionäre Roms ihre Schwerter und Lanzen ab, um sie nach einem blutigen Kampf zu entsühnen.

Im 11. Stockwerk überreicht ihm Carmen eine Übersicht über die gewünschten Terminverschiebungen, von seinem Panorama-Büro aus ruft er den Wahlkampfleiter der Fortschrittspartei an und ersucht um ein persönliches Gespräch mit Harald Stolz. „So rasch wie möglich!“ fügt er noch hinzu.

Die Tageszeitungen auf seinem Schreibtisch widmen der kommenden Wahl die größte Aufmerksamkeit. Roland Brunner, der Lodenträger der Nation, hat auf einer volksfestähnlichen Wahlveranstaltung der Unabhängigen am Vorabend gegen die Frauenpartei gewettert. Das Land brauche keine feministische Alleinregierung, das Land brauche eine mächtige Familienpartei: Die Unabhängigen. Nur sie würden sinnvolle Traditionen bewahren und aus einem Globalisierungsopfer eine Insel mit hoher Lebensqualität machen. Ein Bild zeigt ihn Hände schüttelnd mit seinen Anhängern.

Im Info-Kasten daneben rangieren Die Unabhängigen mit 15% Zustimmung an der letzten Stelle, knapp hinter den Kosmonauten, wie der Volksmund die Naturschützer bezeichnet.

In der Tagespost findet Kranzinger ein anderes Ranking, das die Akzeptanz der Wahlkampfslogans aller vier Parteien reiht. >Wohlstand für alle< der Fortschrittspartei rangiert hier deutlich vor dem Motto >Frauen verdienen Vertrauen<. Die Kosmos-Partei liegt mit >Die Natur braucht uns< an letzter Stelle. Wenig überraschend, denkt sich Kranzinger, als sein Handy läutet. Harald Stolz ruft an.

Kranzinger erwähnt die zugespitzte Lage für die Fortschrittspartei und die „nicht zu unterschätzende Abhörgefahr“, wenn sie sich übers Telefon unterhalten müssten. Stolz zeigt sich einverstanden, am selben Abend von Kranzinger persönlich abgeholt zu werden. „Ich gehe auf Nummer Sicher, deswegen kein Chauffeur, Harald. Danke für den Rückruf und den schnellen Termin! Wir sehen uns.“

Er reibt sich die Hände. Er hat jetzt alle Hände voll zu tun. Magdalena, der das lorbeerfarbene Kajal besser steht als der jüngeren Carmen, wird beauftragt, alle Internet-Meldungen über Florentina Stolz zu einem Dossier zusammenzustellen. „Absolut vertraulich, wie Sie sich denken können!“, fügt er hinzu und ordert seinen täglichen Obstsalat, diesmal ohne Kiwis. „Die waren gestern so weich wie Schneematsch. Ich will zubeißen, wenn ich den Mund aufmache. Zumindest, so lange ich noch kann.“

Auf seinem PC sucht er eine Sicherheitsfirma, die ihm ein Anbot für den Bürotrakt liefern soll. Vom Projektleiter lässt er sich über den Stand des Kraftwerksprojekts informieren, in das bereits neun Millionen geflossen sind. Eine Kurzmeldung der offen liegenden Tagespost, die für ihre seriöse Berichterstattung bekannt ist, widmet sich dem Gesundheitszustand des bisherigen Premierministers, wegen dessen schwerer Erkrankung die politischen Parteien den einstimmigen Neuwahlbeschluss gefasst haben. Seine Rückkehr in die Politik scheine derzeit vollkommen ausgeschlossen.

Minuten später bringt Magdalena Carmens frischen Obstsalat ohne Kiwi-Beteiligung und die gewünschte Aufstellung über Frau Stolz. „Es ist über die Dame nicht viel zu finden, Herr Kranzinger.“ Ernüchtert überfliegt er das Dossier.

Florentina Stolz, geborene Carillo, 41 Jahre alt
aus Cartagena (Kolumbien)
Vater: Arzt (aus Spanien während der Franco-Diktatur nach Kolumbien ausgewandert)
Mutter stammt aus einer Familie von Großgrundbesitzern
Studium der Architektur in Barcelona
mit Harald Stolz in erster Ehe verheiratet
zwei Kinder: Anna (5), Cristiano (2)
Bemerkungen über ihre Heimat („Korruptionsbiotop“, „Land der Drogenbosse“) kontert sie scharfzüngig („Ich heiße Stolz und bin stolz auf meinen Migrationsvordergrund“, „Etikettierungen beweisen Denkfaulheit“)
meidet Events und Society-Veranstaltungen
spricht sehr gut Deutsch
im Wahlkampf noch kaum in Erscheinung getreten.

Stand der Recherche: 19. 9. Gez. Magdalena

Ein unbeschriebenes Blatt, resümiert Kranzinger. Offensichtlich keine Leiche im Keller, wie man bei Männern sagen würde. Auf die Mühen der Ebenen folgen jene der Berge, dämmert ihm, bevor er sich über die Vitaminschale hermacht.

Er ruft seinen Chauffeur an. Für die Fahrt mit Stolz braucht er einen unauffälligen Wagen, nicht den Bentley, der wegen seiner Lorbeer-Farbe in der ganzen Stadt bekannt ist.

„Dragan, ich brauche Sie heute nicht mehr. Machen Sie, bitte, den alten Land Rover fahrbereit. Ich verwende ihn am Abend für einen Ausflug ins Gelände.“

„Bei allem Respekt, keine gute Idee von Ihnen. Sie wollen mit diesem Wagen irgendwohin? Wissen Sie, was das bedeutet?“

„Dragan, ich weiß Ihre Sorge zu schätzen und habe nicht vergessen, dass Sie auch mein Leibwächter sind. Aber in diesem alten Kübel wird ein verarmter Jäger vermutet und kein Unternehmer von meinem Kaliber.“

„Aber dieses Auto ist ein Sicherheitsrisiko. Es lässt sich nicht einmal von innen verschließen. Eine Einladung für jeden Entführer!“ Kranzinger lacht hellauf, aber Dragan setzt nach.

„Für Sie würde ich glatt 40 Millionen verlangen. Dürfte schätzungsweise Ihr Marktwert sein.“

„Was? Nicht mehr? Aber jetzt im Ernst: Ich nehme meine Glock mit, damit Sie beruhigt sind. Ich schieße für mein Leben gern. Gut so?“ Dragan seufzt und gibt auf.

Pünktlich zu Börsenschluss schaltet er den Fernseher ein: Die Kurswerte haben sich leicht erholt.

Auf Twitter taucht die Meldung auf, die Frauenpartei habe ein informelles Treffen mit Vertretern der Kosmos-Partei noch vor dem Wahltermin vereinbart. Es dauert nicht lange und ein Journalist aus der zweiten Reihe vermutet die Sondierung einer möglichen Koalition. Kranzinger wartet auf die 17 Uhr-Nachrichten auf HD1, um Gewissheit zu bekommen. Aus den involvierten Parteien meldet sich niemand zu Wort, was jede Deutung zulässt. In seinem Element ist jedoch Roland Brunner, der sein Statement in einer Fußgängerzone abgibt.

„Nichts gegen die Liebe zur Natur, aber wo landen wir, wenn nur mehr dort gebaut werden darf, wo schon etwas gestanden ist? Die Kosmos-Partei zeigt in diesem Wahlkampf, dass sie das Rad der Zeit zurückdrehen will. Nur mehr Sanierungen und Umbauten, aber kein neuer Kindergarten und keine Umfahrungsstraße – das muss man sich einmal vorstellen! Die Unabhängigen sprechen sich entschieden gegen ein vorindustrielles Matriarchat aus, in das uns eine solche Koalition bugsieren würde.“

Von der Fortschrittspartei gibt es keine Stellungnahme.

Die Fahrt von Steinfeld zum Flughafen Dornen, wo er Stolz von einem Inlandsflug abzuholen gedenkt, verläuft reibungslos, obwohl der Land Rover mehr Aufmerksamkeit verlangt als der Bentley mit seiner Automatik-Schaltung. Auf einer schmalen und wenig frequentierten Abkürzung schließt sich ihm ein Wagen an, der so nahe auffährt, dass Kranzinger keine Scheinwerfer mehr sieht. Er fühlt sich in seinem robusten Auto sicher. Bis es kracht.

Der Hintermann hat den Land Rover gerammt. Stehen bleiben oder weiterfahren, überlegt Kranzinger. Er vermutet als Ursache eine Unaufmerksamkeit des Fahrers, Ablenkung durch ein Handy-Telefonat etwa. Also bleibt er stehen und stellt den Motor ab.

Er denkt an Dragan und entsichert seine Waffe. Auf seinem Smartphone stellt er die Notrufnummer der Polizei ein, um sie schnell alarmieren zu können. Vorsicht scheint ihm angebracht, äußerste Vorsicht. Er bleibt sitzen und wartet, was passiert. Er möchte nicht erkannt werden, aber auch keine Fahrerflucht begehen. Eröffnet sich ein Ausweg oder sitzt er in der Klemme, wird ihm bewusst. Ein banaler Unfall darf seinen Plan nicht gefährden.

Der Motor des anderen Autos läuft weiter. Niemand steigt aus. Im Rückspiegel kann er nicht erkennen, ob ein Mann oder eine Frau hinter dem Lenkrad sitzt. Ob mehrere Personen sich im Unfallwagen auf halten. Die getönte Scheibe lässt keinen Einblick zu.